Die Seele hat Geschichten. Zeitlose Geschichten, die keine Jahreszahlen kennen. Sie hat Bilder und Zusammenhänge und Dunkelstimmungsmäßiges, das muss man erst in Sprache fassen. Man muss erzählen können. Im Selbstgespräch, im Zwiegespräch mit seinem Schatten, mit dem, der immer bei einem ist. Und es kommen Geschichten zutage, verstrickt in ein Netz aus Motiven, Zitaten, Verweisen, Geschichten über Einwinkel und Kristina, über Schattenbrüder, den Mittsommer, die Prinzessin vom Fohlenhof, über Söphchen, den Fuchs in seinem Bau, oder, wie in diesem Band, über das Geheimnis des Ichs. Geschichten aus dem Innersten, die man vielleicht selbst nicht kennt und die zusammenhängen, ohne dass man es merkt. Man träumt nur. Man hält seine Zwiegespräche. Man erzählt. Irgendwann muss man aufhören zu erzählen, ja, aber das Erzählen endet niemals ...
Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 in Reutlingen.
Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Um zwölf am Kävsjö (2019).
In der Reihe Eine Geschichte der Seele ist bisher erschienen: Band 1: Kopenhagen im März (2019).
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© 2019 Rainer Gross
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross
Umschlagfoto: © fotolia/grandfailure
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9783749462902
There is but one history, and that is the soul’s.
WILLIAM BUTLER YEATS
Es sind Männer, die heimkehren aus dem Krieg. Sie tragen ihre Uniform wie eine Nichtwiedergutmachung: stolz und weil sie nun eben dazugehören. Weil nun eben alles so gekommen ist. Sie haben Erlebnisse. Hirsche töten sie mit dem ersten Schuss, ein zweiter wäre billig. Sie jagen Hirsche auf Felsgraten zwischen Bergkiefern und Wasserfällen, übernachten in Hütten, reinigen ihre Gewehre, trinken Bier aus Dosen und verstummen plötzlich, wenn ihnen jemand ein Stück auf dem Klavier spielt zum Abschied. Den Revolver an die Schläfe, abdrücken, eine einzige Kugel. Wer wird verlieren?
Der Schnee bricht harsch unter unseren Schritten, am Viehzaun entlang. Verschneite Hochfläche, kahle schwarze Waldränder im Weiß. Ein verlassenes Gehöft, Viehzäune. Gegen das Eíslicht des Himmels ein einzelner Baum. Stille, nur unsere Schritte harschend im Schnee. Eine kalte Friedlichkeit. Sie erzählt, ich höre zu. Bleibe ab und zu stehen und blicke über den Wintertrauf, zwischen treppenförmigen Ausliegerbergen das letzte Untergangslicht, karmesinroter Sonnenkreis, darüber im gläsernen Grün und Gelb flaumige Wolkenreste, bewegungslos. Sie liegt und schläft, alleine mit sich, in irgendwelchen dunklen Räumen, in die ich niemals gelangen werde, Tempel vielleicht. Ich blicke aus dem Fenster, mein Blick ist spiegelndes schwarzes Glas, hinunter auf die Straße, wo wir gehen zwischen Laternen Hand in Hand, wo sie geht in ihre Wärme und Schweigsamkeit hinein. Es gibt keine Freunde, die uns raten. Wir raten uns selbst, unsere eigenen Rätsel, stehen selbst ratlos voreinander, und niemand hat Schuld.
Kerzenlicht, späte Nacht. Aprikosensaft aus Weißweingläsern. Manchmal möchte ich mich endlich aufgeben können, ihre Hände an mir, ihre Hände, wie sie mich finden. All dies endlich aufgeben. Der Geruch ihrer Haut sein. Aber ich kann nicht. Rosmarin und Thymian, geh und richte ihr aus, ich habe sie wirklich geliebt.
