Aus dem Amerikanischen von René Ulmer

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Freakshow

erschien 2007 im Verlag Leisure Book.

Copyright © 2007, 2012 by Bryan Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Marion Mergen, www.korrekt-getippt.de

Titelbild: Danielle Tunstall

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-589-5

www.Festa-Verlag.de

Seltsame Signale in der Nacht.

Totenstille.

Dann …

… ein knisterndes Rauschen.

Gefolgt von einem Quietschen, einem kreischenden Lärm, der lauter und lauter wird, bevor er mit einem Mal vergeht zu dem tiefen Summen eines Lautsprechers, der sich an das beste Signal klammert, das er finden kann.

Eine sechsfingrige Hand tastet nach einem Drehknopf.

Sie dreht kaum merklich an diesem Knopf.

Erneut Stille.

Dann ertönt eine Baritonstimme: »Hier spricht Radio Äther, nach fast einem Jahr Sendepause erstmals wieder live auf der Fleischseite. Ich weiß, das Warten muss vielen von euch wie eine Ewigkeit vorgekommen sein, jeder gefrorene Augenblick wie ein ganzes Zeitalter. Aber freut euch, Brüder und Schwestern, Sonderlinge und Langweiler, Einfaltspinsel und Bestien, weil es wieder so weit ist und die Assimilation bald beginnt.«

Wieder knisternde Stille.

Ein Atmen ist zu hören, dann erklingt die geschmeidige, tief dröhnende Stimme: »In diesem Moment ist alles ruhig. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Tröstet euch mit dem Wissen, dass die Falle aufgestellt ist und bald zuschnappt. Jeden Augenblick …«

Ein kehliges Lachen hallt und lässt die uralte Moderatorenkabine vibrieren.

»Das ist der Augenblick. Hört zu … ja … Hört ihr ihre Schreie? Mmh, welch wunderschöne Symphonie.« Mehr kehliges Gelächter. »Ich wünschte, ihr könntet das Entsetzen auf ihren dämlichen Gesichtern sehen, während sie von ihren Sitzplätzen springen und wie gehetzte Tiere auf die Ausgänge zurennen …«

Wieder verfällt der Sprecher in ein Schweigen.

Durch die Lautsprecher sind leise angsterfüllte Schreie zu hören.

»So leichtgläubig. Wie Schafe. Sie verdienen es, auf diese Weise zu sterben. Findet ihr nicht auch?« Ein zufriedenes Seufzen, gefolgt von einem erregten Stöhnen. »Ja, ja, ja. Die Freakshow ist in der Stadt und jetzt sind die Freaks zum Spiiielen rausgekommen.«

Das Ding mit der sechsfingrigen Hand nickt und grinst.

Dann schaltet es das alte Radio ab und geht hinaus, um auch etwas Spaß zu haben …

1

Mike Garrett hielt den Atem an und wartete darauf, dass die hallenden Schritte des großen Mannes leiser wurden.

KLICK … KLACK

KLICK … klack …

Das Geräusch weckte eine Kindheitserinnerung, in der er auf dem Gehweg steht, während ein einzelnes Pferd als Schlusslicht der Dandridge High Homecoming Parade die Main Street entlangläuft. Dieser Gedanke zog eine Flutwelle schmerzhafter Erinnerungen an seine Jugend in seiner dem Untergang geweihten Heimatstadt nach sich.

Vor einem Jahr waren alle Bewohner von Dandridge gestorben, als Terroristen eine radioaktive Bombe gezündet hatten. Ein unerklärlicher Angriff auf ein stinknormales verschlafenes Kaff, sprichwörtlich mitten im Nirgendwo. Seitdem kursierten Gerüchte, dass die Geschichte von dieser nuklearen Explosion nichts weiter war als eine Erfindung der Regierung. Eine praktische Vertuschung für etwas anderes, für das sie keinerlei Erklärung hatten – und damit nutzten sie die Paranoia, die nach den Anschlägen vom 11. September nach wie vor herrschte. Mike war vor einigen Monaten in das benachbarte Pleasant Hills umgezogen und seitdem beherrschten schreckliche Visionen von wandelnden Leichen und grinsenden Strahlungsmutanten wie aus einem SciFi-Zombiefilm der 50er-Jahre seine Träume.

Sein Therapeut schrieb diese immer wiederkehrenden Albträume einem Schuldgefühl zu, überlebt zu haben. Das ergab durchaus Sinn, aber sich auf rationaler Ebene dessen bewusst zu sein, änderte wenig an den nächtlichen Foltersitzungen, zu denen sein unruhiger Schlaf geworden war. Die vielen Medikamente, die ihm sein Psychiater verschrieben hatte, halfen auch kein verdammtes bisschen. Bereits seit Monaten fühlte er sich, als wäre er am Ende seiner Kräfte, verzweifelt und ohne jede Hoffnung, jemals wieder Frieden zu finden.

Aber nun schien er den wahren Grund für seine Albträume zu kennen.

Auch wenn der endlose Strom entsetzlicher Bilder seinen Ursprung wahrscheinlich in der schrecklichen Angst hatte, die er nach der bizarren Zerstörung seiner Heimatstadt verspürte, war er davon überzeugt, er träume noch immer von ihnen, weil es sich um irgendeine Art von Vorahnung handelte. Der primitive Teil seines Gehirns, ein Teil, auf den er nur während dieser nebligen Tiefen seines Schlafes zugreifen konnte, hatte gespürt, dass Pleasant Hills eine ähnliche Katastrophe bevorstand. Soweit er das beurteilen konnte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass gerade in diesem Moment dasselbe geschah, was auch in Dandridge wirklich vorgefallen war.

