1. Auflage September 2010
2. Auflage Januar 2010
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Copyright © Hans Bonneval, Rieste 2010
Umschlaggestaltung: Ulrike Bonneval
Umschlagabbildung: Zeus mit Adler, Schalen-Medaillon, ca. 560 v. Chr., Loure
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-9214-5
Mein besonderer Dank gilt jenen anthroposophischen Menschen, die Ende der Achtziger, Anfang der Neuziger Jahre mit mir um die Wahrheit gerungen haben – teils in fruchtbarer Übereinstimmung, teils in heftigem Streit. Gerade aus Streit und Zerwürfnis erwuchs jene innere Aufrichtekraft, die mich 1994 sagen ließ: Es muß eine Schule für das Neue Denken geben, sonst kann die Anthroposophie nicht ins Leben umgesetzt werden.
Ich danke außerdem den mehr als sechshundert Teilnehmern des in diesem Buch dargestellten Grundkurses, die mit ihren Ideen, ihrer Kritik und ihrem Zuspruch das im folgenden Dargestellte möglich machten.
Auch danke ich allen, welche die Gründung und den Fortbestand der Denkschule durch ihre Aktivitäten unterstützt haben.
Vor allem aber danke ich meiner Frau, Ulrike, für die Idee, das alte griechische Schalen-Motiv von Zeus mit dem Adler für den Buchumschlag zu verwenden und für ihre umsichtige Lektoratsarbeit, die Inhalt und Form dieses Buches erheblich geprägt hat.
Der Weg zum Verständnis des Denkens ist zugleich ein Weg zur Verwandlung der Seele. Wer ihn betritt, kann schon bald Veränderungen spüren, die ihn im weiteren Verlauf befähigen, das Leben bereichert neu zu ergreifen. Und es ist keineswegs übertrieben zu behaupten: Versteht man erst einmal das Denken, so ist man ein anderer Mensch geworden. Dabei kommt es nicht nur auf das „Was” des Verstehens an, sondern vor allem auch auf das „Wie”. Die Methode des eigenen Denkens verändert sich, sobald man das Denken selbst in der richtigen Weise anschaut und zu verstehen beginnt. Das veränderte Denken aber läßt den Menschen erfolgreich immer tiefer in den Sinn allen Seins eindringen. Er beginnt, inmitten der technischen Kultur ein Leben zu führen, welches auf dem Verstehen der Welt, dem Verstehen des Menschen und der Kenntnis des Daseins-Sinns beruht. Dies zu erreichen ist ein hohes Ziel und es sollte das folgende jedem von uns klar sein: Solange es der heute verbreiteten Lebensauffassung nicht gelingt, uns den Sinn unserer Existenz zu vermitteln, solange müssen ihre sämtlichen Inhalte bezweifelt werden. Wer Teile der Welt erklären will, ohne das Ganze zu verstehen, der kann eigentlich nicht beanspruchen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Denn der Sinn einer jeden Einzelheit besteht in ihrer Beziehung zur Gesamtheit. Trotzdem ist genau das die übliche wissenschaftliche Praxis: Man erklärt Einzelheiten, spricht aber dem Dasein jeden tieferen Sinn ab. Solange wir uns mit dem unvollständigen materialistischen Weltbild zufrieden geben, solange werden wir mit dem Leben, mit der Welt und mit uns selbst nicht wirklich lebensgemäß umgehen können. Wir werden aus allerlei unvermeidlichen Irrtümern heraus massiven Schaden für uns und die Welt erzeugen, weil wir es nicht besser wissen, weil unsere veraltete Denkart uns nicht zum vollen Verständnis führen konnte.
Und genau das verwirklicht sich gegenwärtig. Machen wir uns nichts vor, so hoch auch einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse gelobt werden mögen, sie zerrütten in ihrer Unverbundenheit mit dem Gesamten den Menschen eher, als daß sie ihn veredeln. Heute ist die Umwelt – das heißt, die Minerale, die Pflanzen und die Tiere – auf das Massivste geschädigt und ebenso groß ist der Schaden an den Leibern und vor allem den Seelen der Menschen. Die Ursache dessen ist zunächst einmal unverstandenes Dasein, ist die Amoralität der Wissenschaft und des aus ihr hervorgehenden Weltbildes des einzelnen Menschen. Und besonders tragisch ist daran, daß es kein solches unverstandenes Dasein geben müßte, daß alles, was man zum Verstehen der Welt und seiner selbst bräuchte, bereits erarbeitet und veröffentlicht wurde. Allerdings erfordert dies Erarbeitete die ganze Aktivität dessen, der es sich aneignen will.
Rudolf Steiner begann schon zum Ende des 19. Jahrhunderts aus seinen übersinnlichen Erkenntnissen heraus, den Grundstein zu legen für die Erneuerung der Kultur Europas. Er war der große Eingeweihte des zwanzigsten Jahrhunderts und hatte wie jeder Eingeweihte vor ihm eine kulturstiftende Lebensaufgabe. Alle Kultur der Welt ist durch Eingeweihte empfangen und in die Menschheit gebracht worden, so z. B. auch die Zehn Gebote durch Moses. Der Grundstein, den Rudolf Steiner für die neue Kultur Mitteleuropas zu legen hatte, besteht zunächst darin, die Menschen darauf hinzuweisen, daß die Welt für den Menschen nicht einfach ein Tummelplatz ist, wo jeder sich nach Herzenslust ausleben soll, sondern daß die ganze Welt auf die Höherentwicklung des Menschen hin angelegt ist.