Nichts lässt mich. Durch das Fenster bricht perlendes Licht. Millionen weißer Botschafter des Morgens, heißt es im Echo-Lied. Eisvogelhimmel, Kopfweiden am Weiher. De nobis ipsis silemus, sagt Kant: Was uns selbst angeht, so schweigen wir. Wortlos. Niemals ohne Worte sein. Ohne Worte, ohne Schweigen. Das Klatschen der einen Hand. Ich möchte niemals ohne Deine Worte sein. Männer, die heimkehren aus dem Krieg. Sie haben Erlebnisse. Sie finden nichts wieder. Sie wollen nicht getröstet werden und sie wollen auch nicht trösten. Noch leisten sie Eide auf Fahnen, aber in den Winkeln ihres Lächelns breitet sich das Alleinsein aus. Niemand versteht sie. Es gibt an ihnen nichts mehr zu verstehen. Wenn das freundschaftliche Schulterklopfen, die rücksichtsvoll gesenkten Stimmen, wenn das Suchen in ihren Augen und die Zärtlichkeiten, die man sich von ihnen erstiehlt, ängstlich, gequält, wenn all dies endlich vorbei ist, gibt es an ihnen nichts mehr zu verstehen. Sie gehören sich selbst, mehr als je zuvor, unwiderruflich. Wenn man ihnen freundschaftlich auf die Schulter schlägt, na, Junge, wirklich alles in Ordnung mit dir?, lächeln sie, und wenn man sich Zärtlichkeiten von ihnen erstiehlt, weil andere Männer nicht heimkehren, so lächeln sie auch. Sie tragen Auszeichnungen an ihrer Uniform und erinnern sich an lehmgelbe Urwaldflüsse, das panische Geräusch der Hubschrauber, an Revolvertrommeln mit einer einzigen Kugel darin. Wer wird verlieren? Und am nächsten Morgen wird weißes kaltes Licht in den Fenstern sein, Botschafter des Morgens, Botschafter eines ungewissen, immer fremderen Morgens.
Ich lehne am Geländer und schaue hinab: das im Wind wogende Gras, die letzten Felsbrocken unten am Wasser, eine Fischerhütte, zwei Boote vertäut an einer selbstgezimmerten Mole, mitten auf der fernen Landzunge der Kasten des Windmessers. Nichts ist sicher, nichts beständig oder harmlos. Das Meer wird überall sein. Und dann steht man am Fenster und sagt ungerührt: Lebt wohl!, dass sie einen endlich ziehen lassen. Damit sie einen endlich gehen lassen, selbst wenn man gar nicht will. Selbst wenn der Prinz von Tuamotu ein Fest feiert, auf Rangiroa, weil heute Freitag ist. Selbst wenn man in vertrauten Gesichtern nicht mehr lesen kann, selbst wenn es schwierig ist, ihnen etwas vorzumachen, weil sie noch in Gesichtern lesen können, die Fremdheit ihrer eigenen Fremdheit darin ...
Jetzt schneit es.
Ein lautloses Flirren im Laternenlicht, manchmal böig, dann wieder sacht, fein träufelnd. Guckkastenlandschaft, kleine, stille Bilder. Der ferne Hangwald, unsichtbarer Aufstieg. Schwer liegt Kälte. Oben das Schneeplateau: Geheimnis. Es ist noch einmal Winter geworden, ein vorläufiger, einer mit quellenden Rändern und Wattehimmel. Aber Polarbiss, aber Eisblumen: So habe ich ihn mir noch einmal gewünscht. Ein einstweiliger, obwohl es doch ein Winter zwischen ihr und mir werden sollte, ein unsriger. Es sollte noch einmal unser Winter werden, unsere Spaziergänge durch die Schneeheide, witternder Hügel und Bauminsel, umstandener Ort, hartes Gesträuch. An den Zweigen wächst Raufrost klirrend gegen den Wind. Frostfahnen: unterkühlter Nebel. Unser Hagdorn am Feldrain, unser Märchenschloss, von Eis überzuckert. Blutrot stehen erfrorene Früchte im Kristallschorf, aber davon kann ich nichts erzählen. Unsere Spaziergänge, Nebeneinanderschritt, kalte Hand. Märchenschloss. Die Mauern stehen sprachlos und kalt, wie bei Hölderlin, klirrende Windfahnen, hinter den Bäumen nichts. Es wird noch einmal Winter, ein einstweiliger, niemandem zur Verfügung.
Was mich anblickt, verrätselter Ausdruck, darüber könnte ich erzählen: das Gesicht der Puppe. Es ist ein Gesicht von weither, aus Werkstätten, die es nicht geben dürfte, ein Clownsgesicht unter kindlich hoher Stirn, mit blauen Pierrot-Augen und rotweißem Zirkuslachen, ein Harlekin mit blonden Fellhaaren beklebt, ohne Tiergeruch. Dennoch: Ihn in die Hand zu nehmen beschwört Manege und Pantherkäfig. Man möchte ihm eine Zuckerstange schenken, so weiche Stoffglieder, so taftige Seide. Es ist eine Geburtstagspuppe. Obwohl ich keine Puppen mag. Ich mag keines ihrer starren, ausdruckslosen Gesichter, Masken, Harlekinslarven, gemalter hölzerner Blick, der keiner ist und doch von einer Unheimlichkeit kündet, in der er es ist. Sphingisch geradezu, Chimäre. Überquerung des Acheron, wie er so blickt und kündet. Ein Silberstück, du, mach mir keinen Preis.