Er schauderte und schaffte es gerade so, ein Wimmern zu unterdrücken, als die Bilder wie Maschinengewehrfeuer durch seinen Verstand zuckten. Ruckartig, wie die sprunghaften Schnitte in einem Rock-Video, das ausgefallen wirken wollte: der pompöse Auftritt des Zirkusdirektors mitten unter der Zirkuskuppel, anschwellende Musik, die vor sich hin plärrt, während die Tribünen vom Applaus der Massen beben … der darauffolgende Auftritt vieler schrecklich missgestalteter »Freaks« (wie sie sich selbst nennen) … diese seltsamen, anzüglich grinsenden Clownsdinger … eine kurze, wenn auch umwerfende akrobatische Darbietung, die mit der Enthauptung eines (vergleichsweise) »normalen« Mannes endet … die entsetzte Stille der schockierten Menge … die Freaks, die die Sitzreihen stürmen und über die Zuschauer herfallen, sie auf schnelle und schreckliche Weise verstümmeln und töten … wie Chuck Follett – sein bester Freund seit der Grundschule – ausgeweidet wird, wie seine Eingeweide wie Seile auf die Metallsitze platschen, während Chuck gequält ungläubig zusieht … dann das Gefühl, von der kreischenden flüchtenden Masse mitgerissen zu werden …

Und seitdem versteckte er sich, wo er nur konnte, duckte sich hektisch hier und dort. Ganz wie ein Soldat, der hinter feindlichen Linien festsaß, kauerte er sich zusammen und zuckte jedes Mal, wenn er einen weiteren Schrei hörte …

… Klick … klack …

… Klick … klack …

Die Schritte des großen Manns klangen jetzt weit entfernt. Schließlich gestattete sich Mike, die angehaltene Luft auszuatmen. Er wischte sich Schweiß von der Stirn, rieb sich die Hand an seinem Hosenbein trocken und kroch aus seinem Versteck. Mit zitternden Fingern packte er den Rand der über ihm liegenden Plattform, wartete, bis er einen festen Griff hatte, und stand langsam auf. Er schob den Kopf über den Rand der Plattform, sah nach links, dann nach rechts und seufzte.

Der Jahrmarkt war verlassen.

Der große Mann war fort.

Unbeabsichtigt gab Mike ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen ersticktem Schluchzen und wahnsinnigem Lachen lag. Er hob ein Absperrband an, kam aus einer Bude für ein Kasperletheater und bewegte sich vorsichtig auf die Mitte des verlassenen Jahrmarkts zu. Auf beiden Seiten standen Imbiss- und Schaustellerbuden dicht an dicht. Ihre grell bemalten Fassaden schienen ihn wie real gewordene Phantome aus seinen Albträumen anzugrinsen.

Plötzlich spürte Mike, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er hatte Entsetzliches mit angesehen. Selbstverständlich war es furchtbar. Aber es war auch gewissermaßen komisch, wenngleich auf absolut geisteskranke Art und Weise. Vielleicht weil er gerade wach war. Die Welt um ihn herum war trotz ihrer gespenstischen Eigenheiten noch immer echt. Greifbar. Der Boden unter seinen Füßen war real. Fest. Auf keinen Fall würde er sich bei seinem nächsten Schritt in Treibsand verwandeln. Seine schweren Atemzüge, Beweis für Leben und Körperfunktionen, zeichneten sich als nebliger Dunst in der kühlen Herbstluft ab.

Doch obwohl er wach war, konnte er dem Land der Albträume nicht entrinnen. Es fühlte sich an, als würde ihn das Universum selbst verspotten. Vielleicht hatte er in einem früheren Leben etwas unaussprechlich Schreckliches getan und das war nun Gottes Strafe dafür. Wieder lachte er und dieses Mal brachen sich die Tränen Bahn, zeichneten feuchte Spuren auf seine Wangen.

Er ballte die Fäuste, grub die Fingernägel, die er sich schon viel zu lange nicht mehr geschnitten hatte, in das weiche Fleisch seiner Handballen, bis die Haut unter dem Druck nachgab. Blut sammelte sich in den Vertiefungen. Noch ein Beweis dafür, dass er lebte. Der selbst verursachte Schmerz erinnerte ihn daran, wie unbedeutend das Leben im Moment war. Er musste sich zusammenreißen. Musste damit aufhören, wie ein Wahnsinniger zu gackern. Denn wenn er damit weitermachte, würde er den großen Mann in jedem Fall auf sich aufmerksam machen.

Und das wollte er nicht.

Keinesfalls.

Er musste weg. Sofort.

Offensichtlich. Nicht so offensichtlich war, wie er das am besten anstellen sollte. Das Gelände des Gebrüder Flaherty Wanderzirkus und Freakshow war so angelegt, als ob irgendein düsterer Zweck hinter der willkürlich verstreuten Anordnung der Gassen und Zelte mit ihren verschiedenen grotesken Attraktionen steckte … um zu verwirren und einem die Orientierung zu rauben. Verdammt, nein, nichts da »als ob«. In Anbetracht dessen, was er gesehen und erlebt hatte, war die teuflische Absicht dahinter überdeutlich.

