Zum Buch
Hamburg-Eimsbüttel, 22:00 Uhr. In der Dunkelheit lauert ein Schatten, der die Fenster einer Wohnung und das dahinter verborgene alltägliche Leben ihrer Bewohner beobachtet. Ein Leben, von dem Amelia nur träumen kann. Eine Liebe, die sie nicht haben kann.
Amelia ist eine temperamentvolle Italienerin. Marlon ist ein Frauenheld mit einer problematischen Vergangenheit. Nach einer kurzen, aber innigen Romanze zwischen den beiden ist es jedoch bereits vorbei. Amelia wird zum Opfer von Ghosting. Aber Amelia hat nicht vor, ihren Traum einfach so aufzugeben. Sie verstrickt sich immer tiefer in eine gefährliche Obsession und schon bald vergisst sie, wer sie wirklich ist. Amelia will Marlon zeigen, dass er sie tief im Inneren immer noch liebt. Doch kann sie wirklich seine Liebe zurückgewinnen, ohne sich selbst zu verlieren?
Zur Autorin
Nuray Çeşme wurde 1976 in Balıkesir geboren und lebt inzwischen in Hamburg. Sie ist geprüfte Bilanzbuchhalterin und arbeitet als Abteilungsleiterin in einem Hamburger Konzern. Mit dem Schreiben hat sie nach dem Tod ihres Vaters begonnen, als sie seine Lebensgeschichte in einer sehr persönlichen Biografie zusammentrug. Das vorliegende Buch ist ihre zweite Veröffentlichung.
Mehr zur Autorin: www.nuray-cesme.de
Ebenfalls von Nuray Çeşme ist im Dualedition Medienverlag erschienen: Der Wille versetzt Berge − Aus dem Leben einer türkischen Gastarbeiterfamilie (ISBN: 978-3-942585-03-3).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2019 Nuray Çeşme
Grafik: Miloje/ aradaphotography/ GlebSStock/ Bruno Passigatti/
Milan M/ DmitryPrudnichenko/ Shutterstock.com
Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7494-7369-4
Ich sitze in meinem Auto und starre zu seinem Fenster hoch. Ich kann den Schatten einer Frau sehen, der aufsteht und in die Küche geht. Also hat mich mein Gefühl doch nicht getäuscht. Es hat sich gelohnt, genau gegenüber seiner Wohnung zu parken und zu warten. Es ist dunkel und kalt, obwohl es mitten im Juni ist. Es ist kurz nach 22 Uhr und ich frage mich, was ich hier verloren habe, statt jetzt in meiner Wohnung zu sein und es mir mit einem Tee gemütlich zu machen. Stattdessen treibe ich mich hier bei seiner Wohnung herum, mitten in Hamburg-Eimsbüttel, und beobachte jeden seiner Schritte. Einen Mann, dem ich es nicht einmal wert war, auf meine SMS zu antworten, nachdem wir miteinander im Bett waren.
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: »Verschwinde von hier – wenn er dich bemerkt und die Polizei ruft, dann riskierst du Kopf und Kragen!« Aber sofort ist ein anderer Gedanke da, der mir sagt: »Bleib hier, vielleicht kommst du ja sogar in das Haus hinein – dann könntest du an der Wohnungstür lauschen und herausfinden, was du von da unten nicht sehen kannst. Was machen die beiden? Worüber reden sie?«
Es ist, als ob ein Teufel auf der einen Schulter sitzt und ein Engel auf der anderen. Und der Teufel siegt jedes Mal.
Aber jedes Mal wieder kämpfe ich mit mir. Ich sage mir: »Stopp, Amelia, du hast bis jetzt schon so viel Glück gehabt. Fordere das Schicksal nicht noch weiter heraus. Fahr weg!« Aber ich kann nicht. Der Teufel lässt mich nicht, so als ob er mich fesseln würde. Ich bin wie gelähmt.
Wenn ich daran denke, was andere über mich sagen: »Amelia, du bist doch so stark, so hübsch, so erfolgreich. Eine Frau, wie sie sich jeder Mann wünschen würde! Eine wirklich tolle Partie.« – Dann könnte ich antworten: »Und warum habe ich dann immer noch keinen Mann an meiner Seite? Warum kann ich noch immer keinen flüchtigen Blick auf meine Hand werfen und diesen goldenen Schimmer auf meinem Ringfinger erhaschen, den ich so sehr ersehne? Was haben andere Frauen, was ich nicht habe? Ich bin 36 Jahre alt und hatte bis jetzt noch keine richtige Beziehung, die länger als ein paar Tage oder Wochen gedauert hätte.«
Wenn sie mich jetzt hier so sehen könnten, diese Amelia, die so stark ist, die so erfolgreich ist – und die sich vor dem Spiegel immer wieder fragt: »Was fehlt mir bloß? Wieso bekomme ich keinen Mann, der mich liebt?« Was würden sie dann über mich denken? Wie klein und schwach ich bin, damit rechnet doch keiner, da wären sie schockiert – und keiner würde vermuten, dass ich so tief gesunken bin, dass ich es nötig habe, mitten in der Nacht vor der Tür eines Typen herumzulungern und auf jeden seiner Schritte zu lauern. Oder ständig das Handy in der Hand zu haben und zu gucken, ob er online ist, und wenn er offline ist, mich zu fragen, bei welcher Frau er ist.
Ich brauche das – irgendwie beruhigt es mich, es gibt mir eine Spur von Kontrolle. Diese Gewissheit ist berauschend, geradezu ekstatisch. Deshalb bin ich auch hier. Ich kann ihn wenigstens sehen – ich kann ihn beobachten – ein wenig Macht, bevor ich wieder in die vollständige Ohnmacht stürze. Mein ganzer Körper kommt zur Ruhe, ich bin nicht mehr steif vor Angst und in Panik, ihn zu verlieren.
