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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Inhaltsverzeichnis
»Ach du, Liebster! – Hast wohl heute schön auf mich gewartet?«
Leichtfüßig eilte Ursula Drenck dem Verlobten entgegen, der eben in die Wohnung getreten war, und bot ihm die Lippen zum Gruß.
Die alte Marianne, die dem Klingelnden geöffnet hatte, zog sich diskret wieder in die Küche zurück; aber es wäre nicht nötig gewesen. Georg Wigand zog heute nicht den sich ihm darbietenden schlanken Leib zärtlich zu langer Begrüßung an sich. Kurz nur erwiderte er vielmehr den Kuß der Braut und machte sich alsbald aus ihren Armen frei.
»Allerdings!« erwiderte er ihre Frage gemessen und mit Nachdruck. »Und warum bist du denn nicht gekommen?«
Wigand hatte in der Tat fast eine halbe Stunde vor seinem Hause auf die Verlobte gewartet, die ihn dort, wie gewohnt, hatte abholen sollen.
»Mein Gott Jörg! Ich konnte nicht!« Etwas schmollend kam es von ihren Lippen, während er Mantel und Hut an den Haken hing. »Das hättest du dir doch wirklich auch selbst sagen können.« Und sie ging durch die offen stehende Tür ins Zimmer.
»So? – Und was hielt dich denn ab, wenn ich fragen darf?« Immer noch verärgert trat er ihr nach in den Raum.
»Ach – ich hatte mich so darauf gefreut, dir die große Neuigkeit mitzuteilen; aber nun ist mir die ganze Freude verdorben!« Verdrossen wandte sie sich von ihm ab, zum Fenster des Erkers hin.
Wigand wurde milder gestimmt. Den Arm um sie legend, trat er hinter sie.
»Na, was gab's denn, Ursel?« Und lächelnd drehte er den widerspenstigen Kopf zu sich herum, seine Lippen auf das duftige, lose Braunhaar drückend. Da klärten sich auch ihre Mienen wieder auf, und, schnell versöhnt, stieß sie froh hervor:
»Fred kommt.«
»Fred?«
»Nun ja – mein Vetter.«
»Ach so! Alfred Drenck – der Leutnant.«
Eine kleine Pause trat ein. »Und darum also konntest du mich nicht abholen?« Schon wieder grollte es leise in seiner Stimme.
»Aber nein, Jörg!« Schmeichelnd nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände. »Er kommt ja schon heut nachmittag. Er hat von der Bahn aus telegraphiert – da mußte ich doch schleunigst mein Zimmer freimachen.«
»Dein Zimmer?« Wigands Mienen verfinsterten sich.
»Aber natürlich! Wo sollen wir ihn denn sonst unterbringen? Wir haben doch kein Fremdenzimmer! Da muß ich mich eben so lange bei Tante einlogieren.«
Wigand tat ihre Hände plötzlich von seinem Gesicht weg.
»Das finde ich aber – nimm mir's nicht übel – im höchsten Grade unpassend: Ein junger Mensch – ein Leutnant – gerade in deinem Zimmer! Wenn ihr keinen Platz sonst im Haus für ihn habt, so mag er gefälligst ins Hotel gehen.«
»Aber Jörg! Papas Neffe! Und mein Vetter – mein Jugendgefährte, mit dem ich mich wie Schwester und Bruder stehe!« Mit großen Augen sah sie auf den Verlobten. »Das ist doch dein Ernst nicht, Jörg?«
Wigands Miene blieb hart und finster. »Mein vollster Ernst!« beharrte er. »Und ich verstehe deine Tante einfach nicht – vor allem, ich verstehe dich nicht, wie du das nicht selber empfindest. Daß ich dir erst das sagen muß!«
Einen Augenblick zuckte es heftig in Ursulas Gesicht, dann aber nahm dieses einen kalthochmütigen Ausdruck an, und schweigend wandte sie sich von ihm ab.
»Wo willst du hin?« Herrisch rief er es ihr nach.
»Mein Zimmer fertig machen – für Fred!« Trotzig betonte sie die Worte, so daß er sich zornig auf die Unterlippe biß. Aber ehe er noch ein weiteres Wort gefunden, hatte sich schon die Tür hinter ihr geschlossen.
