Ein großer Wunsch

Es wurde Frühling, das war nicht zu überhören. Über den Wipfeln des kleinen Wäldchens breitete sich Vogelgesang aus wie ein Versprechen, das von Baum zu Baum weitergereicht wurde.

Es war natürlich Elias’ Idee gewesen, hier Verstecken zu spielen. Hinter einem der Buchenstämme stand er und lachte sich vermutlich ins Fäustchen, weil er immer genau wusste, wo ich war.

Schon zum dritten Mal in dieser Woche musste ich auf Elias aufpassen. Daran waren Mamas Arbeitszeiten schuld. Alle anderen in meiner Klasse verabredeten sich, nur ich stand zwischen den Bäumen und lauschte dem Vogelgezwitscher.

Mama arbeitete als Paketzustellerin und war fast jeden Tag von früh bis spät unterwegs. Wenn sie nicht da war, musste sich jemand um Elias kümmern. Dieser Jemand war ich. Mein Bruder war schließlich erst fünf und ging noch in den Kindergarten. Papa war vor vier Jahren in eine andere Stadt gezogen, seitdem hörten wir nicht mehr so oft etwas von ihm. Seine Familie kann man sich nun mal nicht aussuchen.

Ich legte mich auf den Waldboden. Farnkräuter und Gräser kitzelten mein Gesicht. Mein Bruder würde bestimmt unruhig werden, wenn er mich nicht mehr sah, dachte ich. Doch da hatte ich mich getäuscht. Elias blieb unsichtbar.

Also rappelte ich mich wieder auf und wischte mir ein paar Blätter von der Hose. Meine Schuhe drückten. Ich trug immer noch Winterstiefel, obwohl sie Löcher in den Sohlen hatten. Wenn es regnete, bekam ich sofort nasse Füße. Ich brauchte dringend neue Turnschuhe für den Sommer. Aber wir gehörten nicht zu denen, die dauernd shoppen gingen. Obwohl Mama pausenlos arbeitete, kamen wir gerade so über die Runden, denn sie verdiente nicht viel.

Eigentlich war Mama Dolmetscherin. Sie sprach fließend Italienisch und Französisch. Manche Leute hielten sie für eine Italienerin, weil sie braune Augen und dunkle Haare hatte und beim Reden immer die Hände benutzte.

Von ihr hatte ich die braunen Haare, aber meine Augen waren blau. Und ich redete nicht viel. Schon gar nicht mit den Händen.

»Warum arbeitest du nicht als Dolmetscherin?«, hatte ich Mama irgendwann einmal gefragt. »Dann hätten wir genug Geld, und du müsstest nicht diese hässliche Mütze tragen.« Ich mochte die Sachen nicht, die Mama zur Arbeit anzog.

»Reich werde ich als Dolmetscherin auch nicht«, hatte Mama geantwortet. »Außerdem wäre ich dauernd auf Geschäftsreisen. Jetzt bin ich wenigstens abends bei euch.«

Doch wenn Mama abgekämpft nach Hause kam, fand ich nicht, dass sie richtig für uns da war. Abends wartete ja noch der ganze Haushalt auf sie und das Vorbereiten unseres Essens für den nächsten Tag. Ich versuchte ihr zu helfen, so gut ich konnte. Aber viel Zeit hatte sie trotzdem nicht für uns.

Meine Hände wanderten zurück in ihr Jackentaschenversteck. Wo zum Teufel steckte Elias?

Hinter dem dicksten Baumstamm entdeckte ich ihn endlich. Ich rannte auf ihn zu, doch Elias lief nicht vor mir weg. Als ich fast bei ihm war, sah ich, weshalb. Mein Bruder hockte auf dem Boden und betrachtete etwas.

Ich berührte seine Schulter. »Tick, du bist.«

Elias nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. »Das sind Knochen«, sagte er, ohne zu mir aufzublicken. »Von zwei Vögeln. Sie sind in der Luft zusammengestoßen und dann abgestürzt.« Endlich schaute Elias mich an. Das Versteckspiel war beendet.

»Vielleicht sind sie nachts geflogen und konnten nichts sehen, weil es zu dunkel war«, sagte ich.

»Abends schlafen die Vögel in ihren Nestern«, belehrte Elias mich.