Jetzt bewegt sich wieder etwas. Die Frau geht jetzt ins Wohnzimmer, er steht auf, geht in Richtung Fernseher und dann wieder zurück auf die Couch.
Unwillkürlich muss ich schmunzeln, denn er hat offenbar nichts an. Ich sehe zwar nur seinen Oberkörper, aber mir fällt sofort sein Satz ein, den er zu mir gesagt hat – zu mir, nicht zu dieser anderen, die jetzt bei ihm ist: »Sobald ich zu Hause bin, ziehe ich mich bis auf meine Hose aus und laufe oben ohne herum. Ich finde das gemütlich.«
Als er mir das erzählt hatte, lagen wir am Strand, an der Elbe, und ich war ganz weggetreten und habe nur gelacht. Aber gleichzeitig habe ich ihn nicht so ernst genommen. Ich habe gedacht, wer läuft denn ohne Kleider zu Hause herum und sorgt nicht dafür, dass man ihn nicht sieht.
Heute habe ich Glück, er hat im Wohnzimmer das Licht angemacht. Es scheint durch die ganze Wohnung und erlaubt mir einen Blick in alle Zimmer. Normalerweise hat er kein Licht an und man kann von unten nur die Reflexion des Lichts seines Fernsehers erkennen, ein blau schimmernder Strahl, der immer in Bewegung ist.
Wahrscheinlich ist das Licht heute an, damit es gemütlicher sein soll, weil die Frau bei ihm ist. Ich möchte die Frau genauer sehen. Wie sieht sie aus? Ist sie hübsch? Hübscher als ich? Was ist an ihr so besonders, dass sie zu ihm in die Wohnung darf, während ich nicht ein Mal bei ihm war? Er war nur einige Stunden lang bei mir und dann ist er mitten in der Nacht weggefahren. Ohne Lebewohl zu sagen. Kein Abschied, nur Schweigen.
Und dann der positive Schwangerschaftstest – irgendetwas hatte versagt – war vielleicht das Kondom geplatzt?!
Panik. Versuche, ihn zu erreichen.
Mailbox. Mailbox. Mailbox.
Kein Wort von ihm …
Nichts …
Er blockte mich einfach.
Dieser Mistkerl!
Und der Vater meines Kindes. Ich hatte nicht den Mut, mir das auch nur klarzumachen. Es sollte nur weg, nur weg. Denn wie sollte ich das meiner Familie erklären?
»Kein Kind ohne Mann!«
Das hatte ich wieder und wieder gehört, von meiner Mutter, von meiner gesamten katholischen, italienischen Familie. Nicht nur, dass ich mit 36 Jahren immer noch keinen Ehemann vorweisen konnte – dann auch noch ein Kind? Also ein Schwangerschaftsabbruch. Blut. Schmerzen. Und dieser Typ da oben meldete sich immer noch nicht. Hatte mich abgehakt, so, als habe es mich, als habe es uns nie gegeben!
Ich würde wirklich gern alles von ihr wissen. Vielleicht sollte ich noch länger warten? Dann weiß ich, wann sie nach Hause geht. Ich könnte an ihr vorbeigehen und sie mir anschauen oder sie »versehentlich« anrempeln und »Entschuldigung« sagen. Dann antwortet sie vielleicht und ich höre ihre Stimme, sie kennt mich ja nicht. Oder vielleicht könnte ich ihr folgen und herausfinden, wo sie wohnt.
Oder wird sie bleiben? Ist sie so wertvoll für ihn, dass er die Nacht mit ihr verbringt? Dass sie bei ihm bleiben darf, dass sie morgens gemeinsam aufstehen, vorher noch im Bett kuscheln und danach zusammen frühstücken und den Tag gemeinsam beginnen?
Ich beschließe zu warten und sie weiter zu beobachten, vielleicht habe ich ja Glück und bekomme sie noch näher zu sehen. Also versuche ich, es mir im Auto gemütlich zu machen.
Die ganze Zeit auf dem Fahrersitz zu sitzen und den Kopf zu drehen und nach oben zu gucken, um die Wohnung im Auge zu behalten, ist unbequem. Ich ziehe mir also meine dunkelblaue Jacke mit dem Daunenfutter über, so ist es wärmer. Obwohl wir Mitte Juni haben, sind die Nächte kalt. Ich merke, wie ich im Inneren friere. Oder ist es meine Angst? Die Angst, ihn verloren zu haben? Die Angst, gesehen zu werden …?
Dann überlege ich, wie ich einen besseren Blick auf seine Wohnung haben könnte und entscheide mich, mich hinzulegen. Ich drapiere meinen Schal um die Handbremse, damit die Handbremse nicht gegen mein Kreuz drückt. Meine schwarze Handtasche mache ich zu einer Art Kopfkissen auf dem Beifahrersitz. Dann lege ich mich hin. Meinen Kopf auf meine Handtasche und meine Beine auf die Fahrerseite.
Warum bin ich eigentlich nicht vorher auf diese Idee gekommen? So brauche ich nicht auf der Straße herumzulaufen und falle den Leuten nicht auf.
Ich parke perfekt, vor mir sehe ich das Haus, in dem er wohnt. Ich brauche nur aus der Rückenlage nach oben zu schauen. Es ist fast wie im Kino. Sein Apartment ist in der zweiten Etage. In jeder Etage sind zwei Wohnungen, seine Wohnung liegt auf der linken Seite, seine Fenster vom Wohnzimmer und Schlafzimmer liegen alle zur Straße hin.
Mein Glück, freie Bahn für mich …
Rechts sind seine Schlafzimmerfenster. Ich kann sehen, dass sein Kleiderschrank genau gegenüber an der Wand steht und sein Bett offenbar unter dem Fenster. Gleich im Anschluss an das Schlafzimmerfenster ist das Wohnzimmerfenster und daneben befindet sich der Balkon.