Unwillkürlich stampfte Wigands Fuß in leidenschaftlichem Aufwallen leise den Fußboden. Einen Augenblick stand er so, dann eilte er zur Tür, die Wohnung zu verlassen. Auf der Schwelle aber stieß er fast mit Ursulas Vater zusammen.
»Ah – Jörg!« Der alte Major streckte ihm die Hand hin. »Na, so allein?« Er sah sich suchend im Zimmer um. »Und du wolltest schon wieder gehn?«
»Ja, Papa!« In unverhülltem Groll brachte es Wigand hervor. »Ursula hat ja keine Zeit für mich. Sie muß für den Vetter sorgen.«
Der alte Herr, sonst immer von einem etwas verbitterten Ernst, mußte lachen. »Na, wenn dich sonst nichts drückt, mein Junge – das brauchst du wirklich nicht so tragisch zu nehmen.« Versöhnlich klopfte er Wigand auf die Schulter und zog den nur noch halb Widerstrebenden mit sich ins Zimmer. »Na, komm nur – hier, steck dir 'ne Zigarre an – so! Und nun setz dich mal verständig zu mir« – sie nahmen am Sofatisch Platz – »und rauch dir den ersten Ärger ein bißchen ab. Das ist immer das beste – hab's oft genug selbst so gemacht.«
Schweigend rauchten beide ein paar Züge. »Na, siehst du, nun wird's ja schon wieder heller da!«
Der Major deutete auf Wigands Stirn, die sich in der Tat bereits zu entwölken begann, wie er so dem Vater Ursulas gegenüber saß.
Wigand verehrte den alten Herrn aufrichtig, seitdem er am Tage seiner Werbung aus dessen eigenem Munde die schwerwiegende Aufklärung für so manchen herben Zug seines Wesens empfangen hatte. Rückhaltlos hatte der Major Drenck zu dem Mann gesprochen, der um sein einziges Kind warb, der in seine Familie eintreten wollte. Ein Ehrenmann von Grund aus, hatte er dem Bewerber nichts verheimlichen wollen, was da von Bedeutung war. So hatte er denn von dem dunklen Punkt seines Lebens reden müssen, von seiner unglücklichen Ehe mit Ursulas Mutter.
Der Major hatte als nicht mehr ganz junger Mann, als älterer Hauptmann erst geheiratet, und zwar eine junge Witwe von außergewöhnlicher Schönheit, bestrickendem Liebreiz und einem Temperament, das alle Männer zu ihren Füßen zwang. Man hatte daher seinerzeit dem Hauptmann Drenck mit geheimem Neid einen ›unglaublichen Dusel‹ nachgesagt, als ihn – wider alles Erwarten – die viel umworbene Frau mit ihrer Hand beglückte, um so mehr, als sie, bei ihrem luxuriösen Auftreten, im Rufe stand, eine schwer reiche Frau zu sein.
Wie anders war dann aber alles gekommen, als die erste glückliche Ehezeit vorbei war und Ursulas Mutter anfing, nach der notwendigen Schonung wieder in der gesellschaftlichen Welt zu leben! Die Natur hatte ihr alle Instinkte einer Mutter versagt. Ihr Kind war ihr gleichgültig, ja häufig sogar eine Last, die sie widerwillig abschüttelte. Eine schier unersättliche Lebensgier jagte diese Frau von Genuß zu Genuß, von Triumph zu Triumph.
Anfangs wußte sie ihren Mann, der noch immer im Bann ihrer berückenden Persönlichkeit lag, mit sich in diesen Taumel hineinzureißen, als er aber, schließlich ernüchtert, sie warnend zur Umkehr beschwor – ihr Ruin drohte, wenn das so weiterging – als er sie flehend bat, da verlachte sie ihn leichtfertig. Als er aber endlich entschlossen Einhalt gebot, da – lief sie von ihm.