Diese Entwicklung erfordert in unserer Zeit, daß wir beginnen, uns selbst als denkende Menschen in den Blick zu nehmen. Wir denken als denkende Menschen nicht wie bisher nur über die Welt, sondern jetzt über den denkenden Menschen, über uns selbst im Moment des Denkens. Das heißt auch, wir stellen uns die Frage, wie wir wohl zum Wissen, zum Kennen, zum Erkennen von irgend etwas gelangen. Wir fragen uns, was Erkennen eigentlich ist und wie wir wahrnehmen. Dabei entdecken wir, wer und was wir sind. Gleichzeitig beginnen wir, auch die Welt zu begreifen. Und vor allem erkennen wir, daß das Denken nicht bloß Instrument zum Speichern und Sortieren von Informationen ist, sondern daß es auch Wissen, Kenntnis, ja, Erkenntnis neu hervorbringen kann. Das Denken kann schöpferisch sein, und gerade diese produktive Seite des Denkens, die bisher mehr den Künstlern und Erfindern vorbehalten war, ist nach Angaben Rudolf Steiners der einzige Weg, die Zukunftsaufgaben bewältigen zu können. Das bloße Verstandesdenken, mit dem man gewöhnlich Schule, Ausbildung oder Studium absolviert, mit dem man in den meisten Fällen seinen Beruf ausüben muß, dieses gewöhnliche, in sich passive Lern-Denken ist nach Steiner dekadent. Es hat seine Blütezeit bereits hinter sich und ist daher von Niedergangs-Kräften durchsetzt. Es fehlen ihm die produktive, schöpferische und belebende Seite und jegliche Moralität. Bereits die großen Künstler, Philosophen und auch die Erfinder der europäischen Klassik haben nicht mit der bloßen Gelehrsamkeit des Verstandes ihre allseits bewunderten Werke geschaffen. Allen Klassikern gemein war dieses andere, besondere, neue Denken, welches meines Wissens nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung war, welches aber auf wundersame Weise in der Lage ist, Dinge neu finden und erfinden zu können. Dieses edlere Denken, welches Rudolf Steiner auch als das Reine Denken bezeichnet, wurde von ihm erstmalig erforscht und beschrieben. Es ist höher als der reine Verstand und beherrscht außer Verstandesfähigkeiten wie Unterscheidung, Wiedererkennen und Kombination auch Ästhetik, Ethik und Spiritualität, die sich weit über die reine Logik erheben. Leider ist dieses schöpferische Denken der Klassiker nicht Allgemeingut geworden. Und wenn man sich heute fragt, wieso der offenkundige technische Fortschritt nicht von ebensolchen Fortschritten im Sozialen und Ethischen begleitet ist, dann wird man finden, daß dies darauf zurückzuführen ist, daß unsere Kultur allein ein auf Niedergangs-Kräften basierendes Verstandesdenken pflegt, welches nur das tote Materielle und Mechanisch-Maschinelle erfassen kann, dagegen aber beim Verstehen des Lebens und der selbstlosen Liebe versagen muß. Unsere Technik basiert auf Zerstörungskräften. Die Wissenschaft, aus welcher sie hervorgeht, kann Leben, Moralität, Spiritualität und Liebe nicht erklären, weil sie Produkt eines dekadenten Denkens ist. Im Grunde steckt heute die Welt tief in einer Krise des Bewußtseins – ausgelöst durch das Festhalten am bloßen Verstand. Kalte Logik, reine Nützlichkeit kennen weder Gnade, noch Schönheit oder Liebe. Zum Erfassen des Moralischen und Sozialen ist eben ein höheres Denken erforderlich als zur Handhabung der toten Maschinenwelt.
Dieses Buch wurde geschrieben, um auf diese neue schöpferische Denkart nicht nur hinzuweisen, sondern vor allem auch den Leser praktisch in sie einzuarbeiten. Denn darauf wies Rudolf Steiner schon vor über hundert Jahren hin: Die Höherentwicklung geschieht über die Verwandlung des Denkens und führt den Menschen zur Spiritualität, zum Erfassen der geistigen Welt. Die technische Kultur allein würde am Ende die Menschheit zerreißen. Sie müsse – so Steiner – als Gegengewicht eine lebendige spirituelle Welterkenntnis entwickeln, ohne welche die Todeskräfte des technischen Denkens übergreifen würden auf das Soziale, um dieses zu zerstören. Er hatte recht! Der erste und zweite Weltkrieg und alles, was ihnen nachgefolgt ist, haben gezeigt, wohin dieses Denken führt. Heute ist das Soziale stark zerrüttet. Die Menschheit erlebt sich im Würgegriff der Medien und des Großkapitals, beide sind auf dem Wege, alle Freiheitsentwicklung und Individualität zu unterbinden. Eine neue Welt-Diktatur der Finanz-Wirtschafts-Mächte droht die Menschheit erneut zu versklaven. Auch wenn es durchaus Menschen gibt, die dies schon vor langer Zeit bemerkt haben, so meint doch die Mehrheit der Betroffenen, daß dies wohl so sein müsse, daß man es in jedem Falle nicht ändern könne. Gewiß kann man es nicht ändern, solange man beim gewöhnlichen Denken bleibt. Würde man aber schöpferisch-moralisch zu denken beginnen, z. B. über die Gesetze betreffend Eigentum und Besitz, über die Funktion des Geldes oder die Wirkung der Medien, so würde man ganz neue Lösungen finden. Und ähnlich ist es mit allen Fragen und Problemen des Lebens, die sich der Gesamtheit oder auch dem Einzelnen stellen. Jeder kann einen Großteil seiner Probleme lösen, seiner Fragen beantworten, wenn er sich in dem im folgenden beschriebenen Denken übt und vor allem, wenn er dann auch noch dieses höhere Denken auf die spirituellen Mitteilungen Rudolf Steiners anzuwenden versucht. Denn die Anthroposophie ist für solche Menschen geschaffen, damit sie verstehen können, was ist, und den adäquaten Umgang mit allem Sein finden. Würde dies bei einer gewissen Anzahl von Menschen gelingen, so würde die Welt nicht länger so bleiben, wie sie ist, sondern würde sich tatsächlich in einen Ort des Sinns und des Verständnisses verwandeln.