Er hat keine Gardinen an seinen Fenstern. So wie viele hier in der Gegend. Die Häuser sind geradlinig, roter Klinker, kastenförmig, keine Spur von den schönen Altbauwohnungen, die man sonst oft in Hamburg findet. Aber ideal, wenn man, wie ich, alles sehen will. Sobald das Licht an ist, hat man einen schönen Blick in die ganze Wohnung. Ich sehe sie heute das erste Mal, denn an den anderen Abenden lief meist der Fernseher und daher war die Sicht nicht so klar.
Die Straße verläuft direkt an seiner Wohnung entlang, direkt neben dem Schulgarten. Dadurch liegen die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite weiter weg. Das wusste ich auch schon vorher.
Als er mir nämlich erzählte, dass er sich sofort auszieht, sobald er in seiner Wohnung ist, hatte ich ihn gefragt: »Hast du keine Angst, dass deine Nachbarn dich sehen könnten?« Ich höre noch seine Stimme, mit der er sorglos erwiderte: »Ach was, da kann doch niemand hineingucken!«
Er hatte recht – aber er hatte natürlich nicht bedacht, dass der Blick von der gegenüberliegenden Seite sehr gut ist. Der einzige Nachteil ist, dass seine Wohnung in der zweiten Etage liegt. Denn so hat man einen eingeschränkten Blick von hier unten. Aber für mich reicht er aus.
Während ich daliege und seine Fenster beobachte, kann ich sehen, wie die Frau ab und zu aufsteht und in die Küche geht. Denn jedes Mal, wenn sie im Wohnzimmer erscheint, hat sie ihre Hände voll; mal einen Becher, mal einen Teller. Er steht kaum auf. Wahrscheinlich liegt er nur auf der Couch und guckt die ganze Zeit fern. Ich frage mich, wie ungemütlich das doch sein muss. Die sind doch offenbar frisch »verliebt« – da guckt man doch nicht nur fern, wie einfallslos ist das denn? Der Engel auf meiner Schulter fragt mich: »Möchtest du wirklich so einen Kerl, mit dem du nur vor der Glotze hängen würdest?«
Sie steht wieder auf, kommt ans Fenster, um irgendetwas aufzuheben. Wahrscheinlich sammelt sie jetzt ihre Kleidungsstücke ein. Ich sehe die Frau jetzt genau vor mir, nur ein paar Meter weiter. Ob sie weiß, dass er genau heute vor zwei Wochen mit mir online geflirtet hatte – na ja, da wusste er ja nicht, dass ich das war. Wie schrieb er so schön, an mein anderes Ich: »Ich bin geschieden, glücklicher Single und keine Kinder.«
Als ich das nur denke, schießt ein heißer Strahl durch meinen Körper und mein Bauch tut weh. Keine Kinder! Keine Kinder! Nein, wie solltest du auch – wenn du sofort auf Tauchstation gehst, sobald du die Frau im Bett hattest!
Zwei Monate zuvor war er bei mir, bei Amelia, zu Hause. Weiß sie das? Oder denkt sie, jetzt hat sie den großen Fang gemacht – den supertreuen, ein bisschen langweiligen Mann, dem nach dem Sex nichts anderes einfällt, als fernzusehen.
Jetzt kommt er auch an das Fenster. Oh mein Gott, er guckt hinaus! Und ich bin genau gegenüber!
Was mache ich jetzt? Ich kann doch nicht losfahren, denn wenn ich losfahre, geht der Motor an und dann ziehe ich bestimmt die Aufmerksamkeit auf mich. Lieber Gott, hilf mir, hilf mir!
Er guckt aus dem Fenster, ich sehe ihn so, als ob er direkt vor mir stünde. Er bleibt stehen. Er schaut mich an, ich bin wie erstarrt und schaue zurück. Hat er mich gesehen?
In mir sind verschiedene Gefühle: Auf der einen Seite die Sehnsucht nach ihm, die Sehnsucht, anstelle der Frau, die jetzt bei ihm ist, zu sein. Ihm den Kopf zu streicheln, ihn zu umarmen und ihn zu fragen, was denn an mir so schlimm ist, dass ich nicht bei ihm sein darf?
Und andererseits die Wut, dass ich ihn so gerne mal fragen würde: »Warum hast du mir auf meine Anrufe, auf meine Mails, auf meine Nachrichten einfach keine Antwort gegeben? Hast du nur deine Lust an mir ausgelebt und dich dann abgewendet?« Fragen, die mich zerfressen, auf die ich von ihm so gern Antworten haben möchte.
»Wäre es nicht fair gewesen, wenigstens mit mir darüber zu sprechen? Und mir zu erlauben, einen sauberen Schnitt zu machen?«
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, kommen die ganzen Scheiß-Gefühle in mir hoch. Sie wühlen so in mir, als ob ich auf einer Achterbahn wäre. Ich merke, wie die Tränen an meinem Gesicht herunterlaufen und dann auf meine Jacke tropfen.
In dem Moment, wo mir bewusst wird, wie weh das alles tut, geht er vom Fenster weg. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte und mich wieder so stehen lässt. Ich atme tief aus – irgendwie bin ich trotzdem erleichtert.
Jetzt, wo die Luft oben rein ist, steige ich aus dem Auto. Ich brauche frische Luft. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich buchstäblich einen Adrenalinstoß hatte, und andererseits ersticke ich fast. In dem Moment sehe ich ein Paar, das gerade in das Haus will. Ich sprinte über die Straße und tue so, als ob ich in dem Haus zu Besuch wäre.
Die beiden sind sehr nett und halten mir die Tür auf.