Überall um ihn herum lauerte der Pesthauch des Bösen. Nicht nur in den Spaßbuden und den Zelten, auch in der Luft, die er atmete. Die Luft war kalt. Viel zu kalt für Spätseptember in Tennessee. Das Gelände des Zirkus hatte seine eigene Atmosphäre. Wie ein fremdartiger Eindringling, der die Wärme Tennessees so vollständig verdrängt hatte, dass Mike fast glauben konnte, er hätte gleich nach dem Kauf seiner Eintrittskarte und mit der Durchquerung des Eingangs ein gänzlich anderes (entsetzliches) Reich betreten. Wenn er so darüber nachdachte, schien das gar nicht so abwegig.

… Klick … klack …

Mike schluckte seinen aufkeimenden Schrei herunter.

Er kommt zurück!

Klick-klack.

Das Geräusch kam von rechts. Mike warf einen Blick in diese Richtung und glaubte, einen langgestreckten Schatten am anderen Ende des Jahrmarkts zu erkennen. Gleich würde der grausige Direktor dieser höllischen Parodie eines Zirkus um eine Ecke kommen und ihn entdecken. Mike wusste, wenn ihn der große Mann sah, war er so gut wie tot. Oder Schlimmeres. Hier war schlimmer definitiv eine Möglichkeit. Er hatte den Beweis von Nahem gesehen. Oder etwa nicht?

Ihm blieben zwei Möglichkeiten. Er konnte sich entweder wieder hinter der Kasperle-Bude verstecken oder nach links in die noch schwärzere Dunkelheit flüchten. Wenn er sich wieder hinter der klapprigen Bude verkroch, könnte er nur darauf warten, dass der große Mann langsam vorbeistakste, während ihm die zurückgelassenen Handpuppen mit ihren geistesgestörten Visagen Gesellschaft leisteten. Bei dem Gedanken an die seltsam kantigen und fleischigen Gesichter der Puppen mit ihren im Mondlicht wild glimmenden Augen, mit ihrem Hauch von Bewusstsein und Leben, zitterte er. Eigentlich sollten seine Gedanken völlig absurd sein, aber für Mike war die Grenze zwischen Absurdität und Normalität zu einem verwischten Schemen der Bedeutungslosigkeit geworden.

KLICK-KLACK.

So nah.

Kalter Schweiß lief in Strömen über Mikes Gesicht, während er vor dem größer werdenden Schatten zurückwich und die vermeintliche Sicherheit der Puppenbude hinter sich ließ. Er sah, wie der übertrieben große Zylinder des Mannes über dem oberen Rand des Zeltes am anderen Ende des Jahrmarkts auftauchte, und zwang seine Füße, sich schneller zu bewegen. Er stolperte, aber irgendwie gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben. Ihm war klar, dass es schlauer wäre, sich umzudrehen und so schnell er konnte zu rennen, aber ein paranoides Flüstern redete ihm ein, sobald er dem großen Mann den Rücken zukehrte, würde ihn dieser augenblicklich erwischen.

Mit der Ferse blieb er in einem kleinen Loch im Boden hängen und stürzte. Er ruderte wild mit den Armen, dieses Mal konnte er sein Gleichgewicht nicht wiederfinden. Er stürzte und schrie. Dem Schrei folgte neue, Nerven zerfetzende Angst.

Vom anderen Ende des Jahrmarkts ertönte ein Geräusch.

Ein irres, hallendes Lachen.

Ein weiterer unbeabsichtigter Schrei wand sich aus Mikes vor Angst zugeschnürter Kehle. Ihm folgten hilflos gemurmelte Worte: »O Gott, o Gottogott«, während er auf dem Boden hockend rückwärtskroch.

Eine Stimme sprach in der Dunkelheit. Nicht mehr als ein gehauchtes Flüstern, das die Nacht erfüllte: »Süßes, süßes, verlockendes Fleisch. Wie sehr ich es doch liebe, Menschenfleisch zu essen!«

Das irre Lachen des großen Mannes ertönte ein weiteres Mal, lauter, strömte in alle dunklen Winkel des Jahrmarkts. Der Klang hallte wie das gnadenlose Läuten einer Höllenglocke in Mikes Ohren wider. Seine eigene Stimme glich mehr einem Winseln. Er klang wie ein geprügelter, ängstlicher Hund.

Wie etwas Besiegtes.

Etwas in ihm wehrte sich gegen diesen Gedanken, eine letzte Kraft- und Mutreserve, von der er nicht einmal vermutet hätte, dass sie in ihm steckte. Er blieb ruhig sitzen, atmete gleichmäßig durch und rappelte sich auf. Einen Moment lang starrte er die mittlerweile deutlich sichtbare Gestalt des großen Mannes am anderen Ende des Jahrmarkts an.

Auf diese Entfernung erinnerte der schlaksige Körper des Zirkusdirektors an eine hastige Bleistiftskizze. Er war über sechs Meter groß und anfangs hatte Mike gedacht, er würde auf Stelzen gehen. Aber das war unmöglich. Seine Beine waren zu beweglich, es fehlte die Steifheit in den Bewegungen, die Mike mit Stelzen in Verbindung brachte. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass der Zirkusdirektor kein normaler Mann sein konnte, nicht einmal menschlich war. Was auch immer er für eine Kreatur sein mochte, konnte sich Mike nicht einmal im Entferntesten vorstellen. Der Zirkusdirektor sowie all die anderen bizarren Wesen und auch die schrecklichen Dinge, die Mike mit angesehen hatte, lagen jenseits seines zugegebenermaßen dürftigen Wissens über das Übernatürliche.

KLICK-KLACK.

KLICK-KLACK.