Die Puppe ist in schwarze Seide gehüllt, venezianischer Domino, ich könnte sie liebkosen fast mit diesen taftigen, glattkühlen, wispernden Berührungen in meiner Hand, so weiche Stoffglieder, es ist eine Geburtstagspuppe. Taft, Tüll und Kerzen. Matt schimmernder Brokat in rechteckigen Räumen, Weihrauchlicht, niedrige Gänge. Da kommt man ins Fabulieren: Atlas, Honan, Laméfäden und Perlmuttpailletten, Mousseline zart elfenbeinfarben und hauchdünn gewoben, der nahe Schein dahinter gitterig. Rüschenkragen, die samtbezogene Knopfleiste, duftig fällt es unten in schwingende Volants, sie hält es über beide Arme gelegt, zerbrechlicher keins und unausbleibliche Verwandlung. Da beginnen die Erzählungen: Atlas. Honan. Die Farbe der Erde ist Gelb. Das Geviert, der Grund. Angewärmte, kellerig duftende Erde. Beharrlicher Huf. Diese vielen Gesichter, könnte ich mich nur an ihre Gesichter erinnern. All diese Gesichter, diese Masken und Larven. All diese Erzählungen.
Lieber traue ich seinen Augen, blau in den weißen Farbbelag geschminkt mit schwarzen spitzen Dreiecken, als müssten es, unbekannter Weisung gemäß, traurige Augen sein. Lieber traue ich deren Trauer, deren verhangener, fernsichtiger Traurigkeit und dem weisungsgemäßen Geheimnis darin, als dass ich mich auf das rotweiße Lachen einließe, weiß über die runden Wangen gemalt, ein Zuckerstangenlachen, reinbunt. Es ist eine Geburtstagspuppe. Er spricht nicht mit mir. Eigentlich habe ich ihn lieb.
Das Schönste sind doch die taftigen, glattkühlen, wispernden Liebkosungen. Schwarze Seiden und venezianischer Domino, Karneval der Brücken und der Kais, Paläste auf Pfählen, Schattenkähne. Splitterndes Licht auf dem Wasser, eine dunkle Gestalt; il marchese steht unerkannt vorn im Bug, ungewusst und verpuppt, und um ihn her ein kreischendes Gewimmel von Masken, er fährt sich mit der Hand über die Stirn, spürt den kühlen Stoff seines Mantels, er ist müde. Hohle Hindurchtöner, weiß er, verzerrtes Hervorgetön aus unbegehbaren Welten, aus unwegbarer Menschenwildnis. Um ihn her lauter Unwegbarkeit und Unwägbarkeiten. Er wendet sich ab. Man wird ihn weder für zu leicht noch für zu schwer befinden. Er weiß es: Was nicht wiegt, kann auch nicht wagen, kennt weder Gefahr noch Rettung. Keine Queste, kein Gral, weder Finsternis noch Heil. Was nicht aufs Spiel der Waage gesetzt wird, bleibt ungeneigt und unerhoben. Welche Waage? Er wird sich in kein Wagnis senken und zu keinem Mut hinaufsteigen, das weiß er. Kein oberstes Lehen, Magerrasen über treppigem Kalkstein und Quendelduft. Kein Hochgestad. Unwägbar wird er verharren, verraten, ausharren hinter strohernem Schirm in Windstille. Sprachlos und kalt unterm Zertritt wie Opferhunde, dann klirrende Fahnen. Die Farbe des Himmels ist Schwarz.
All diese Gesichter, diese Erzählungen. Geschichten von weither, Sagen. Von Göttern ist die Rede und von Menschen, von Geistern, von Masken. Immer ist es ein Ich, das aus allem spricht; immer spricht es durch eine Maske, und immer ist das Ich selbst die Maske. Per–sonare. Hohles Hervorgetön aus unbegehbarer Wildnis, aus Urzeiten: all diese Mythologien des Ich.