»Wollen Sie mit reinkommen?«
»Ja, danke, ich klingle trotzdem mal kurz, damit man weiß, dass ich da bin. Gehen Sie ruhig schon mal los.«
So kann ich Zeit schinden.
Das Paar geht nach oben. Ich warte im Treppenhaus, um zu überlegen, was ich als Nächstes mache. Ich bin im Haus, oh mein Gott, ich bin drin!
Ich lausche dem Paar hinterher, in welche Etage sie wohl gehen. Ich folge ihnen mit meinen Blicken durch das Treppengeländer. Da, sie schließen die Tür auf. Es sind seine direkten Nachbarn auf der rechten Seite. Sie sind amüsiert, lachen und scherzen miteinander.
Dann Stille.
Ihre Tür ist wieder zu. Ich gehe hoch, jeden Schritt mit Bedacht und ganz langsam, damit ich keinen Laut von mir gebe. Das Treppenhaus ist hell erleuchtet. Ich gucke mich um. Wenn jetzt Marlon und die Frau herunterkommen würden – ich hätte keine Chance irgendwo auszuweichen, ich würde ihnen direkt in die Arme laufen. Will ich das – ist es das, was ich eigentlich will? Ich gehe hoch, langsam, Schritt für Schritt. Bei jedem Schritt, den ich hinter mich bringe, schlägt mein Herz schneller.
Jetzt stehe ich vor seiner Tür.
Eine große, rote »Hamburg«-Fußmatte liegt vor seiner Tür, auf der Klingel steht sein Name. Ich pirsche mich vorsichtig an die Tür heran, wohl mit Bedenken: Was ist, wenn er in dem Moment durch den Türspion gucken würde? Ich wäre genau vor seinem Auge. Würde er Angst bekommen? Wie würde er reagieren? Würde ich ihm auch so wehtun, wie er mir wehgetan hat?
Ich warte, dass das Licht im Treppenhaus ausgeht. Wieder fährt ein Adrenalinstoß durch meinen Körper. Einerseits habe ich solche Angst – und gleichzeitig eine fast rauschartige Aufregung – eine Neugier, die so groß ist, dass ich es nicht abwarten kann, was ich als Nächstes erleben werde.
Endlich geht das Licht aus, ich lege ganz langsam mein rechtes Ohr an seine Tür und lausche. Nichts. Ich warte und lausche. Nichts, nur seine Nachbarn, das Pärchen. Langsam setzt mein Verstand wieder ein. Ich denke: »Was machst du hier, wenn seine Nachbarn jetzt die Tür aufmachen und mich an der Tür erwischen? Was sagst du dann?« Dann ist mein nächster Gedanke: »Amelia, geh runter – vielleicht verpasst du ja gerade etwas, was du vom Fenster aus sehen könntest.«
Ich gehe die Treppe herunter, eine Etage tiefer. Ich schalte das Treppenhauslicht an. Ich gehe langsam weiter herunter.
Unten angekommen, nehme ich die Fußmatte und klemme sie zwischen Tür und Türrahmen, damit die Tür nicht einrasten kann. Gehe über die Straße zu meinem Auto, so als ob ich in dem Haus wohnen würde. Ich gucke wie zufällig zu seinen Fenstern hoch – alles wie vorhin.
Und schon renne ich wieder zum Haus, öffne die Tür und gehe langsam nach oben. Während ich hochgehe, versucht mein Engel, mich aufzuhalten: »Bist du irre? Was machst du? Geh wieder zurück, das hast du doch nicht nötig!« Der Teufel aber unterstützt mich: »Komm schon, geh hoch und lausche, vielleicht kommen sie raus und du siehst sie im Licht. Was soll schon passieren? Eine Ausrede hast du immer – und wenn er Angst bekommt, soll er doch! Er hat es nicht anders verdient!«
Aber diesmal gewinnt mein Engel. Ich kehre um. An der Tür klemme ich wieder die Fußmatte zwischen Tür und Türrahmen. Aber wieder meint es mein Engel gut mit mir und die Tür schiebt die Matte zur Seite, sodass die Tür einrastet. Ich kann nicht mehr hinein.
Ich gehe über die Straße zurück zu meinem Auto und beobachte die Fenster.
Inzwischen ist es kurz vor Mitternacht. Jetzt bewegt sich wieder etwas. Jemand steht auf. Das Licht im Wohnzimmer wird ausgeschaltet, die ganze Wohnung ist dunkel.
Wieder ein Adrenalinstoß. Kommen sie wohl herunter? Fährt er sie nach Hause? Dann könnte ich hinterherfahren, um zu sehen, wo sie wohnt, wer sie ist.
Aber die Zeit vergeht. Nichts geschieht. Es ist dunkel, die Finsternis beherrscht die Nacht. Oder habe ich sie verpasst?
Jetzt sehe ich sie im Schlafzimmer, also sind sie noch in der Wohnung. Sie waren wahrscheinlich im Badezimmer, das nicht zur Straße hin ausgerichtet ist, daher war die Wohnung wohl dunkel. Geizkragen! Nur, um im Badezimmer was weiß ich denn zu machen, muss er im Wohnzimmer das Licht löschen!
Jetzt kommt er ans Fenster im Schlafzimmer. Er hat irgendetwas in der Hand, schaut raus. Dann geht er ins Zimmer zurück und es wird dunkel.
Sie sind im Bett, die Frau bleibt bei ihm. Diese Frau hat die Ehre, in seiner Wohnung bei ihm bleiben zu dürfen. Sie scheint ihm wichtig zu sein. Sie ist in seiner Wohnung, seinem Bett und … in seinem Leben.