Der große Mann (oder das Ding, beharrte sein splitternder Verstand) kam schnell über den Jahrmarkt, überwand die zwischen ihnen liegende Entfernung mit beängstigender Geschwindigkeit. Jetzt rannte er, anstatt nur zu gehen; ein seltsamer, schlaksig schlackernder Trab.

KLICKLACKLICKLACKLICKLACK. Was Mike sah, hätte genauso gut eine Wahnvorstellung sein können, wie etwas, das während eines Acid-Trips an einem vorbeizuckte. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte.

Seine Beine trugen ihn so schnell sie konnten, getrieben von einer Willensstärke und Kraft, die alles überstiegen, was er jemals erlebt hatte. Obwohl Mike über eine relativ gute Fitness verfügte, war er kein Athlet, genauso wenig lief er regelmäßig. Aber nun bewegte er sich fast genauso schnell wie ein geübter Mittelstreckenläufer, schnitt mit der gnadenlosen Geschwindigkeit einer Lokomotive, die auf glimmenden Schienen dahindonnert, durch die kalte Nachtluft.

Der große Mann (Dingdingding!) lachte wieder.

Und erneut drang diese gehauchte, angedeutete Stimme, die sich wie das Flüstern auf einem Friedhof anhörte, an sein Ohr: »Du läufst wie der Wind, Menschenfleisch, aber ich blase wie ein Wirbelsturm.«

Mike schrie in Panik, erschrocken durch die unheimlichen Worte des großen Mannes. Er wusste nicht, was sie bedeuteten, aber es musste etwas richtig beschissen Schlechtes sein. Dann hörte er etwas, das er zuerst für das vielfach verstärkte Geräusch eines Staubsaugers hielt. Im nächsten Augenblick wurde ihm bewusst, dass jemand oder etwas riesige Mengen Luft einsog. Für einen Sekundenbruchteil herrschte Stille und Mike zuckte in Erwartung des gigantischen Ausatmens zusammen. Ein donnernder Wind, der Atem des Zirkusdirektors, rollte über den Jahrmarkt, ließ die Buden zittern und riss lockere Holzstücke ab, die in den Himmel hinaufflogen, einen Moment lang in der Dunkelheit verschwanden, dann herabfielen und durch den Luftstrom herumgewirbelt wurden.

Ein einzelnes gesplittertes Brett segelte über Mikes Kopf hinweg, drehte sich dabei wie ein verloren gegangenes Rotorblatt, schlug vor ihm auf dem Boden auf und schlitterte weiter über den Jahrmarkt. In seinem Nacken spürte er Hitze, die Wärme des auf ihn zurasenden Atems des Zirkusdirektors. Dieser Wind zerrte ihn nach vorn, riss ihn von den Füßen und trieb ihn den Jahrmarkt entlang, als wäre er nicht mehr als ein weggeworfenes Bonbonpapier.

Mit seinen ausgestreckten Armen und Beinen fühlte er sich einen irrwitzigen Moment lang wie Superman. Dann aber schmetterte ihn der Luftstrom gegen eine Bude, von der er abprallte, und er schlug hart auf dem Boden auf. In ihm explodierte Schmerz, brannte sich durch jeden Nerv in seinem Körper.

Ächzend rollte er sich auf den Rücken. Jeder Knochen tat ihm weh, eventuell hatte er sich sogar einige davon gebrochen. Doch das nackte Entsetzen überstieg den Schmerz. Er drückte sich hoch, bis er saß, und blickte nach oben, erwartete, den Zirkusdirektor über sich aufragen zu sehen. Aber dieser war nun weiter entfernt und Mike staunte eine hilflose Sekunde lang darüber, was für eine Kraft ein Wesen haben musste, um einen 90-Kilo-Mann mit einem einzelnen Atemstoß durch die Luft zu wirbeln. Wie konnte er nur hoffen, so einer Kreatur zu entkommen?

Die Antwort lag auf der Hand: Es gab keine Hoffnung.

Auch wenn sie nun weiter voneinander entfernt waren und der große Mann nicht mehr rannte – er ging wieder, genauso unheimlich abgehackt wiegend wie zuvor. Jetzt pfiff er ein fröhliches Liedchen, mit dem er garantiert verunsichern wollte. Der Zirkusdirektor zog die Jagd in die Länge, spielte mit seiner Beute, genoss ihre Furcht. Diese Erkenntnis brachte ein Gefühl mit sich, das Mike fast ebenso stark erfüllte wie seine Angst.

Hass.

Bisher war er nicht dazu gekommen, Hass zu empfinden. Auch jetzt war nicht wirklich die Zeit dafür. Dennoch war das Gefühl plötzlich da. Er wollte den großen Mann töten. Er wollte diese Kreatur leiden lassen, bevor sie möglichst qualvoll starb. Es war egal, dass Mike keinen Schimmer hatte, wie er das anstellen sollte. Er wollte es fast so sehr, wie er entkommen wollte.

Der große Mann kam näher, während es in Mike brodelte.

KLICK-KLACK.

KLICK-KLACK.

Ein weiterer Schwall dieses surrealen Gelächters hallte über den Jahrmarkt. Das Geräusch riss Mike in die Realität zurück. Er blinzelte heftig, schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren. Ja, er wollte den großen Mann töten, aber unter den gegebenen Umständen war das nicht möglich. Der Zirkusdirektor war noch immer ein gutes Stück entfernt, das gab Mike eine gute Gelegenheit zur Flucht. Möglicherweise seine letzte. Deshalb presste er jetzt die Hände auf den kalten Boden, drückte sich hoch.