Der Skandal kostete dem Major seine militärische Stellung – er mußte quittieren, aber mehr als das, er brach ihm fast das Herz. Denn er hatte die Unwürdige aufrichtig geliebt mit der ganzen Kraft einer verspäteten Leidenschaft. Daß er schließlich noch einmal das alles überwand, das machte die Vaterpflicht, die Liebe zu dem armen Kinde, das nun ja nur ihn noch hatte.
Diesem Kinde galt fortab allein noch sein Leben, das er als ein verbitterter Mann, ohne Tätigkeit und Umgang, still für sich führte. Als einziges Wesen in seinem Lebenskreise, dem er gelegentlich außer Ursula noch ein Interesse schenkte, war nur noch die Witwe seines Bruders da, Tante Marie, die seit einigen Jahren ganz zu ihm ins Haus gezogen war, um der heranwachsenden Tochter zur Seite zu stehen.
Der Major hatte den erzieherischen Einfluß einer echt häuslichen und weiblichen Frau um so notwendiger für die Entwicklungsjahre Ursulas gehalten, als er – mit einer gewissen Sorge – bemerkt hatte, daß in dieser zwei grundverschiedene Naturen um die Oberhand rangen. Sein Kind vereinte mit dem Pflichtgefühl und Ernst des eigenen Wesens einen sehnsüchtigen Hang nach heiterer, sorgloser Lebensfreude, der zwar nur gelegentlich durchbrach, dann aber – ein verhängnisvolles Erbteil der Mutter – – sich leicht bis zum Selbstvergessen steigern konnte.
Als Ursula mit zunehmender Reife diese Zwiespältigkeit ihres Wesens selbst erkannte, kam eine Zeit bitterschwerer Kämpfe über sie. Von ihrem Vater in das Unglück ihres Hauses eingeweiht, versuchte sie mit aller Energie die gefährliche Wurzel jenes Leichtsinns – wie sie es selbst nannte – sich aus der Seele zu reißen. Sie wollte ja nicht auf den verlorenen Weg ihrer Mutter gehen!
Aber trotz all und aller Kasteiungen regte sich zu ihrer Verzweiflung doch immer von neuem wieder dieses unbezwingbare, übermächtige Sehnen nach einem seligen Glücksrausch. Ja, und es kamen Stunden, wo es ihr im Herzen schrie: »Was quälst du dich denn wie eine Asketin! Ist es denn Sünde, wonach dich verlangt? Was willst du denn anderes als nur ein bißchen Sonnenschein nach all dem trüben Grau, das deine Tage von Jugend an einspinnt?« Nach solchen Stunden hätte sie entsetzt vor sich selbst fliehen mögen, denn sie ahnte, daß das da drinnen stärker war als all ihr Wille, und daß es eines Tages in wildem Ausbruch ans Licht kommen würde.
Alle diese Kämpfe aber hatte Ursula stets mit sich allein abgemacht. Eine begreifliche Scheu hielt sie davon ab, zum Vater davon zu sprechen, wie innig sie ihn auch liebte. Sie wollte ihn, der so viel Leids erfahren, nicht auch noch mit dunklen Befürchtungen ängstigen, die ihr selbst in Stunden ruhigen, festen Ernstes ja übertrieben, vielleicht gar grundlos vorkamen. Und mit der Tante, wie gut sie auch mit dieser stand, verband sie doch nicht so ein innerstes Band, daß sie diese als Helferin in ihren Herzensnöten hätte anrufen mögen.
Für gewöhnlich, wenn das Leben im Drenckschen Hause seinen stillen, einförmigen Gang ging, war ja Ursula auch keinen Anfechtungen ausgesetzt. Nur wenn sie dann und wann einmal aus ihrem engen, freudlosen Lebenskreis heraustrat – etwa bei der Geburtstagsfeier einer Schulkameradin –, wenn sie dann in eine ganz andere Welt hineinblickte voller Licht und Glanz, dann kam es über sie. Am schlimmsten damals vor drei Jahren, als sie als Siebzehnjährige den ersten Ball mitgemacht hatte im Hause einer begüterten Freundin.