Schweren Herzens fahre ich los. Ich überlege: Morgen ist Sonntag. Ich stelle meinen Wecker auf acht Uhr und komme hierher, um die beiden zu sehen, wenn sie das Haus verlassen. Ja, das ist es. So mache ich es. Morgen ist auch noch ein Tag.
Als ich nach Hause komme, blinkt der Anrufbeantworter. Wer kann das sein? Ich schaue auf die Uhr – es ist kurz nach halb eins. Soll ich die Nachrichten noch abhören? Ich bin so erschöpft, eigentlich will ich nur ins Bett und meine Ruhe haben. Dann siegt die Neugier – und die Angst.
Vielleicht ist es Marlon, vielleicht hat er mich gesehen. Vielleicht hat er mir in die Augen geschaut, vielleicht haben sich unsere Blicke getroffen. Vielleicht ist es die Polizei?
Ich drücke auf den Knopf. Sofort höre ich die Stimme meiner Mutter, laut, vorwurfsvoll, in ihrem Dialekt unseres Dorfes in Kalabrien: »Annunziatina, wie kannst du mir das antun? Seit Wochen keine Nachricht! Weißt du nicht mehr, wo du hingehörst? Deine Cousine hat ein Kind bekommen – und du meldest dich nicht?! Bist du überhaupt noch meine Tochter?«
Annunziatina, sagt sie. Wie sehr ich diesen Namen hasse! Sicher, er steht in meinem Pass. Aber Annunziatina, ausgerechnet – das klingt nicht nur wie vor tausend Jahren, das ist auch der Name, der mich festhält in einer Welt, die ich schon so lange hinter mir gelassen habe. Mit dem ich nichts mehr zu tun haben will. Ich bin schon so lange Amelia – alle nennen mich hier so. Seit ich beschlossen habe, meinen alten Namen, meine alte Identität hinter mir zu lassen. Wirklich hier, wirklich in Deutschland anzukommen. Aber kann man das? Oder doch nicht? Immer wenn ich die Stimme meiner Mutter höre, zuckt irgendetwas in mir zusammen. Ich werde sie einfach nicht los.
Inzwischen läuft der AB weiter, nun kommt die Stimme meiner Cousine Sofia. Ich spüre meine Erleichterung und wie die Angst und die Spannung mich loslassen.
Auch Sofias Stimme ist leicht vorwurfsvoll, aber eher aus Sorge: »Wo bist du? Ich versuche dich schon seit Tagen zu erreichen! Melde dich doch bitte!« Seitdem ich zu allen Familienmitgliedern den Kontakt abgebrochen habe, ist Sofia die Einzige, die sich um mich sorgt. Die Einzige, die auch in Hamburg lebt. Die mir aus meiner Familie noch geblieben ist.
Während die Nachricht läuft, rutsche ich an der Wand im Flur auf den Boden. Ich ziehe meine Beine an die Brust, meine Arme schlingen sich wie von selbst um meine Beine und mein Kopf ist an meine Knie gelehnt. Die Nachricht geht weiter, Sofia redet und redet, erzählt aus ihrem Leben, aber sie verschwindet in den Hintergrund, ganz weit weg von mir. Es kommt nicht wirklich bei mir an, was sie auf den AB gesprochen hat. Ich bin ganz weit weg.
Ich sehe sie alle, vor meinen Augen, meine Familie. Meinen Vater, seine starren Blicke. Meine Mutter, ihre Beschimpfungen. Meinen Bruder, der hart die Tür hinter mir zuschlägt, in unserem Dorf am Meer. So schön, so voll Poesie und Romantik, jedenfalls äußerlich. Und so hässlich, mit so viel Gewalt und Hass, im Inneren.
Ich sehe Annunziatina, das Mädchen aus Süditalien, das mit den Eltern nach Deutschland kam und hiergeblieben ist, als sie zurückgingen. Das der Familientradition die Stirn geboten hat und nun zwischen dem »Mezzogiorno« und Deutschland, zwischen Dorf und Großstadt, zwischen alten Vorstellungen ihrer Familie und einem modernen westlichen Leben zermahlen wird. Amelia, die taffe westliche Frau, die in der Marketingabteilung in einem Hamburger Großunternehmen tätig ist, die sich nicht scheut, Managern bei Firmenbesprechungen die Stirn zu bieten, die ein Top-Gehalt verdient und ganz auf eigenen Füßen steht. Die perfekt Deutsch spricht und nur noch äußerlich der Südeuropäerin ähnelt, die sie ist; dunkelhaarig, mit schwarzen Augen, die ärgerlich aufblitzen können, temperamentvoll, verführerisch, unabhängig und frei. Die ein Leben führt, welches nicht von Männern bestimmt wird, wie das ihrer Mutter und Großmutter, sondern ein Leben, das sie sich selbst aussucht.
Aber stimmt das denn so? Was würden sie wohl alle sagen, zu Hause, wenn sie wüssten, wo ich gerade herkomme, was ich erlebt habe? Würden sie dafür Verständnis haben? Würden sie mich in den Arm nehmen? Oder würden sie mich ansehen, mit diesen Augen, die ich auch so gut kenne, Augen, die einen durchbohren und verurteilen können? Amelia, die den Männern hinterherläuft, Amelia, die Schande über die Familie bringt.
Könnten sie mich überhaupt verstehen, könnte mich wenigstens meine Mamma verstehen, die selbst nie erfahren durfte, was es heißt zu lieben, die nie selbst über ihr Leben bestimmen durfte? Wie sollte sie mich verstehen? Egal, was ich tat, ich war nie richtig für sie.
Ich sehe meine Mutter vor mir, ihren abwesenden Blick, als ich sie bestürme, mir aus ihrem Leben zu erzählen.