Überrascht schrie er auf, als eine kalte – und sehr kräftige – Hand seinen Arm packte und ihn zurück zu Boden riss. Panisch drehte er sich um, ihm traten förmlich die Augen aus dem Schädel, als er die große Hand sah, die unter einer Zeltplane hervorragte. Die Plane hob sich ein wenig und dicke muskulöse Finger zogen ihn auf die schmale Öffnung zu. Mike wollte sich mit den Füßen gegen den Boden stemmen und dem Angreifer trotzen, aber seine Kraft reichte nicht. Er fiel auf den Bauch und schon rutschte sein Kopf unter der Plane hindurch. Zuerst sah er nichts als Dunkelheit, dann sehr undeutliche Schemen. Er öffnete den Mund, wollte schreien, aber eine andere Hand – kleiner und weicher als die an seinem Arm – legte sich auf seinen Mund und erstickte das Geräusch. Einen Herzschlag später war er im Inneren des Zelts.

Jemand setzte sich rittlings auf ihn, als wäre er ein mechanischer Bulle in einer dieser Kneipen für Bauerntrampel. Er war davon überzeugt, dass es sich dabei um dieselbe Person handelte, deren Hand auf seinem Mund lag. Eine Frau. Die andere Person, ein Mann – derjenige, der ihn in das Zelt gezerrt hatte –, drehte ihm den Arm auf den Rücken und berührte seine Kehle mit etwas Kaltem, Hartem. Mike schluckte, als ihm klar wurde, worum es sich handelte: die unglaublich scharfe Klinge eines sehr großen Messers.

Dann flüsterte der Mann in sein Ohr: »Wenn du leben willst, hör auf dich zu wehren und sei still. Du willst doch leben, oder etwa nicht?«

Mike schluckte schwer, dachte einen Moment intensiv über die Frage nach.

Dann nickte er, wobei sein Mund gegen die weiche Handfläche der Frau drückte.

Der Mann flüsterte erneut: »Dann keinen Mucks mehr, kein Atemzug, bis ich es dir sage. Bleib jetzt ganz ruhig … hier kommt er …«

Mike lauschte.

Und er hörte.

KLICK-KLACK.

KLICK-KLACK.

KLICK-KLACK.

2

Craigs andauerndes Rumfummeln an dem Drehknopf des Radios ging Heather Campbell auf die ohnehin schon angespannten Nerven. Er drehte an dem kleinen silbrigen Knopf herum, versuchte vergeblich, das uralte Radio dazu zu bringen, eine deutliche Frequenz zu empfangen. Und jedes Mal, wenn er ein Signal fand, das nicht zu sehr rauschte, kam er zu dem Schluss, dass er nicht mochte, was er hörte, und das ganze Spiel ging von vorne los.

Gerade hatte er es wieder getan, nachdem er auf 96X keine Minute lang irgendeinem alten Song von den Smiths zugehört hatte.

Heather seufzte. »Weißt du, Craig, der hat mir eigentlich ganz gut gefallen.«

»Dann hättest du was sagen sollen.« Sein Blick haftete auf dem Knopf des Radios, während er ihn weiterdrehte und dem kleinen orangefarbenen Balken dabei zusah, wie er sich hin und her bewegte. »Hältst du mich für einen beschissenen Gedankenleser?«

»Du hättest fragen können.«

Craig schnaubte. »Klar, und du hättest dir ein Auto kaufen können, das nicht während der Steinzeit gebaut wurde, hast du aber nicht. Scheiße, hör dir diesen Hurensohn an, der wie Barry White klingt. Was zur Hölle ist Radio Äther überhaupt?« Als ein lautes Rauschen die tiefe Stimme des Moderators übertönte, zuckte er zusammen und fluchte. »Und du hättest dir wenigstens ein neues beschissenes Radio kaufen können.«

Heather biss sich auf die Lippen, um ihre Antwort für sich zu behalten. Im Moment war ein weiterer Streit mit ihrem Freund das Letzte, was sie brauchte. Sie hatte nicht einmal gewollt, dass er mitkam. Es gab da eine potenziell ernsthafte Angelegenheit, um die sie sich kümmern musste, allerdings gab Craigs ahnungsloses Verhalten, das so typisch für ihn war, nicht den leisesten Hinweis darauf, dass er die Sache genauso ernst nahm. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Craig war jung, klar, aber nicht so jung, um keine Vorstellung davon zu haben, dass in dieser verkackten Welt jeden Tag schlimme Dinge geschahen. Als sie ihm erzählt hatte, dass sie sich Sorgen machte, weil sie niemanden in Pleasant Hills erreichen konnte (nicht einmal die Notrufnummern), war seine Antwort typisch apathisch gewesen – ein leichtes Schulterzucken, während er weiter wie gebannt auf sein Videospiel gegafft hatte.

Erst als sie ihm gesagt hatte, sie werde nach Pleasant Hills fahren, um nach ihrer kranken Mutter zu sehen, hatte er ihr etwas gewährt, was ungeteilter Aufmerksamkeit zumindest nahekam. »Nicht ohne mich«, hatte er gesagt.

Natürlich hatte Heather versucht, ihn dazu zu bringen, zu Hause zu bleiben und sich zu entspannen. Aber Craig zu sagen, was er tun sollte, war in etwa so, als würde ein Bergsteiger den Versuch unternehmen, mit einem Steinschlag zu diskutieren. Sein Bedürfnis, immer in ihrer Nähe sein zu müssen, trieb sie in den Wahnsinn. Er war so anhänglich, dass man meinen könnte, er würde sie tatsächlich lieben. Aber Heather kannte die Wahrheit. Craig mochte es einfach nur nicht, allein zu sein. Niemals.