Aus dem Schattenmund des Tals treten die Stuten und Drachen, sie weiden in den Bachklingen das fette Gras, beharrliche Äsung, mühelos, die Geister werden nicht sterben. Es fließt aber alles, fließend gleichwie geborgen, alles unausgesetzt im Fluss. Allein das Wagnis, heißt es, kann bergen. Zurückbergen vielleicht ins je eigene Spiel, wir sind es und wir sind es nicht, aber darüber kann ich noch nichts wissen. Davon muss ich noch erzählen: dunkle Höhlen anstelle von Augen, starrende Löcher im Berg, das brütende Mittagsgesicht im Hangenden. Alles ist unwägbar und strittige Gefahr, Streit und Stich der Gesichter, hohle Larven.
Wer weiß schon, was hinter solchen Larven reift? Was hinter den eigenen blassen Häuten in gallertigem Saft steht, was wuchert und geilt und sich mästet am süßlichen Moder. Hinter der Larve, die jeder ist, fortpflanzungsunfähig und Jugendstand: eine blondgelockte Knabenstirn vielleicht, ein liebliches Lächeln, frauenhäutig, zartgliedrig, eine medusische Fratze zerfressen vom Steinblick, ein Blick ins Gorgonengesicht und ins Innerste gärigen Lebens, Fruchtfäden, zitternd, mürbes Fleisch? Wer weiß schon, was in Larven reift?
Und weil es niemand weiß, wachsen dort weiter die Geister, die bleichen Götter heran, das Nächtige und Fahle, das in Gängen schleicht und mit stummen Winken hinablockt in ein grausiges Geheimnis. Da vergeht einem das Lachen. Da lacht und weint man hinter leeren Höhlungen, damit es niemand sieht. Damit man sich in Spiegeln nicht erkennt. Deshalb ist alles Maske: weil es niemand weiß. Es weiß niemand, weil jeder selbst die Maske ist. An Säulenfriesen und Kapitellen, über Portalen haben sie es angeprangert, ihr ausdrückliches Nichtwissen: Erkenne dich selbst. Wir tun es nicht. Unsere Götter sind nur Ahnungen, delphische, chthonische Drohungen aus dem Munde des Drachen. Ein apollinisches Antlitz vielleicht und die knabenhaft weichen weißen Glieder, ein goldhaariger Hyazinth, der immer wieder dem bärtigen Alten, dem Geburtshelfern von Ideen das Zugeständnis an die Fruchtbarkeit entlockt, blinder Marmor, Ausdruck ohne Zeichen und Weisung, Lachen, Weinen, all diese Erzählungen: Nichtwissen.
Il marchese nimmt sie ab, die Larve aus taftiger Seide, venezianischer Domino, und in der Dunkelheit dahinter zerfließt sein Gesicht zu etwas Unkenntlichem, zu einer wilden, unwägbaren Fratze. Da ist kein Wagnis dabei, da steht nichts auf dem Spiel. Niemand erkennt ihn wieder. Er weiß es: Entlarvung gibt weder Mut noch Weg, weder Queste noch Gral. Sie will entscheiden und muss deshalb eine entschiedene sein, spiellos und furchtbar, aber sie gerät zu bloßer Angst ohne irgendeine Möglichkeit, Zugeständnis an die Furchtbarkeit, so war das nicht gemeint. Sie ist verzagt und schutzlos und fordert noch entschiedener die Maske zurück: Das Spiel, weiß er, spielt jenseits von Wissen und Nichtwissen. Das Königtum – ein Kind ist es, alles im Spiel, beharrlich und mühelos.
Die flatternden Ränder beruhigen sich, hinter den Schlitzen erscheinen wieder Augen, durch die Mundöffnung vernimmt man wieder Töne, von weither, Geschichten, Sagen, verzerrte Tierstimmen aus einem Wald oder Peilsignale, tastend und schrill. Der Wind hat sich gelegt, der Strohschirm knistert leise. Eine weite Leere dahinter gitterig. So wird es immer sein. Es wird nichts wiederkommen. Alles kommt wieder.