»Mamma, Mamma, erzähl mal, wie war deine Hochzeit?«
Ich stehe an ihre Knie gelehnt und schaue zu ihr auf. Direkt neben mir sind ihre Hände, verarbeitet, rau, gerötet und rissig. Sie hat nie Kosmetika benutzt, undenkbar wäre das für sie gewesen. Nicht einmal Handcreme. Ihr schwarzes Kopftuch ist stramm um den Kopf gezogen. Alle verheirateten Frauen in unserem Dorf tragen dieses Kopftuch. Es ist geradezu ihr Markenzeichen. Schwarz. Wie auch die Röcke – lang, flatternd. Und die alte Strickjacke, die sie nur ablegt, um den Nudelteig zu kneten oder die köstlichen Soßen zu kochen, die wir alle so lieben. Ist sie glücklich? Weiß sie überhaupt, was das heißt, glücklich sein? Ich bestürme sie mit Fragen. Klein bin ich – wie alt wohl? Sieben? Acht?
»Ich weiß nicht, Kind, was ich dir erzählen soll, sei doch nicht so stürmisch. Ein Temperament hat das Kind – wie dein Vater! Lass mich doch, Kind, zieh nicht so an mir herum – ich kann mich an meine Hochzeit kaum erinnern.«
»Wie kannst du dich an deine Hochzeit nicht erinnern, es ist doch ein ganz besonderes Ereignis. Du hast mir doch schon von den Mandeln erzählt, das hast du doch nicht vergessen, Mamma?«
Da, jetzt sind ihre Augen wie in eine unsichtbare Ferne gerichtet: »Fünf Mandeln in einem Organzabeutel, das Gastgeschenk, der Wunsch an das Brautpaar – für Gesundheit, Fruchtbarkeit, Glück, Wohlstand und ein langes Leben. Ach, mein Kind! Wenn das Leben doch auch so süß und einfach wie die weißen Mandeln im Organzabeutel wäre.« Sie macht eine Pause und holt tief Luft.
»Tina, mein Kind, das Leben ähnelt dem Fußweg zur Kirche, staubig, voller Steine, ein Weg voller Hürden, die man am Tag der Hochzeit gemeinsam mit dem Zukünftigen zu überwinden hofft. Aber im wahren Leben ist jeder allein und bleibt es auch. Manchmal frage ich mich, wie ich das mit deinem Papa überlebt habe. Die Reiskörner, die uns beim Austritt der Kirche Glück für unsere Ehe bringen sollten, zogen wie dunkle Wolken über uns. Jedes einzelne Reiskorn brachte Einsamkeit mit sich.«
Einsamkeit, dunkle Wolken, Steine auf dem Weg … Unfassbar ist das für mich. Ich liebe doch meinen Papa. Er ist mein Ein und Alles. Principessa, so nennt er mich. Er würde alles für mich tun. Und ich für ihn. Auch wenn ich Angst vor ihm habe. Ich frage weiter.
»Wie habt ihr euch kennengelernt, Mamma, warst du verliebt?«
»Verliebt, Kind? Nein, wie sollte ich denn? Zu meiner Zeit war das ganz anders, wir wussten nichts über ein gemeinsames Leben und Kennenlernen vor der Ehe. Wir wurden einfach verheiratet und haben erst in der Ehe unsere Ehemänner kennengelernt und auch gelernt zu lieben.«
Ich bestürme sie weiter, ich muss es doch wissen, wen soll ich fragen, wenn nicht sie: »Erzähl mir deine Geschichte, Mamma, erzähl mir etwas von mir, du bist doch auch meine Vergangenheit!«
Nun lächelt sie. Schnell. Kaum sichtbar – und schon ist das Lächeln wieder aus ihrem Gesicht verschwunden. »Wir glauben an Vorbestimmung, wir hatten eine Frau im Dorf, die uns zusammenbrachte, die die Familien verglich und die Persönlichkeiten, und so wurde es bestimmt, dass ich deinen Vater heirate. Egal ob ich ihn heiraten wollte oder nicht, egal was ich darüber dachte.
Irgendwann rief mein Vater mich zu sich, er sagte, ich solle neben ihm Platz nehmen. Ich setzte mich neben ihn auf den kleinen, freien Platz. Meine Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, ich war ja noch ein Mädchen, gerade mal 15 Jahre alt. Ich schaute zu deinem Großvater auf. Er war ein aufrechter Mann, hart, aber aufrecht. Sein Wort galt etwas in unserem Dorf, nicht nur bei uns. Es war Sommer, ich hatte gerade bei uns im Garten gearbeitet und meine Haut hatte die Wärme der Sonne gespeichert. Ich hatte meine Ohrringe an, die deine Großmutter mir geschenkt hatte.
Nie hatte mein Vater mich überhaupt zur Kenntnis genommen, nun betrachtete er mich, von Kopf bis Fuß. Er sagte mir, dass ich zu einer jungen, hübschen Frau herangewachsen wäre, und er erzählte mir, dass irgendwann für jedes Mädchen die Zeit gekommen wäre, das Nest, in dem man auf die Welt gekommen und groß geworden sei, zu verlassen. So sei es nun einmal. Man ginge, um sein eigenes Heim aufzubauen und seine eigene Familie zu gründen. Diese Zeit sei bei mir jetzt auch gekommen.
Ich wusste nicht, was er mir damit sagen wollte. Aber dann kam es: Er erzählte mir, dass die Eltern deines Vaters bei ihm um meine Hand angehalten hätten und er habe beschlossen, mich mit deinem Vater zu verheiraten. Er wäre ein guter Mann, er käme aus einer guten Familie, sei sogar verwandt mit uns, wenn auch nur entfernt, und ich hätte es nicht besser treffen können.«
»Und du hast bis zu dem Tag meinen Vater nicht gekannt?«, will ich wissen.