Ich nickte. »Wahrscheinlich haben die Vögel einfach nicht richtig aufgepasst, wohin sie fliegen.«

»Ja«, sagte Elias. Das schien ihn schon eher zu überzeugen.

Wir schoben Laub zur Seite. Dann buddelten wir, so gut es ging, mit den Händen ein Loch in die Erde. Die Erde war feucht, und unter meinen Nägeln sammelte sich der Dreck. Elias legte die Knochen behutsam in das kleine Grab und schaufelte Erde drüber. Als er damit fertig war, konnten wir endlich aufbrechen.

»Was passiert mit den Knochen in der Erde?«, fragte Elias, als wir auf dem Nachhauseweg waren.

»Die werden mit der Zeit selbst wieder zu Erde.« Ich griff nach seiner kleinen schmutzigen Hand. »Aber das dauert sehr lange.«

»Ist die ganze Erde aus Knochen entstanden?«, fragte Elias weiter. »Aus Dino-Knochen?«

»Nein, nicht nur aus Knochen«, sagte ich. »Pflanzen werden zu Erde, alles Lebendige wird zu Erde. Und daraus entsteht dann etwas Neues.«

»Auch Tiere und Menschen?«

»Hey, du weißt doch längst, dass die nicht aus der Erde wachsen.«

»Ach ja«, sagte Elias. Er klang enttäuscht.

 

Mama war noch nicht zu Hause. Sie musste heute wohl wieder eine längere Tour machen. Elias spielte in seinem Zimmer, und ich überlegte, welche Aufgaben ich im Mathebuch lösen sollte. Frau Bardowick, unsere Mathelehrerin, hatte mich erst heute Morgen beim Abschreiben der Hausaufgaben erwischt. Wenn mir das noch mal passierte, würde sie vielleicht Mama anrufen. Das wollte ich auf keinen Fall. Mir fiel aber trotzdem nicht ein, was die Hausaufgaben waren. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als mich bei Yasamin danach zu erkundigen. Sie ging in meine Klasse und wohnte direkt über uns. Ich brauchte nur die Treppe hochzulaufen, schon war ich da.

Yasamins Mutter öffnete mir. »Ach, du bist es«, sagte sie.

»Ist Yasamin zu Hause?«, fragte ich.

»Wir haben gerade Besuch von Yasamins Oma. Kannst du ein anderes Mal wiederkommen?«

»Ich möchte bloß schnell was fragen.«

Sie seufzte. »Also gut, Emma, aber nur kurz.« Sie führte mich zu Yasamins Zimmer, klopfte an die Tür und flötete: »Schatz, du hast Besu-huch.«

»Kommt rein!«

Ich drückte die Klinke. Yasamin saß auf ihrem Bett und kämmte einer Barbie die Haare.

Tja, sie spielte immer noch mit Barbies.

Das hatte ich früher auch getan, als ich noch in die erste Klasse ging. Inzwischen war ich elf und eine Fünftklässlerin. Doch Yasamins Barbie war natürlich viel schöner als meine. Das sah ich sofort. Meine hatte ich damals auf dem Flohmarkt von meinem Taschengeld gekauft. Sie hatte Spuren von grünem Filzstift in ihrem Gesicht, obwohl ich sie gründlich mit Spülmittel geschrubbt hatte. Und an ziemlich vielen Stellen fehlten ihr Haare. Aber das war mir egal. Mir gefiel sie so, wie sie war.

»Ist die Barbie neu?«, fragte ich und deutete auf den Karton, der neben ihr auf dem Bett lag.

Yasamin nickte und fummelte an der Frisur ihrer Barbie herum. »Übrigens ist das eine Monster High und keine gewöhnliche Barbie«, erklärte sie. »Ich habe sie von meiner Oma bekommen.«

Ich hatte es ja gewusst! Sie bekam dauernd etwas von ihrer Oma geschenkt.

Yasamin hielt mir ihre Puppe entgegen. »Willst du sie mal angucken?«

Ich trat näher. Die Barbie, äh, Monsterdingsda, hatte dunkellila Haare, und aus ihrem Mund ragten spitze Vampirzähne. Meine Barbie sah dennoch monstermäßiger aus.