Hans Bonneval
Rieste, Dezember 2009
Befragt man Menschen über das Denken, so weisen sie gewöhnlich hin auf das Gehirn, die Nervenzellen und Synapsen, auf Gene, Polung, Codierung und Speicherung von Information. Aber das ist nicht, was ein Mensch findet, wenn er bei sich selbst ganz unvoreingenommen das Denken sucht. Er kann noch so viel über Zellen, Atome und Elektronen nachdenken, er wird dadurch nicht den Schatten einer Ahnung vom Denken erringen können. Die „Hoffnung”, der Mensch sei nur ein langsamerer Computer und daher auf ähnliche Weise zu erklären, wird sich als Irrtum erweisen müssen. Wer ehrlich ist, fühlt das schon in der unvoreingenommenen Erwägung. Die Frage: „Bin ich bloß eine Software, ein Nervenprogramm? Ist mein Kopf ein Computer?”, wird von den allermeisten Menschen abschlägig beantwortet. Aber was findet man wirklich, wenn man das Denken ganz unvoreingenommen in sich sucht? Bemerkt man das Denken denn überhaupt im Gehirn? Die meisten haben schon den Eindruck, daß der Kopf beteiligt ist, aber man spürt das Denken auch in anderen Körperteilen. Auch hat man nicht unbedingt das Gefühl, daß es sich stets im Inneren des Leibes abspielt, sondern oftmals scheint es von außen an den Menschen heranzutreten. Gewisse Gedanken spürt man an Beinen und Händen, andere wieder an der Brust. Der Kopf dagegen schwirrt oder schmerzt unter zu vielen, zu schwierigen oder zu wirren Gedanken. Beobachtet man sich beim Denken, so findet man, daß man eigentlich stets und überall denkt. Nicht nur das explizite Nachdenken ist Denken, sondern alles Wahrnehmen wird von Denken durchsetzt. Fragt man dann, was durch Denken bewirkt wird, so sind die Vorstellungen der meisten Menschen recht simpel. Viele glauben, daß man die gesehenen Bilder, die gehörten Klänge, daß man alles Wahrgenommene speichern würde und sich dazu die bloßen Worte merken würde, so daß man es beim Wiederauftreten wiedererkennen kann. Man stellt sich vor, der Mensch würde von seinem Leben sozusagen ein Fotoalbum anlegen oder ein Video aufnehmen und stets auf das Aufgenommene zurückgreifen können. Solcherart Vorstellungen erfassen das Wesen des Denkens in keiner Weise. Das Denken ist nicht nur das sprachliche Benennen des Wahrgenommenen. Man mache sich nur klar, daß ohne Denken der Mensch nichts, rein gar nichts weiß. Ohne Wissen, ohne Kenntnis, ohne Erkenntnis aber ist der Mensch handlungsunfähig, ja, lebensunfähig. Alles, was wir je wissen, kennen, erkennen, erscheint durch das Denken erst in unserem Bewußtsein. Daß Denken mehr sein muß als bloß ein Nachschlagen im Fotoalbum unseres Lebens, wird klar, sobald wir philosophieren, mathematisieren oder z. B. Gedichte schreiben. Denken ist die Grundlage für unsere Teilnahme an der Welt. Nur leider kennen wir Menschen in der Regel diese unsere wichtigste Fähigkeit nur sehr schlecht. Eigentlich, so würde man meinen, müßte doch gerade diese wichtige Fähigkeit, die uns mit der Welt verbindet, am allermeisten erforscht, erübt und kultiviert werden. Doch leider geschieht dies nicht. Denken ist kein Schulfach und keine wissenschaftliche Disziplin. Man lehrt und übt in der Regel das eigentliche Denken nicht, sondern übt nur, Wissen zu speichern und zu kombinieren. Man kennt den bedeutsamen Unterschied zwischen Registrieren und Produzieren im Denken nicht. Die Hand kann sich nicht ergreifen, das Auge kann sich nicht beim Sehen zusehen, doch das Denken kann sich selbst denken. Und hier liegt der Schlüssel.