»Ich hatte ihn einige Male bei Familienfesten gesehen«, antwortet meine Mutter. »Er war ja viel älter als ich.« Sie atmet tief. »Ich wusste schon, wer er ist, aus welchem Teil der Familie er kommt, aber ich hatte ihn mir nie richtig angeguckt. Wenn wir auf dem Dorf Männern begegnet sind, haben wir unser Gesicht bedeckt und sind weggelaufen. Wir durften uns ja nicht mit Männern unterhalten.«
»Hast du deinem Vater nicht gesagt, dass du doch nicht einen Mann heiraten kannst, den du überhaupt nicht kennst?«, will ich wissen. Es kommt mir unfassbar vor, jemanden zu heiraten, den man nur mal aus der Ferne gesehen hat.
»Wir durften unserem Vater nicht widersprechen«, sagt sie und ihre Lippen wurden zu einer dünnen Linie. »Er hat mich auch nicht nach meiner Meinung gefragt. Es war eine beschlossene Sache und es war ganz selbstverständlich, dass ich mich der Entscheidung meines Vaters füge. Die Vorbestimmung hatte es gesagt. Dein Großvater war da sehr traditionell.«
»Hattest du nicht Angst, dass du einen Menschen heiraten müsstest, von dem du nicht mal wusstest, ob du ihn überhaupt riechen kannst?« Das erscheint mir am schlimmsten. Wenn jemand nicht gut riecht – wie kann man ihn dann überhaupt küssen?
»Wie ging es dann weiter?«, will ich wissen.
»Mein Vater hat mich mit deinem Vater verlobt. Ich habe bei der Verlobung deinen Vater zum ersten Mal richtig gesehen, da habe ich das erste Mal mit ihm einige Sätze gesprochen. Und trotzdem habe ich meinen Blick gesenkt gehalten, denn uns war es nicht erlaubt, uns mit einem Mann ausgiebig zu unterhalten, bevor man nicht mit ihm verheiratet war.«
»Wie war eure Verlobung?«
»Sie fand bei uns im Haus statt. Es waren nur die engsten Familienmitglieder da. Dein Opa hat uns beiden den Verlobungsring angesteckt. So waren wir verlobt.«
»Was passierte dann?«
»Dann musste dein Vater eine vernünftige Arbeit haben. Vorher durften wir nicht heiraten. Als Fischer – er hat Schwertfische gefangen, ein gefährlicher Beruf – verdiente er nicht gut und nach unseren Gebräuchen musste ein Mann, bevor er heiratet, ein gutes Einkommen nachweisen. So beschloss dein Vater, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen. Drei Jahre war er weg. Dann kam er wieder zurück. Und wir fingen mit den Hochzeitsvorbereitungen an. Mir wurde nur gesagt: ›Nächste Woche heiratest du.‹
»Hattet ihr denn Kontakt, während Papa drei Jahre weg war?«
»Nein, wie denn auch? Es gab kein Telefon. Und ich konnte nicht lesen und schreiben, also bekam ich auch keine Briefe.« Ganz sachlich sagt sie das. In meinem Kopf dreht sich alles. Es ist alles so nüchtern. So selbstverständlich. So wenig romantisch.
»Wie war denn deine Hochzeit, Mamma, war sie wenigstens schön?«
»Ich kann mich kaum an meine Hochzeit erinnern, Kind, ich war doch noch sehr jung. Sie war an einem Sonntag, wie jede Hochzeit. Am Tag vor meiner Hochzeit hatte ich wie jede Braut grün getragen, die Farbe der Fruchtbarkeit – dies sollte den Kindersegen in der Ehe garantieren. Am Tag der Hochzeit hat man mir ein Brautkleid angezogen, dein Vater holte mich ab und wir gingen zusammen zur Kirche. Auf dem Weg zur Kirche haben wir gemeinsam die Hindernisse gemeistert, die uns Freunde in den Weg gelegt hatten – eine Schwelle, Steine, holperige Löcher, Symbole für das, was dann im wahren Leben reichlich da war. Damals haben wir noch gelacht – zum ersten Mal, seitdem ich gehört hatte, dass ich diesen Mann heiraten sollte. Und kaum hatte ich mich versehen, war ich schon verheiratet.
Als ich mir dann deinen Vater genauer angeguckt hatte, war ich erleichtert. Er war ein attraktiver Mann und ich sagte mir, ich habe Glück gehabt, es hätte viel schlimmer kommen können. Irgendwann, mit der Zeit, habe ich gelernt, mein Leben mit ihm zu verbringen und ihn zu lieben … wenn das Liebe ist, was ich denke.«
Während die Worte meiner Mutter mir durch den Kopf gehen, merke ich, dass die Nachricht auf dem AB schon längst abgespielt ist – und dass ich am ganzen Körper zittere. Ich versuche zu verstehen, was mit mir los ist. In dem Moment, als ich meinen Kopf wieder hebe, sehe ich, dass meine weiße Hose mit meiner Schminke ganz verschmiert ist. Ich merke, dass ich weine. Ich trauere.
Um meine Mutter, die nie erfahren durfte, wie das Gefühl ist, verliebt zu sein, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Das eigene Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Um die Frauen in unserer Familie, die auch dieselbe oder eine ähnliche Geschichte in sich tragen.
Ich weine und trauere, um alle diese Frauen, deren Leben durch Männer entschieden werden. Zuerst vom Vater, dann von dem eigenen Mann. Um Frauen, die nicht wissen, was Lieben überhaupt bedeutet. Lieben und geliebt zu werden. Ich trauere um die Kinder, denen die Männer vorgeschrieben werden. Um Kinder, denen die Mutter genommen wird, noch ehe sie selbst erwachsen sind. Die mit einer unerfüllten Sehnsucht groß werden – oder die diese nie kennengelernt haben.
Wie muss so ein Leben ohne Liebe sein?