»Sie hat auch lauter tolle Anziehsachen«, erklärte Yasamin und hielt die Teile nacheinander in die Luft. »Ein Vampircape aus Samt, ein Abendkleid, ein Hexenkostüm …«

»Hattest du Geburtstag oder so?«

»Nein, warum?« Yasamin lächelte mich an. »Kriegst du nie etwas von deiner Oma geschenkt?«

»Ich habe überhaupt keine Oma, jedenfalls nicht hier«, antwortete ich und fand das furchtbar ungerecht. Mamas Eltern waren nach Südafrika ausgewandert, weil es dort wärmer war, und sie besuchten uns so gut wie nie. Und zu Papas Eltern hatten wir keinen Kontakt. Yasamin hingegen hatte eine Mama, einen Papa und gleich zwei Omas. Nur deshalb war ihr Zimmer vollgestopft mit Spiel- und Bastelsachen, und ihr Kleiderschrank quoll über.

Es klopfte an die Tür. Ich dachte erst, es wäre Yasamins Mama, die nachgucken wollte, ob ich immer noch da war. Aber dann war es ihre Oma, die mir freundlich zulächelte. Sie sah genau so aus, wie ich mir eine Oma vorstellte. Über ihrer beigen Hose trug sie eine Schürze mit einem Kochlöffelmuster, und sie duftete nach Veilchenparfüm. Doch das Beste war, dass sie uns einen Teller mit Brownies hinstellte. Es waren Schokobrownies, meine Lieblingssorte.

»Die habe ich von zu Hause mitgebracht«, erklärte sie. »Möchtet ihr ein paar?«

Yasamin seufzte. »Nein danke.«

»Die sehen aber lecker aus«, sagte ich und wunderte mich, weshalb Yasamin keine wollte.

»Nimm gleich zwei!«, sagte die Oma zu mir. Dann nickte sie Yasamin zu. »Und du auch.«

»Oma, ich hatte doch vorhin schon welche«, entgegnete sie genervt. »Ich bin wirklich satt.«

Yasamins Oma schüttelte betrübt den Kopf. »Das Kind mag einfach nicht essen«, murmelte sie beim Hinausgehen.

»Willst du deine Barbie holen, damit wir zusammen spielen können?«, fragte Yasamin.

»Keine Zeit.« Ich zuckte die Schultern. »Ich muss Mathe machen und wollte dich eigentlich nur fragen, was wir aufhaben.«

»Ach, schade.« Yasamin verzog das Gesicht, legte die Barbie neben sich und schwang ihre Beine vom Bett. Sie schlüpfte in ihre rosa Plüschpantoffeln mit den langen Hasenohren, schlurfte zum Schreibtisch und schlug das Hausaufgabenheft auf. »Seite sechsundsiebzig, Aufgaben eins bis acht.«

»Alles klar, danke.« Ich lächelte sie an. »Dann bis morgen.«

Yasamin nickte und ging zurück zu ihrem Bett. Sie zog ihrer Monster-Barbie das Cape an. »Bis morgen«, murmelte sie, ohne aufzublicken. »Kannst auch gern mal vorbeischauen, wenn du nicht bloß die Hausaufgaben wissen willst.«

 

Nachdem ich mit den Hausaufgaben fertig war, ging ich in die Küche und schlug ein paar Eier in die Pfanne. Mama war immer noch nicht da, aber das war kein Grund zu verhungern. Ich toastete zwei dicke Brotscheiben für Elias und mich und öffnete eine Dose Bohnen in Tomatensoße. Das Kochen hatte ich mir selbst beigebracht. Wenn Mama es nicht rechtzeitig nach Hause schaffte und sie nichts vorbereitet hatte, gab es bei uns das Bohnengericht mit Spiegelei oder Rührei mit Nudeln. Und wenn wir darauf keine Lust hatten, konnten wir uns immer noch eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben.

Die ganze Zeit lief das Radio. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, weil ich dauernd daran denken musste, was für ein Glück Yasamin mit ihrer Oma hatte. Ich wünschte mir auch so sehr eine Oma! Eine, die mir Geschenke mitbrachte und mir einen Kuchen backte. Und die sich Sorgen machte, weil ich nicht genug aß.