Schaut man sich das heute übliche Denken genauer an, so fällt auf, daß es an einer gewissen Unschärfe in den einzelnen Begriffen leidet. Und tatsächlich reden heute die Menschen ungeheuer viel aneinander vorbei und wundern sich über die Mißverständnisse. Zwar fühlen sich die meisten heute sehr gut informiert, aber fragt man die Menschen nach diesem und jenem, so geben sehr viele zu erkennen, sie wüßten es eigentlich nicht so genau, ja, sie meinen, sie würden eigentlich überhaupt nicht viel wissen und verstehen von der Welt. Zwar gibt es das Fachwissen, z. B. innerhalb der Berufe, und da fühlen sich wiederum viele heute sehr kompetent und sind es sicher auch, aber was die Welt, den Menschen und das Leben im allgemeinen anbelangt, da fühlen sie sich nicht mehr so sicher. Da verlieren sie ihre Souveränität. Bei genauem Hinsehen bemerkt man dann, daß es am ungenauen Verstehen der einzelnen Begriffe liegt. Man benutzt Worte wie Seele, Geist, Recht oder Denken, aber man weiß nicht genau, was diese Worte bedeuten. Denn Worte deuten auf einen ganz differenzierten Gedanken hin, den genauestens zu kennen eigentlich unabdingbar ist, wenn man sich mit Worten verständigen will. Doch der Gedankengehalt der Worte, der Inhalt der Begriffe ist dem heutigen Menschen nicht mehr wirklich klar. Gewiß weiß er, was er ungefähr sagen möchte, doch er weiß nicht wirklich exakt, den gedanklichen Inhalt zu fassen, welcher hinter den einzelnen Worten steht. Dies ist ein unhaltbarer Zustand und die große Schwäche unserer Zeit, die zuletzt in die völlige Verwirrung führen muß. Dem will diese Schrift begegnen, indem der Leser aufgefordert wird, eine ganze Anzahl von Begriffen aus eigenem Denken zu erarbeiten und zu beschreiben. Das wird ihm gewiß nicht leicht fallen. Doch mache sich der Leser klar, daß allein diese ab jetzt permanent geforderte Anstrengung das hier angestrebte schöpferische Denken zu entfachen vermag.
Für den nun folgenden praktischen Teil des Buches ist gedacht, daß der Leser die fett gedruckten Fragen sich zunächst selbst zu beantworten sucht, bevor er die von mir gegebenen Antworten liest. „Leider” habe ich nicht die Möglichkeit, die Leser diesbezüglich zu kontrollieren, und so kann ich lediglich die Empfehlung weitergeben, es wirklich selbst zu versuchen. Denn erst, wenn man die für die Denkschule so typische Erfahrung macht, daß ohne Anstrengung nichts zu erreichen ist, kann es gelingen, den Bann zu brechen, der schon seit fast zweihundert Jahren die mitteleuropäische Menschheit im Denken umfängt. Die Verführung, die von mir gegebene Antwort gleich nach der Frage zu lesen, ohne sich selbst um die Antwort bemüht zu haben, ist immens, denn das hat der Unterricht der Denkschule vielhundertfach gezeigt: Im ersten Moment fühlt der Befragte eine leichte Frustration, weil er nicht, wie gewohnt, die Antwort einfach aus seiner Erinnerung hervorholen kann. Die Fragen sind nämlich mit allertiefster Absicht so gewählt, daß der unvorbereitete Kursteilnehmer bzw. Leser in der Regel diese Fragen bisher noch nicht gestellt bekommen und zu beantworten versucht hat. Er kennt die Antwort einfach nicht, aber das ist gerade das Erstaunliche, was zutiefst erlebt werden soll: Er kann die Antwort dennoch finden – freilich nicht ohne Anstrengung. Strengt man sich aber an, dann bekommt man Einfälle und dann wandelt sich der Frust in Freude. Wer sich aber jener Anstrengung entzieht, der entzieht sich dem, was dieses Buch erreichen will: die Erweckung des aktiven Denkens und das Erleben der von diesem ausgehenden heilsamen Kräfte. Deshalb möchte ich sogar so weit gehen, dem Leser zu empfehlen, daß er – wenn die Unstände dies zulassen – die Antworten auf die gestellten Fragen schriftlich niederzulegen versucht, bevor er liest, was ich als Antwort auf die Frage empfehle. Dabei haben die von mir gegebenen Antworten nicht den Anspruch, einzig wahr zu sein, sondern den Charakter von begründeten Vorschlägen. Das Aufschreiben der eigenen Antwort hat vor allem den Sinn, daß der Denkende sich einmal entschließt und seinen Antwort-Vorschlag aus sich heraussetzt und genau fixiert. Dadurch kommt er in eine ganz andere Verfassung, als wenn er alles offen läßt. Und sollte es Ihnen einmal nicht gelingen wollen, die Frage zu beantworten, so schauen Sie trotzdem nicht gleich auf meine Antwort, sondern machen sich klar, daß Sie beinahe tagtäglich das gefragte Wort gebrauchen – also kennen Sie es doch irgendwie, sonst könnten Sie es nicht verwenden. Es wäre sogar sehr günstig, wenn Sie in einem solchen Falle das Buch zur Seite legen und bis zum nächsten Tag mit der Frage leben – gewissermaßen eine Nacht darüber schlafen würden.
Die von mir vorgeschlagenen Antworten gliedern sich jeweils in zwei Teile, von denen einer als eingerückter Absatz und der andere auf Normalbreite gedruckt sind. Der eingerückte Teil enthält jene Elemente, welche der Leser nach meiner Erfahrung hätte finden können. Der nicht-eingerückte Teil enthält vorwiegend Angaben, die nur aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners gewonnen werden können.