Wie könnte ich da einem Trauernden trauen? Wie könnte ich mich in eine Traurigkeit trauen, fern und umrätselt, die von sich selbst nichts weiß? Wie sollte ich Wissender bei einem Wissen sein, das sich nicht erkennt? Wo wollte man derartige Zauberspiegel hernehmen, tausendmal weiser als Ihr, Königin, mit Ebenholzhaar und Schneeflockenhaut, und wer wollte dann in sie hineinsehen? All die Totengesänge, die gedunsenen Keime, die fetten Larven im schwarzen Humus. Zertreten, verstoßen und untergegangen. Wiederaufgetaucht. Der bleiche Gott kommt wieder, der frauenhäutige, zartgliedrige – vielleicht stiehlt man die Äpfel der Mainaden. Entweihte Gärten, weinberankte Wagen, Panthergeschirre. Silen und Kentaur. Lüsterner Chor, Stutenmilchräusche. Die Furcht, die tausend Namen, Asphodelengebinde aus den Händen Persephones. Schaumgeboren oder auf puderhäutigen Schmetterlingsflügeln, dunkelhäutige Elfen und Weiße Königinnen, all diese Masken und Namen.
Ja, sage ich träumend, ein Geruch, ich erinnere mich: Da war ein Geruch. Welcher nur und wo? Ihr Name ist alles. Nichts als ihr Name. Wer werde ich sein, wenn ich sie niemals finde?
Noch immer Verwunderung, ihr Lächeln jetzt, ihre Verwunderung, sie steht auf und geht leise auf nackten Füßen, sie nähert sich, ihre Zärtlichkeit, spiellos und unerträglich, aber – ich bin es nicht. Ich werde es niemals sein. Wie wollte sie mich erkennen? Ich hebe einfach den Kopf und nehme den Stift vom Papier, lasse sie allein, sehe zum Fenster hinaus in die Schneenacht; ein lautloses Flirren im Laternenlicht, manchmal böig, dann wieder sacht, fein träufelnd. Stilles Bild. Ferner Hangwald, unsichtbarer Aufstieg. Oben das Schneeplateau: Geheimnis. All diese Erzählungen, diese Geheimnisse. Dennoch: Ich nehme den Stift vom Papier, nicht zum letzten Mal, und werde zurückkehren.
Meine Hände riechen nach ihr.
Nach ihrem Schweiß und ihren Lippen. Ich möchte mich neben sie legen können. Wir behalten uns, jeder einen Rest, zurück, einen letzten, wichtigsten Rest von sich. Jene unbetretenen, umzirkten, innersten, Tempel vielleicht, in die niemand mehr gelassen wird, unattisch, säulenlos, hinter Dornhecken und ohne alle goldenen Drachen der Weisheit, Tempel, die ich nicht verstehe. Vielleicht verstehe ich nicht einmal meine eigenen, vielleicht reicht der Blick auf ihren hohen Bergen nirgends bis hinter den Horizont. Dann lässt sich immer nur eines sagen, der stets selbe Satz; und: Mehr geht leider nicht. Nichts geht mehr. Den Revolver an die Schläfe, abdrücken, eine einzige Kugel – oder das Spiel spielen mit drei Kugeln, drei Schüssen, und nach zwei leeren Kammern hat man so gut wie gewonnen. Wer wird dann verlieren?
Wo hat all das begonnen? In Wäldern nördlicher Breiten vielleicht, auf Tundrastraßen jenseits des Polarkreises, eine Linie aus weißen Steinen im Rentiermoos – wo nur hat es begonnen? Wer nur kann das begreifen? Keiner von uns begreift, keiner versteht. Ratlos stehen wir voreinander, und wenn wir uns küssen, weil niemand mehr heimkehren wird, so lächeln wir. Wir gehören uns selbst. Es gibt an uns nichts mehr zu verstehen. Alles verbirgt sich, liegt geborgen in uns, mit jedem Augenblick wird der Andere mehr ein Teil von mir, und auf einmal gibt es Liebe, gibt es nur noch den stets selben Satz, und auf einmal geht leider nichts mehr. Wo hat dieses Spiel begonnen?, fragen sie sich, erinnern sich an lehmgelbe Urwaldflüsse und das Knattern angreifender Helikopter aus dem Sonnenuntergang, über Baumwipfel jagend, den Schatten fliehend unter sich. Was ist das für ein Spiel? Eine einzige Kugel, ein einziger Schuss. Man übernachtet in Hütten, reinigt die Gewehre, man trinkt abends Bier aus Dosen und schreckt nach kurzem Schlaf hoch, schweißnass, wach, sofort im Denken. Und niemand spielt ein Stück auf dem Klavier zum Abschied.
So kann man nicht verstummen. So In sunshine and thunder,