Aber immerhin hatte ich Mama und Elias, und das war auf jeden Fall besser als nichts.

»Möchtest du nicht manchmal einen Opa und eine Oma haben?«, fragte ich meinen Bruder, als ich ihm die Bohnen auf den Teller füllte.

»Ja, das wäre super!« Elias machte beim Kauen ein nachdenkliches Gesicht. »Schade, dass Menschen nicht aus der Erde wachsen. Sonst könnten wir einfach ein Samenkorn einpflanzen, und dann würde aus dem Blumentopf auf unserer Fensterbank eine winzige kleine Oma rauskommen.«

Ich prustete los. »Das wäre natürlich toll. Man müsste sie nur ab und zu gießen.«

»Oder …« Elias schaute mich an. »Vielleicht kann man Omas und Opas irgendwo kaufen?«

»Kaufen?« Ich musste schon wieder lachen. »Was stellst du dir vor? Ein großes Oma-Opa-Kaufhaus?«

Elias grinste. »Das wäre doch cool.«

Sofort malten wir uns aus, wie so ein Laden aussehen würde. Es gab ein riesiges Schaufenster. In der Auslage spielten ein paar Großeltern Krocket oder Tennis (sie mussten aber aufpassen, dass die Schaufensterscheibe nicht zu Bruch ging). Das waren die Junggebliebenen, mit denen man Lagerfeuer machen, zelten gehen oder Fußball spielen konnte. Es gab aber auch altmodische Omas in karierten Wollröcken, die strickten und Geschichten erzählten. Zu ihnen gehörten die Opas mit den Weihnachtsmannbärten, die sich gemütlich in Ohrensesseln lümmelten und Pfeife rauchten.

Tja, ich würde lange überlegen müssen, für wen ich mich entschied. Fest stand allerdings, dass es einen solchen Laden leider nicht gab.

»Ich fürchte, wir müssen unsere Großeltern woanders herkriegen«, sagte ich seufzend. »Wenn ich bloß wüsste, woher.«

»Aus dem Altenheim gleich neben unserer Kita«, sagte Elias. »Da wohnen ganz viele Omas und Opas.«

Ich schaute meinen Bruder mit großen Augen an. Warum war ich nicht selbst auf die Idee gekommen? »Das ist es!«, sagte ich. »Dort suchen wir uns Großeltern aus und fragen sie, ob wir ihre Enkel sein können.«

»Wir könnten sie apotieren«, schlug Elias vor.

»Meinst du vielleicht adoptieren? Wo hast du das Wort denn nun wieder aufgeschnappt?«

Elias zuckte die Schultern. »Hat uns Marlene in der Kita erzählt.«

Marlene war die Erzieherin.

»Es gibt doch Eltern ohne Kinder«, begann Elias mir zu erklären, weil ich ihn immer noch verständnislos ansah. »Diese Eltern können Kinder apotieren.« Er holte tief Luft. »Und wenn das geht, dann können Kinder ohne Großeltern vielleicht auch Omas und Opas apotieren.«

»Das heißt adoptieren«, sagte ich und legte die Gabel auf den Teller. »Ja, das könnte die Lösung sein.«

Der Paradiesvogel

Mein Bruder beugte sich über den Teller, und seine dunkelblonden Haare fielen ihm ins Gesicht. Ich musste mich beherrschen, ihm nicht über den Kopf zu streicheln, denn das konnte er nicht leiden. Wenn überhaupt, durfte Mama das tun. Aber auch nur, wenn seine Freunde nicht in der Nähe waren.

Elias hatte recht. Großeltern gab es im Altenheim. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob man dort einfach so hineinspazieren konnte, um sich ein paar Großeltern auszusuchen. Bisher hatte ich das Altenheim nur von außen gesehen, wenn ich Elias von der Kita abholte. Manchmal stand die Köchin in ihrem weißen Kittel und den Gesundheitslatschen vor der Tür und rauchte. Sie war groß, dick und lächelte nie. An ihr würde ich mich niemals vorbeitrauen, das stand fest.

»Warst du schon mal da drin?«, fragte ich.