Bleibt noch zu bemerken, daß es dem Leser sehr helfen wird, wenn es ihm gelingt, offen zu sein gegenüber den sämtlichen, in diesem Buch angeführten ungewohnten Gedanken. Er möge sie nicht gleich als falsch oder richtig bewerten wollen, sondern sie unvoreingenommen einmal denken. Man halte seine Skepsis wach, doch ebenso die Unbefangenheit. Das Urteilen aber spare man für später auf, denn ein verfrühtes Urteil versperrt nur allzu oft den Weg zu tieferer Erkenntnis.
Um nun mit der Praxis des Fragens und Antwortens zu beginnen, sei zunächst ganz allgemein nach dem gefragt, was das Wort „Gedanke” bezeichnet. Wir suchen den Gedanken des Gedankens. Bitte beschreiben Sie mit anderen Worten die Idee, auf welche das Wort „Gedanke” hinweist. Die erste Frage lautet also: Was sind Gedanken?
Gesucht ist nicht, was etwa ein Lexikon als Antwort hergeben würde oder was gewisse Fachliteratur über Gedanken zu sagen hat. Wer solchermaßen antworten wollte, der hätte die Sache völlig verfehlt. Gemeint ist nicht das erlernte Fachwissen, das natürlich der eine oder andere Leser haben könnte, und das natürlich auch mehr oder weniger zutreffend sein könnte als Antwort auf unsere Frage. Es handelt sich bei diesem Buch nicht um ein Quiz, Kreuzworträtsel oder eine Klassenarbeit, bei welchen meist nur Erlerntes gefragt ist. Um Wissen geht es nicht, es geht allein um Denken. Gefragt ist jetzt vielmehr das, was der Leser selbst sich unter „Gedanken” vorstellt, was er meint, wenn er von Gedanken spricht – nicht um das, was andere meinen. Da nützt oft das Fachwissen wenig, wichtig ist allein, was man spontan denkt, wenn man das Wort „Gedanke” hört oder liest. Und an dieser Stelle wird so mancher bemerken, daß das, was er spontan denkt, oft etwas ganz anderes ist, als was er zu der Sache gelernt hat. Man versuche also zunächst das Kunststück fertigzubringen, auf sein erlerntes Wissen zu verzichten und zu schauen, was das eigene Denken ergibt. Und das läßt sich – zumindest in diesem Falle – ziemlich leicht erkennen. Man kann ohne jedes Vorwissen in sich selbst feststellen, wozu man Gedanken verwendet und was durch sie geschieht. Man kann also selbst neu feststellen, was Gedanken sind. Man muß es nur tun. Und wer nun meint, er wisse es trotzdem nicht, er wisse nicht, was Gedanken eigentlich sind, der müßte sich fortan verbieten, dieses Wort zu verwenden, weil er dessen Bedeutung ja gar nicht zu kennen scheint. Mit anderen Worten: Es kann nicht wirklich sein, daß man es nicht wenigstens ansatzweise weiß. Es kann nur sein, daß man sich erst anstrengen muß, die Antwort zu erdenken, weil man sie nicht einfach aus dem Gedächtnis abrufen kann. Und genau das ist hier gemeint, auch auf die Gefahr hin, daß der eine oder andere Leser zunächst erschrickt, wenn er nun plötzlich doch selbst denken soll. „Ich kann das nicht so gut wie andere”, wird mancher sagen, und einigen könnte es sogar peinlich sein, eigene Gedanken entwickeln zu sollen, weil sie sich viel lieber hinter den Gedanken anderer verstecken. „Die Fachleute können das doch viel besser als ich.” Doch das Ziel dieses Kurses ist: Vertrauen in das eigene Denken zu gewinnen. Der Leser soll sich gewöhnen, selbst zu denken, anstatt nur zu lernen, was andere gedacht haben. Was also denkt der Leser, wenn er das Wort „Gedanken” benutzt – wenn er es entweder selbst ausspricht oder von einem anderen hört?