Was für ein Scheiß …

Ihr war klar, dass sie sich einfach von ihm trennen und sich nach einer gesünderen Beziehung umsehen sollte. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, den Rest ihres Lebens mit Craig zu verbringen. Allein der Gedanke war schrecklich. Allerdings gab es ein paar Gründe, weswegen sie die Trennung vor sich herschob. Zum einen war er bei Weitem der attraktivste Kerl, mit dem sie jemals ausgegangen war. GQ-Titelbildmaterial. Und der Sex war atemberaubend, mit Abstand der beste, den sie jemals gehabt hatte.

Aber der stärkere Grund war Furcht. Manchmal machte er ihr Angst. Jedes Mal, wenn sie sich dazu durchrang, ihm zu sagen, dass sie geschiedene Leute waren, dachte sie an damals, als er ihr gesagt hatte, er würde sie in viele kleine Stücke hacken, sollte er sie jemals dabei erwischen, wie sie ihm fremdging. Was diese Behauptung noch verstärkte, war seine Begeisterung für diese Fernsehsendung über echte Verbrechen auf A&E. Er schaute sie regelmäßig, amüsierte sich über das fehlerhafte Vorgehen der Mörder und sagte gelegentlich verstörende Dinge wie: »So würde ich das nicht machen.« Eine Person mit einem derartigen Wesen regte man nicht auf, solange es noch irgendeine andere Möglichkeit gab. Eine Trennung war zwar nicht dasselbe wie Fremdgehen, aber sie befürchtete, dass er es als ähnlich schlimm empfinden könnte.

Craig quietschte entzückt, als das Radio so klar und deutlich ein Signal auffing, wie es mit einem analogen Gerät nur möglich war. Das Lied, das gerade lief, war irgendein typischer Vertreter des Classic Hard Rock mit hämmerndem Rhythmus. Er drehte die Lautstärke bis zum Anschlag auf und schüttelte den Kopf wie irgendein Vokuhila-Flüchtling aus den Achtzigern.

Heather knirschte mit den Zähnen und packte das Lenkrad noch fester. Sie wusste nicht, ob sie über Craigs lächerliche – wenn auch ernst gemeinte – Interpretation der Typen aus Wayne’s World kichern sollte oder aber frustriert schreien.

Wütend zwang sie sich, stattdessen an ihre Mutter und deren Misere zu denken und sich all die schrecklichen Dinge vorzustellen, die schiefgehen konnten. Seit Heather vor sieben Jahren ausgezogen war, hatte ihre Mutter stets allein gelebt. Aber letztes Jahr war es mit ihrer Gesundheit bergab gegangen und Heather hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle paar Tage nach Pleasant Hills rauszufahren, um nach ihr zu sehen. Craig brachte das auf die Palme, aber zumindest in dem Punkt gab sie seinem anmaßenden Verhalten nicht nach. Sie würde alles Notwendige tun, um sicherzustellen, dass es ihrer Mutter gut ging.

Die alte Frau war mittlerweile so gebrechlich, neigte zum Hinfallen und brach sich die spröden Knochen (was innerhalb der letzten sechs Monate bereits zweimal vorgekommen war). Heather hoffte, sie könnte ihre Mutter irgendwann dazu überreden, zu ihr nach Brighton zu ziehen. Aber bislang hatte Heather auch das vor sich hergeschoben, weil sie genau wusste, dass Craig der Kragen platzen würde. Sich die kleine Wohnung mit dieser, um es auf seine charmante Art auszudrücken, »alten Schachtel« zu teilen, war für ihn undenkbar.

Sieh’s ein, sagte sie zu sich selbst, bald wirst du so was wie ein bisschen Rückgrat finden müssen und diesen Spinner auf die Straße setzen, damit du dich deiner Mutter gegenüber anständig verhalten kannst.

Während sie lang gezogen ausatmete, entspannte sich ihr Griff um das Lenkrad.

Eines Tages, versprach sie sich selbst mit einem leichten Nicken, Scheiße, vielleicht sogar schon morgen. Aber erst mal vermeidest du es, mit diesem völlig Geistesgestörten auf dem Beifahrersitz einen Krieg vom Zaun zu brechen. Tu, was du tun musst, und bring es hinter dich.

Craig warf ihr regelmäßig vor, die Fehler ihrer Mutter zu ignorieren, aber auch hier irrte er sich gewaltig. Die Gefühle für ihre Mutter waren komplizierter, als ihrem bekloppten Freund klar war. Alice Campbell hatte Heather mit 43 bekommen, was man sogar heute noch als zu alt betrachtete, um ein Kind in die Welt zu setzen. Vor 26 Jahren hatten es die meisten Kleinstadtbürger Tennessees als geradezu uralt empfunden. Im Laufe der Zeit hatte es durchaus Gelegenheiten gegeben, das genauso zu sehen. Es war seltsam gewesen, eine Mutter zu haben, die sich dem Rentenalter näherte, während ihre Tochter gerade erst den Abschluss an der High School machte.

Der rockige Beat verstummte urplötzlich im Radio. Craigs Hand klebte noch immer am Lautstärkeregler, jetzt starrte er sie beunruhigt an. Sie runzelte die Stirn. »Was?«

Er verdrehte die Augen. »Du hast ausgesehen, als wärst du völlig weggetreten. Was ist verflucht noch mal mit dir los?«

Heather sah ihn einen Moment lang ausdruckslos an. Oh, es gab so vieles, was sie jetzt hätte sagen können, eine richtige Wagenladung aufgestauter und vernichtender Worte, die sie ihm liebend gern um die Ohren hauen wollte. Aber irgendwie fand sie die Kraft, sie noch ein weiteres Mal herunterzuschlucken.