Elias nickte. »Ja, ein Mal. Das war so ein Projekt von unserer Kita.«

»Und was habt ihr gemacht?«

»Wir haben den Omas und Opas Lieder vorgesungen, und sie haben mitgesungen. Eine Oma wollte, dass ich ihr das Wollknäuel halte, damit sie es aufwickeln kann.«

Ich wurde hellhörig. »War sie nett?«

Elias zog die Nase kraus, wie so oft, wenn er nachdachte. Dabei gerieten seine Sommersprossen etwas durcheinander, falls sie überhaupt jemals geordnet gewesen waren. »Na ja, sie war alt. Ihr Gesicht war ganz schrumpelig, und ihre Stimme hat gezittert.«

»Das ist normal bei Omas«, sagte ich. »Deshalb kann sie doch trotzdem nett sein. Du weißt nicht zufällig, ob sie Enkelkinder hat?«

»Nö.« Elias setzte die Gabel ab. »Aber frag sie selbst, wenn du das unbedingt wissen willst.«

»Wie denn? Man darf bestimmt nicht einfach so ins Altenheim rein.«

Elias wischte sich entschlossen die Tomatensoße vom Mund und rutschte vom Stuhl. »Warte mal kurz.« Er lief in sein Zimmer.

Was hatte er denn nun schon wieder vor?

Als er zurückkam, überreichte er mir einen Zettel. »Eigentlich ist die für Mama«, murmelte er. »Aber sie hat bestimmt sowieso keine Zeit.«

Ich faltete den Zettel auseinander. »Oh, eine Einladung.«

»Eine Einladung und gleichzeitig eine Eintrittskarte«, sagte Elias und grinste so breit, dass seine Zahnlücke sichtbar wurde. »Damit kommst du auf jeden Fall ins Altenheim.«

Ich streckte meine Hand nach ihm aus, aber Elias duckte sich genau im richtigen Augenblick weg. Sagte ich doch, dass er es nicht mochte, wenn man ihm über den Kopf streichelte.

Dann faltete ich den Zettel auseinander und las:

Liebe Eltern,

am 6. Mai um 16 Uhr führen die Kinder der Kita Wurzelzwerge ihr kleines Theaterstück über die Tiere im Wald in der Seniorenresidenz Silberglanz auf. Wir laden Sie herzlich dazu ein. Für Kaffee und Kuchen ist gesorgt.

Ihre Kindergartenleitung

Deniz Suleyman

»Aha, ein Theaterstück«, sagte ich und ließ den Zettel sinken. »Und welche Rolle spielst du?«

»Eine Karotte.«

»Eine Karotte? Was hat denn Gemüse im Wald zu suchen?«

»Weißt du das nicht?« Elias sah mich erstaunt an. »Wildschweine und Rehe mögen Karotten total gern, genau wie Hasen und Kaninchen.«

»Verstehe«, murmelte ich. »Hast du etwa auch ein Karottenkostüm?«

»Ich trage eine rote Strumpfhose, einen roten Pullover und eine grüne Mütze mit grünen Bändern für das Karottengrün.«

»Wie sü… äh, wie superspannend!« Ich biss mir auf die Zunge. Elias hasste es, wenn ich sagte, dass ich ihn süß fand.

 

Ich holte unsere Wolldecke, und wir kuschelten uns darin auf dem Sofa ein. Das machten wir fast jeden Abend, weil es so gemütlich war. Als ich meine Füße unter die Decke zog, stieß ich beinahe Mamas Kochbücher um, die auf dem Tisch gestapelt waren. Mama blätterte oft darin herum und schaute sich die Fotos an. Dann erzählte sie uns, was sie uns alles kochen würde, sobald sie Zeit dafür hatte: Lachsfilet mit Spargel, Nudeln in Hummersoße oder selbst gemachtes Schokoladeneis. Allerdings wurde nie was daraus. Meistens gab es etwas, das schnell ging und nicht so teuer war: Rührei, Kartoffelmus oder Spaghetti mit Butter.

Wir brauchten wirklich unbedingt Großeltern. Am besten solche, die auch gern kochten.

»Willst du eigentlich lieber eine Oma oder einen Opa haben?«, fragte ich.

»Einen Opa, der mit mir zum Angeln geht«, sagte Elias. »So wie Tims Opa.«