Trauere ich vielleicht auch um mich selbst? Um eine Frau, die eine ganz andere Geschichte hat als alle anderen Frauen der eigenen Familie. Denn ich bin ganz anders als meine Mutter, anders als meine Tanten, anders als alle meine Cousinen und meine Nichten – als alle die Frauen in unserer Familie. Ich gehöre mit meiner Weltanschauung und mit meinem Leben nicht zu ihnen. Aber dennoch haben sie mich geprägt, mit ihrem Gedankengut, das mich gefangen hält. Ich gehöre dazu – und trotzdem irgendwie nicht.
Was würden sie sagen, wenn ich ihnen erzählen würde, dass ich Männer nicht nur anschaue. Sondern auch schon Sex hatte, nicht nur mit einem, sondern mit mehreren? Ohne verheiratet zu sein? Oft genug habe ich es gehört, von den Männern unserer Familie: »Eine gute Frau ist eine Frau, die jungfräulich in die Ehe geht.« Meine Tante, die jedes Mal, wenn wir über Frauen sprechen, die Sex vor der Ehe haben, die Hand aufs Herz legt, als würde sie gleich einen Anfall bekommen, und die dann sagt: »Seid still, erwähnt nicht solche Frauen!« Meine Mutter, die schimpft: »Das sind läufige Hündinnen, die sich jedem dahergelaufenen Mann hingeben!« Wäre ich auch so eine Hündin? Oder eine »solche Frau«, über die man nicht einmal redet? Und sie alle, die mich immer wieder gelöchert haben, wenn ich nach Hause kam: »Wann wirst du denn endlich heiraten?« – »Gibt es keinen Mann, den du heiraten kannst?«
Heiraten, heiraten, heiraten! Sie können nicht verstehen, was ich fühle. Wie mein Leben ist. Sie können nicht verstehen, wie weh mir ihre Fragen tun. Wie das in meinen Ohren klingt. So als ob ich für sie ohne einen Mann nichts wert wäre. So als ob ich eine »alte Jungfer« wäre, nur weil kein Mann mich umwirbt.
Wenn sie nur wüssten, wie sehr ich mir einen Partner an meiner Seite wünsche. Einen Mann, an dem ich mich anlehnen und mich fallen lassen kann, der nur mich sieht. Nur mich – und nicht sich selbst!
Aber wie kann ich meiner Familie erläutern, dass ich in einer ganz anderen Welt lebe? In einer Welt, wo die Menschen – seien es Frauen und Männer – von Freiheit geprägt sind? Wo sich andererseits aber keiner mehr binden möchte und wo alle ihren Freiraum haben wollen? In einer Welt, wo ihre Sitten, Gebräuche und Traditionen schon lange der Vergangenheit angehören. In einer Welt, wo nicht die Männer die Frauen regieren. Oder tun sie das doch?!
Langsam komme ich zu mir und stehe auf. Ich gehe in mein Schlafzimmer, vermeide den Blick in den großen Spiegel, direkt gegenüber der Tür. Ich ziehe mich um. Morgen ist ein neuer Tag. Morgen werde ich vielleicht wissen, was diese Frau an sich hat. Was ich nicht habe. Warum sie ihn bekommt – und ich nicht.
Ich bin gerade mit meinem schwarzen SUV in die Schanzenstraße eingebogen, da klingelt mein Handy. Fast reiße ich das Steuer herum, so sehr erschrecke ich mich. Ich war aber auch noch in Gedanken bei Marlon und seiner neuen Frau. Natürlich war ich dort, vor Marlons Wohnung, heute Morgen, Punkt acht Uhr. Und natürlich war sein Auto nicht da. Mist!
Sicher turtelten die beiden irgendwo an der Elbe rum. Es ist Sonntag und ein so schöner Morgen für Verliebte. Das Wasser glitzert in der Sonne, der Strand lädt geradezu ein, irgendwo am Ufer zu sitzen und zu träumen.
Ich stehe vor dem Haus und stelle mir vor, wie die beiden Hand in Hand strahlend glücklich die Haustür aufmachen, Marlon in dem Moment, wo sie das Haus verlassen, seinen Arm um sie legt, ihr einen Kuss gibt und ihr etwas ins Ohr flüstert … Wie sie lacht, wie ihr Mund über seine Wange streicht …
Vielleicht sind sie einfach losgefahren, dahin wo der Wind sie hinträgt. Wo sie unbekümmert Halt machen können und wo die Sonne ihre Haut wärmt.
Wie gerne wäre ich an der Stelle dieser Frau! Lieber Gott, warum sind es immer die anderen und nicht ein Mal, ein einziges Mal ich? Ich habe das Gefühl zu ersticken, am liebsten würde ich wegrennen, weit weg, einfach nur weg.
Da holt mich zum Glück mein Handy aus meinen Gedanken. Es klingelt, wieder und wieder. Ich schaue auf die Nummer. Es ist Frank. Frank ist ein guter Freund von mir, den ich schon über fünf Jahre kenne. Wir gehen öfter mal sonntags brunchen, das hat sich über die Jahre so eingebürgert. Ab und zu kommen ein paar Freunde von ihm oder von mir dazu.
»Na, wie läuft dein Wochenende?«, fragt er.
Ich antworte knapp: »Beschissen!«
»Was ist los?«
Daraufhin erzähle ich ihm, dass es mir nicht gut geht. Ich lasse mich überreden, doch zum Brunch zu erscheinen. Obwohl ich ihn warne: »Ich bin bestimmt heute die Spaßbremse.«
»Wir heitern dich auf! Bis gleich!«, sagt er.
»Bin in fünf Minuten da«, antworte ich und wir beenden das Gespräch.
Frank kennt die Geschichte von Marlon. Kennt,