Sie seufzte und sah wieder auf die Straße. »Nichts«, sagte sie leise und räusperte sich. »Ich mach mir nur Sorgen um Mom, sonst nichts.«

Craig schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. »Heilige Scheiße. Ich finde es zum Kotzen, wie sie dich ausnutzt. Sie ist keine beschissene Invalidin.« Er lachte verächtlich. »Wenn du mich fragst, solltest du sie dafür hassen, dass sie dir einen bescheuerten Namen wie Heather gegeben hat.«

Wieder biss sie sich auf die Lippe. »Mein Name ist völlig in Ordnung.«

Craig schnaubte und grinste spöttisch. »Klar. Ich schwöre dir, wenn ich deinen beschissenen Namen höre, kann ich nur an diesen Drecks-Christian-Slater-Film denken. Ich hasse diesen beschissenen Film.«

Darauf erwiderte sie nichts. Craigs Begründungen ergaben nur selten einen Sinn, und wenn er so unlogisch und gehässig war, hatte es keinen Zweck, mit ihm zu streiten. Man konnte nicht gewinnen.

Darum sagte sie nur: »Ich mag den Film.«

Craig lachte ein weiteres Mal. »Wundert mich nicht. Du hast keinerlei Geschmack.«

Und das von einem Kerl, der Showgirls für den besten Film aller Zeiten hielt.

Er schüttelte kichernd den Kopf wie jemand, der sich über etwas amüsierte, das ein Kind sagte. »Beschissener Heathers. Beschissener Rosenkranz und Güldenstern. Ich kann den Dreck, auf den du abfährst, einfach nicht ausstehen. Alles nur so Kunstrotz oder mit Ecken und Kanten.« Das sagte er mit hörbarem Spott in der Stimme. »Und dieser langweilige bekackte Scheißdreck, den du liest, wie David Foster Wallace, als wärst du eine beschissene Intellektuelle. Du bist so verflucht überheblich. Blitzmeldung, Heather, niemand kauft dir das Schlaues-Mädchen-Gehabe ab. Du hast genau wie ich das College geschmissen.«

Das permanente Fluchen war noch etwas an Craig, das ihr auf die Nerven ging. Sie war nicht prüde. Wenn ihr danach war, konnte sie ebenfalls einen Wortschwall vom Gehalt einer Nuklearwaffe ablassen. Aber Craigs Vorliebe für Schimpfworte ließ sich mit nichts vergleichen, das sie jemals zuvor erlebt hatte. Sein alltäglicher Umgangston ließ jeden Hip-Hop-Song vergleichsweise harmlos klingen. Der Gedanke daran ließ Heather plötzlich müde werden, als ihr klar wurde, dass die Persönlichkeit ihres Freundes widerwärtig war. Und seine Abscheu für ihre Interessen machte ihn auch nicht liebenswerter.

Liebe.

Was für ein Witz – romantische Liebe hatte keinen Platz in ihrer über alle Maßen zerrütteten Beziehung und es war schon lange her, dass auch nur einer von ihnen versucht hatte, so zu tun. Es ging nur um den niedlichen Arsch, Baby.

Erbärmlich.

Sie seufzte und sah weiter auf die Straße.

Craig boxte ihr gegen die Schulter. »Warum beschissen noch mal seufzt du?«

Geh nicht darauf ein. Reize ihn nicht. Denk an Mom.

»Nichts.«

Er schlug ihr erneut mit der Faust auf die Schulter. »Gequirlte Kacke von wegen nichts. Hör auf, so eine beschissene Fotze zu sein, und sag mir, was dich verfickt noch mal stört, Schlampe.«

Sie funkelte ihn an. »Nenn mich nicht so.«

Ein Schmunzeln spielte um seine hübschen Mundwinkel. »Ich nenn dich, wie ich will … Schlampe.«

Der Chevelle kam mit quietschenden Reifen und ausbrechendem Heck am Straßenrand zum Stehen, als Heather das Bremspedal bis zum Bodenblech durchdrückte. Craig brüllte, wurde nach vorn geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, bevor er wieder in seinen Sitz zurückfiel. Wie er sie mit weit aufgerissenen Augen ängstlich ansah, vermittelte Heather augenblicklich ein Gefühl von Genugtuung. Craigs Emotionen waren gar nicht so kompliziert.

Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und Wut verzerrte sein Gesicht, wodurch er fast hässlich wirkte. »Du Fotze. Du verfickte Fotze!« Sein Brüllen verstummte und auf seinem Gesicht erschien ein Grinsen – darin lagen ein Hauch Boshaftigkeit und ein Versprechen von Schmerzen. »Das wird dir noch leidtun.«

Er griff nach ihrer Handtasche, aber Heather reagierte eine Nanosekunde schneller. Ihre Hand tauchte in die offene Prada-Tasche und kam mit der 38er heraus, die sie von einem früheren Freund bekommen hatte. Sie drückte Craig die Laufmündung an die Nasenwurzel und war erschrocken, wie gelassen sie sich fühlte. Selbstverständlich spürte sie die Nervosität unter ihrer ruhigen Fassade, aber sie fühlte sich erstaunlich gefasst und ihre Stimme hatte einen autoritären Ton.