Zum Finden der Antwort sei noch ein Hinweis auf die Vorgehensweise gegeben. Man frage sich bei jeder dieser „Was”-Fragen, die im folgenden gestellt sind, wozu das Gefragte gebraucht wird, was man damit macht oder wie es sich äußert. Dabei vermeide man, die „Was”-Frage mit einer „Wie”-Frage zu verwechseln. Denn das ist ein typisches Ausweichmanöver, wie ich es recht häufig in den Kursen der Denkschule beobachten konnte: Ehe man sich anstrengt, selbst zu denken, versucht man sich an alles zu erinnern, was man zum Thema „Gedanken” bisher erfahren hat. Man beschreibt verschiedene Arten von Gedanken und ihre Wirkungsweise und merkt nicht, daß man inzwischen längst die Frage „Was sind Gedanken?” aus dem Auge verloren hat und statt dessen die Frage „Wie sind Gedanken?” beantwortet, die hier aber eben nicht gestellt wurde. Also, lieber Leser, bitte lesen Sie jetzt erst weiter, wenn sie versucht haben, die gestellte Frage zu beantworten:
Beobachtet man den eigenen Umgang mit dem Denken, so erlebt man zunächst, daß Gedanken Aufschluß, Erklärung und Erläuterung zu geben vermögen. Durch Gedanken wird Verständnis erzeugt auch dann, wenn es sich dabei um Fragen handelt. Auch und gerade Fragen sind Gedanken, nur daß man durch sie versteht, was man nicht versteht. Es wird einem klar, was unklar ist, welche Frage man sich stellt. Insofern kann gesagt werden: Durch Gedanken begreift man Zusammenhänge, Unterschiede, Gleichheiten, Unstimmigkeiten usw. und bewegt sich von der Gegenwart aus in die Vergangenheit oder Zukunft. Die Erinnerungsmöglichkeit läßt vergangene Erlebnisse erneut erscheinen und vermeidet langwieriges Wiederholen von Erkenntnisprozessen, indem sie einmal gewonnene Ergebnisse und Lösungen für weiteren Gebrauch parat hält. In der denkenden Vorstellung wird der Mensch von Raum und Zeit unabhängig. Man ist in der Lage, Zukünftiges in der Vorstellung schon einmal probeweise geschehen zu lassen. Faßt man all dies zusammen, so könnte man die Gedanken als Verstehens- oder Begreifens-Einheiten bezeichnen. Sie verbinden den Menschen verstehend mit der Welt, sie lassen uns bewußt teilhaben am Sinn und Sein. Wir kennen diese Einheiten nur als Erlebnisse und insofern könnte man sie auch als Verstehens-, Begreifens- oder Sinn-Erlebnisse bezeichnen. Die Philosophie spricht von Begriffen. Doch bevor wir den Begriff selbst näher beleuchten, soll erst einmal die Unterscheidung gewonnen werden zwischen Gedanke bzw. Begriff und Wort.
Die nächste Frage lautet daher: Was ist ein Wort? Und wieder sei der Leser aufgefordert, an dieser Stelle zunächst nicht weiter zu lesen, um selbst eine Antwort zu erarbeiten. Manche werden vielleicht sagen: Für mich gilt das ja nicht, ich will mich erst einmal nur informieren. Und so verständlich eine solche Haltung auch ist, so verhängnisvoll ist der Trugschluß: man könne sich informieren, indem man gleich weiter liest nach der gestellten Frage. Denn gerade die Information, auf die es ankäme, erhält der nicht, der nicht versucht, selbst eine Antwort zu erarbeiten.
Zur Antwort sei gesagt, daß meine bisherige Erfahrung mit dieser Frage gezeigt hat, daß viele Menschen glauben, Worte seien von gleicher oder ähnlicher Art wie Gedanken. Doch das ist ein Irrtum. Vermutlich entsteht diese Auffassung, weil Gedanken und Worte unmerklich zusammenarbeiten, so daß bei unscharfer Beobachtung der Eindruck entstehen kann, daß Gedanke und Wort ein und dieselbe Erscheinung seien.
Bei genauerem Hinsehen bemerkt man jedoch, daß Worte nur Zeichen- bzw. Lautfolgen sind, die für sich nicht den betreffenden Gedankeninhalt tragen, daß sie aber auf einen solchen hinweisen. Das Wort weist auf einen konkreten Gedankengehalt hin und kann als Name des Begriffes bzw. Gedankens bezeichnet werden. Der Name ist nicht der Begriff, sondern ein sprachlicher Hinweis auf den Begriff. Hört der Mensch ein Wort, so ruft der Sprachsinn den Verstand auf, den entsprechenden Gedanken aus der Erinnerung in das denkende Bewußtsein zu nehmen. Und ebenso im ungekehrten Falle: Hat der Mensch eine bestimmte Erkenntnis, so kann er seine Gedanken durch die Sprachfähigkeit sofort in Worte fassen und ggf. anderen mitteilen. Sprechen aber diese anderen Menschen nicht dieselbe Sprache wie der Sprechende, so hören die Zuhörer zwar die Worte, aber sie können keinen Gedankeninhalt mit den Worten verbinden, weil sie der Sprache des Sprechenden nicht mächtig sind. Daran erkennt man deutlich, daß Wort und Gedanke zweierlei sind. Worte werden gesprochen bzw. gehört, Gedanken bzw. Begriffe aber werden begriffen, d. h. gedacht. Zu der hier besprochenen Verwechslung von Wort und Begriff trägt auch der heute üblich gewordene ungenaue Sprachgebrauch bei. Vielfach wird „Begriff” nur als ein anderer Name für „Wort” verstanden, was aber ein Irrtum ist. Ein Begriff wird nicht gesprochen, ein Wort wird nicht gedacht, sondern die Worte benennen die zu denkenden Gedanken.
Nun, lieber Leser, an einer solchen Stelle ein wenig inne zu halten und das Gesagte innerlich zu bewegen, wäre die ideale Vorgehensweise, denn wenn Sie dem Gesagten zustimmen können, dann wird es eine Vertiefung benötigen, um in Ihnen dauerhaft zu werden.