»Steig aus. Jetzt!«

Craig starrte sie mit großen Augen an und sein Mund klappte ungläubig auf. Aber er fing sich schnell wieder, das vertraute Grinsen kehrte zurück, als er die Fäuste ballte. »Ich geh nirgendwohin. Versuch nur, mich dazu zu zwingen.«

Heather lächelte. »Okay.«

Jetzt runzelte Craig die Stirn. »Was hast du gesagt?«

Sie spannte den Hammer der 38er und lächelte breiter. Darin lag der Hauch von vorübergehendem Wahnsinn. Mittlerweile raste ihr Herz, schlug wie eine manische Trommel in ihrer Brust und das zusätzliche Adrenalin in ihrer Blutbahn gab ihr mehr Mut, als sie für gewöhnlich aufbrachte.

»Raus aus meinem Auto«, sagte sie so gelassen wie zuvor, »oder ich leg dich um.«

Zum ersten Mal war in Craigs Blick so etwas wie Zweifel zu erkennen. Aber wie bei jedem Menschen, dem man sein schlechtes Verhalten zu lange durchgehen ließ, weigerte sich auch in ihm ein Teil geradewegs, die Überzeugung zu akzeptieren, die Heathers Tonlage und Mimik deutlich machten.

Er grinste. »Mach dich nicht lächerlich, Schlampe. Schmeiß mich hier raus, dann verrate ich vielleicht doch noch diese Sache, die du mal angestellt hast.« Sein Grinsen wurde bösartig. »Du erinnerst dich doch daran, oder etwa nicht? Als du das Ding jemandem das letzte Mal ins Gesicht gehalten hast? Ich weiß beschissen noch mal, dass du nicht willst, dass irgendwer davon erfährt. Ganz besonders nicht deine süße kleine alte Mutter. Also, steck das Scheißding weg!«

Heather wurde kalt. Sie hatten sich damals darauf geeinigt, diese Sache nie wieder zu erwähnen. Seit dem »Vorfall« (wie sie es nannte, wenn sie gezwungen war, daran zu denken) hatte sie den Großteil der Zeit damit verbracht, verzweifelt so zu tun, als wäre es nie geschehen. Und auch jetzt verdrängte sie die Erinnerungen, zwang sie wieder an den dunklen Ort zurück, wo sie hingehörten. Aber die Wut, die in ihr brodelte, blieb. Er war zu weit gegangen. Scheiß auf die Konsequenzen. Sie wollte den Wichser keinen Moment länger in ihrem Auto haben. Ihre Hand zuckte über seinen Schoß hinweg, zerrte am Türgriff und stieß die Beifahrertür so heftig auf, dass der Griff abriss. Sie registrierte, dass Craig sich wie immer geweigert hatte, den Sicherheitsgurt anzulegen, nahm all ihre Kraft zusammen und stieß ihn hinaus auf den Straßenrand. Fluchend fiel er in den Schotter und rollte vom Auto weg. Heather beugte sich zur Beifahrertür und schloss sie mit einem nachdrücklichen Rums.

Craig kam gerade auf die Beine, als sich Heather wieder ordentlich in ihrem Sitz aufrichtete. »Ich werde dich abschlachten, Heather! Hörst du mich, verfickt noch mal?!«

Heather hörte seine Schritte auf dem Schotter, als er zum Auto taumelte. Sie legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Der alte Wagen schoss vom Straßenrand davon und ließ Craig zurück. Als sie endlich einen Blick in den Rückspiegel warf, konnte sie ihn in der Dunkelheit nicht erkennen. Einen kurzen Augenblick gestattete sie sich, davon zu träumen, ihn nie wiederzusehen. Aber dann traf sie die Erkenntnis mit der Gewalt eines Dampfhammers. Er wohnt mit dir zusammen, du Trottel, rief ihr eine besorgte Stimme in Erinnerung. Er wird zu deiner Wohnung zurückgehen. Er hat einen Schlüssel. Weißt du noch? Und er wird alles, was du hast, stehlen oder zerstören. Das wird garantiert noch ein ernstes Nachspiel haben.

Aber Heather brachte die innere Stimme zum Verstummen.

Tatsächlich schaffte sie es, ihren Verstand von sämtlichen Gedanken zu befreien. Angespannt lauschte sie dem Surren der Räder auf dem Asphalt des Highways, abgesehen von ihren Atemzügen das einzige Geräusch.

Nach einer Weile seufzte sie und lächelte wieder.

Auf der rechten Seite tauchte ein grünes Straßenschild auf. Darauf stand: PLEASANT HILLS, 11 Kilometer.

Craig sah zu, wie die Heckleuchten des Chevelle kleiner wurden, bis sie kaum noch auszumachende Lichtpunkte waren. Dann verschwanden sie und er wurde sich darüber bewusst, völlig allein auf dem Highway gestrandet zu sein. Während er in Richtung Pleasant Hills lief, tröstete er sich mit Rachefantasien. Als er sich vorstellte, wie ihn die Fotze mit aufgerissenen Augen angaffte, sobald er ihr die Spielzeugpistole wegnehmen und ins Gesicht schieben würde, lächelte er. Und vielleicht würde er die Knarre ja noch in ein paar andere Stellen ihres Körpers schieben.

Die Fantasie ging noch weiter.

Er stellte sich vor, wie sie zitterte und um ihr Leben bettelte. Sah sich selbst lachen, den Abzug durchziehen und dann eine wunderschöne rote Explosion aus ihrem Hinterkopf emporsteigen, genau wie in seinen Lieblingsfilmen.

»Ja, Kleines. Papi wird dir beschissen noch mal ein für alle Mal zeigen, wo dein Platz ist.«