Der Zusammenhang von Wort und Begriff zeigt bereits, daß der erkennende Mensch in der Regel zwei getrennte Vorgänge zusammenbringt, denn Erkenntnis entsteht gewöhnlich, indem Wahrnehmung durch Denken erklärt wird. Und wie das obige Beispiel deutlich macht, ist die reine Wahrnehmung ohne gedanklichen Inhalt. Das Wort einer fremden Sprache z. B. gibt mir keinen Gedanken, keinen Begriff. Und könnte man auch beim Hören einer bekannten Sprache das Denken unterdrükken, so würde man zwar hören, aber nichts verstehen, oder im Falle einer optischen Wahrnehmung würde man zwar etwas sehen, aber nichts erkennen usw. Sobald man irgend etwas Gehörtes versteht, Gesehenes erkennt, hat man – meist ohne es zu merken – auch schon gedacht. Denn das ist ja gerade die Aufgabe des Denkens, der Wahrnehmung den Sinn, die Bedeutung, den Inhalt zu geben. Wenn Sie als Leser diese Worte lesen, denken Sie (hoffentlich) unablässig, weil Sie der über die Augen wahrgenommenen Schrift die Bedeutung hinzufügen müssen, um den Sinn dieser Schrift zu verstehen. Denn die Bedeutung liegt nun einmal nicht in den Zeichen auf dem Papier, sondern in den Gedanken, die Sie sich an den Zeichen bilden. Würden Sie das Denken abstellen können, so wüßten Sie nicht einmal, daß sie ein Buch vor sich haben, denn daß es ein Buch ist und was man damit machen kann, all das sagt Ihnen ganz allein Ihr Denken. Wahrnehmen allein bewirkt also noch keine Erkenntnis. Diese ergibt sich erst durch den entsprechenden Gedanken – und sei er noch so einfach und gewohnt.
Wollen wir aber die menschliche Erkenntnis in vollem Umfang verstehen, so müssen wir jetzt, nachdem wir den Begriff des Gedankens erarbeitet haben, den der Wahrnehmung klären. Deshalb lautet die dritte Frage: Was ist Wahrnehmen?
Und bitte denken Sie auch diesmal daran, erst selbst die Frage vollständig – möglichst schriftlich – zu beantworten, um dann Ihre Antwort mit meiner vergleichen zu können. Ich will meine Antwort, zunächst ohne auf die speziellen esoterischen Erkenntnisse der Anthroposophie einzugehen, folgendermaßen formulieren:
Wahrnehmen stellt ein erstes Bemerken der Erscheinungswelt dar, welches – wie erwähnt – ohne den denkenden Menschen unerkannt bleibt.
Es geschieht ziemlich oft, daß der Mensch etwas wahrnimmt, ohne sich dies denkend bewußt zu machen. Und so kommt es immer wieder zu unbewußten Gewohnheits-Handlungen, bei denen man – wenn überhaupt – erst am Resultat aufwacht. Wenn z. B. jemand mich von hinten anruft, dann höre ich ihn bewußt, drehe ich mich um und sehe ihn. Hören und Sehen werden bewußt, aber der Vorgang des Umdrehens bleibt gewöhnlich unreflektiert, dennoch weiß ich: Er war hinter mir, also muß ich mich umgedreht haben usw. Niemand geht so vor, daß er sagt: Oh, es ruft jemand von hinten, dann muß ich mich jetzt einmal umdrehen. Statt dessen dreht man sich wie automatisch um. Erst wenn ich auf diese Art das Umdrehen mit dem Gedanken durchdringe, wird es bewußt verstanden.
So mancher Leser wird sich mit dieser Tatsache, daß alles Wahrgenommene durch entsprechende Gedanken erklärt werden muß, um bemerkt und verstanden zu werden, nicht so recht anfreunden können. Das hat aber bereits seinen Grund darin, daß das Denken im Unbewußten verläuft, so daß wir zwar die Resultate des Denkens als Erläuterung des Wahrgenommenen im Bewußtsein erleben, aber so, als wäre die Erläuterung im Wahrgenommenen schon enthalten gewesen. Wir bemerken die Prozesse des Denkens gewöhnlich nicht, erst wenn Unklarheiten und Fragen entstehen, bemerken wir, daß Denken und Wahrnehmen doch zwei getrennte Vorgänge sein müssen.
Auch das folgende Beispiel kann dies verdeutlichen. Die Zahl 241 ist allgemein verständlich und gibt uns ohne weitere Angaben nur eine mathematische Größe an, welche keine weitere Bedeutung hat. Fügen wir dann noch eine Zwei hinzu, so erhalten wir eine größere Zahl, nämlich 2412. Fügen wir aber zwei Punkte in die Zahl in der folgenden Weise ein, daß wir hinter je zwei Zahlen einen Punkt setzen, sieht es folgendermaßen aus: 24.12. Die Bedeutung dieser durch Punkte markierten Zahlen geht nun über den bloßen Zahlenwert hinaus. Bei den meisten Menschen gesellt sich zum reinen Zahlenwesen ein ganz neuer Gedanke hinzu. Es handelt sich nun um die typische Schreibweise eines Datums und würde den 24. Dezember angeben, welcher ein besonderer Tag für die meisten europäischen Menschen ist. Nun haben wir aber im Wahrnehmlichen nur zwei Punkte gesetzt und nichts vom Heiligen Abend des Weihnachtsfestes dazugegeben, und dennoch erscheint bei vielen Menschen plötzlich der Gedanke an Weihnachten. Daran erkennt man, daß Wahrnehmen und Denken wirklich zweierlei sind. Zwei getrennte Vorgänge, die vom Menschen zusammengesetzt werden.
Fragt man nun, „Was ist die Wahrnehmung gegenüber dem Denken?”,
so zeigt sich, daß sie das Denken lenkt. Sie gibt an, was oder worüber gedacht werden soll, welche Gedanken zum Bewußtsein gebracht werden sollen. Die Wahrnehmung enthält aber nicht den Gedankengehalt, sondern der wird vom Geist des Menschen gesucht und gefunden.
Wir haben also Denken und Wahrnehmen zu unterscheiden. Und wenn wir jemanden sprechen hören, so ist das Gehörte nicht schon das Denken. Wenn wir aber verstehen, was gesagt wurde, so hat das Denken gewirkt. Es hat dem Gehörten dessen Bedeutung hinzugefügt. Auch wenn wir äußerlich oder auch nur innerlich sprechen, so ist das Sprechen wiederum nicht das Denken, sondern das, was den Gedanken Ausdruck verschafft. Weder das Gehörte noch das Gesprochene ist selbst schon Gedanke, sondern ist nur der wahrnehmliche Hinweis auf bestimmte Gedanken. Das Wort ist der Name des Gedankens oder Begriffes, welcher unseren Verstand veranlaßt, eben genau jenen Gedankeninhalt ins Bewußtsein zu rufen.
Nun werden einige einwenden, das Wort sei doch aber der Name für den Gegenstand, für die Erscheinung, womit sie natürlich recht haben. Aber was nützt ein Name, wenn ich mit ihm keinen Inhalt verbinde? Wenn ich beispielsweise begreife, daß man für einen großen Steinkasten das Wort „Haus” benutzt, dann ist es gerade der Gedanke, den ich erfasse, um den Zusammenhang zu begreifen, und nicht das Haus selbst. Höre ich den Namen, so finde ich den Gedanken. Insofern ist das Wort auch und vor allem der Name des Gedankens.
Noch deutlicher wird die Sache, wenn wir den Begriff der Erkenntnis bilden. Obwohl gerade die vorangegangenen Ausführungen schon sehr viel über Erkenntnis aussagen, sei doch an dieser Stelle der Leser noch einmal gefragt: Was ist Erkenntnis?
Wer jetzt ganz schlau sagen wollte: Erkenntnis sei das Produkt aus Wahrnehmen und Denken, ja, dem müßte man schon Recht geben und doch wäre mit dieser Antwort nur wenig gewonnen. Zwar will ich keinen der Leser verdächtigen, es sich auf diese Weise leicht machen zu wollen, doch hinweisen will ich mit diesem – zugegeben – etwas plumpen Beispiel auf das mit dieser Schrift bekämpfte übliche Denkverhalten. Wer die gestellte Frage in dieser Weise beantwortet, hat sich nur mechanisch etwas gemerkt und gibt dies aus dem Gedächtnis einfach wieder bzw. stellt eine Kombination aus dem Gemerkten her. Er selbst hat aber an der Antwort doch kein Erkennen. Es ist daher eigentlich keine richtige Antwort. Denn wenn gefragt wird „Was ist Erkenntnis?”, dann ist nicht gefragt „Woraus setzt sie sich zusammen?”, sondern „Was ist sie?”.
In diesem Falle kann uns das Wort, welches ja der Name des Begriffs, der Idee ist, schon ein wenig weiterhelfen. Er-kennen. Wenn ich etwas kenne, dann ist es mir vertraut, dann erlebe ich es mit. Kennen heißt, mitgelebt zu haben, zu wissen, wie sich Anderes darlebt, wie es sich darlebt im Vergleich zu mir, wie und warum es mit mir harmoniert oder streitet. Ich muß versuchen, mich in das andere Wesen hineinzuversetzen, so als wäre ich der oder das Andere. Das Erleben fremden Seins läßt mich dieses Andere kennen, bzw. erkennen. Vielleicht kann man sagen: Erkennen ist das bewußte Mitleben mit Anderem im permanenten Abgleich mit dem eigenen Sein und mit allem bisher Erlebten.
An dieser Stelle sei der Leser noch einmal darauf hingewiesen, daß die erarbeiteten Gedanken eine gewisse Zeit der inneren Verarbeitung brauchen, um wirklich fruchtbar zu werden. Man sollte daher nicht zu viele dieser Fragen in einem Durchgang studieren, denn sonst besteht die Gefahr, daß dieses Nachwirken ausbleibt. Es würde schon genügen, zunächst nur einen der Begriffe wirklich selbst zu bilden und zu durchleben. Wer mehr arbeitet, sollte aber nach beispielsweise drei oder vier Begriffen eine Pause einlegen und sich, wenn möglich, mit anderen Dingen beschäftigen. Dann nach einigen Stunden könnte man versuchen, unabhängig vom Text des Buches die Begriffe neu zu bilden. Dabei käme es nicht darauf an, sich möglichst genau zu erinnern an das, was geschrieben und gelesen wurde, sondern günstig wäre es, sich die gestellten Fragen noch einmal zu stellen und die Antworten jeweils ganz neu zu bilden. Daher mein Vorschlag, legen Sie jetzt das Buch zur Seite und halten Sie nur die fünf gestellten Fragen fest, damit Sie in einigen Stunden oder am nächsten Tag erneut versuchen können, diese Fragen ganz unvorbereitet zu beantworten. Das ist – wie gesagt – nur ein Vorschlag. Wer gerne weitermachen möchte, soll natürlich nicht gehindert werden.