Das war für sie ein Traum, ein Rausch gewesen – diese Atmosphäre lachenden Frohsinns, leichter Eleganz, über alle Erdensorge hoch entführender Lust! Versunken war da hinter ihr für lange Stunden all die Enge und Trübe ihres Vaterhauses, sie kannte sich selbst nicht wieder in ihrer strahlenden, jubelnden Glückseligkeit.
Aber dann das Erwachen aus diesem Rausch, als am andern Morgen daheim sie der nüchterne Alltag angähnte! – Das war eine Krise für Ursula gewesen, und in verzweifeltem Schluchzen hatte sich da in ihrer jungen Seele ein Entschluß durchgerungen: Sie wollte nie wieder auf einen Ball, überhaupt nicht mehr in Gesellschaft gehen! Das konnte sie nicht ertragen, diese fürchterlichen Gegensätze! Und wozu erst nippen an einem Trank, den sie doch nicht leeren durfte, den das Schicksal nach den ersten gierigen Zügen ihr grausam von den lechzenden Lippen fortriß? Nein, nein! Lieber immer still drin bleiben in der gewohnten Enge ihres grauen Alltags und vergessen, daß es da draußen noch eine Welt voll strahlenden Sonnenscheins gab.
Ursula hatte ihren Vorsatz wirklich ausgeführt, erst zur innersten Genugtuung ihres Vaters. Recht so! dachte er. Besser, sie lernt all den Lug und Trug der Welt erst gar nicht kennen. Allmählich aber, von Tante Marie genährt, waren dem Major doch Bedenken gekommen, ob es wohl richtig sei, ein junges Menschenkind so ganz in freudloser Zurückgezogenheit aufwachsen zu lassen. »Das tut nicht gut!« warnte die Schwägerin. »Unterdrückte Jugend rächt sich später bitter!«
Der Major begann nachzudenken und gab ihr schließlich recht. Nun wurde beschlossen, daß man um Ursulas willen aus der jahrzehntelangen Abgeschiedenheit des Hauses heraustreten und einen angemessenen gesellschaftlichen Verkehr pflegen wollte, einen sowohl der Stellung des verabschiedeten Offiziers wie seiner bescheidenen Vermögenslage angemessenen Verkehr – das war die Schwierigkeit, die enge Grenzen zog. Mit den Kreisen früherer Kameraden wollte der Major aus naheliegenden Gründen keine Fühlung wieder suchen. So kam man denn schließlich darauf, durch den Beitritt zu einigen, auch gesellschaftlich respektablen größeren Vereinigungen Berlins – dem Kolonial-Verein, dem Ostmarken-Verein u. a. – gesellige Beziehungen zu pflegen.
Ursula fügte sich anfangs nur mit widerstrebenden Empfindungen dieser Neugestaltung ihres Lebens. Gewiß, sie dankte es dem Vater innig, daß er ihr zuliebe sich wieder in die Welt hinauswagte, die ihm so weh getan hatte. Aber dennoch konnte sie nicht recht froh darüber sein. Ihre alten Befürchtungen, die sie endlich zum Einschlummern gebracht hatte, drohten ja nun wieder wach in ihr zu werden.
Mit einem gewissen Zagen und einer großen Zurückhaltung trat sie daher nur in die Gesellschaft ein. Ängstlich beobachtete sie sich in jeder Minute, und sowie sie nur merkte, daß einmal wieder jener heiße Lebensdrang sich in ihr regen, daß sie sich von einer Stimmung fortreißen lassen wollte, unterdrückte sie gewaltsam dieses sehnsuchtsvolle Flügelschlagen ihrer Seele.
So kam es, daß Ursula Drenck – so hübsch sie war – bei den jungen Herren der Gesellschaft bald nicht übermäßig beliebt war: Kalt, vollständig temperamentlos – tödlich ernst – das waren so die Urteile, die über sie im Umlauf waren. Ursula merkte das alles nur zu gut, und zu der stillen Resignation ihres Innern trat noch eine leise Bitterkeit: Sie hatte es ja gewußt – sie paßte nicht hierher! Wäre sie nur nie erst aus ihrer Einsamkeit herausgetreten!
In dieser Seelenverfassung hatte Jörg Wigand Ursula kennen gelernt, und was auf die anderen erkältend gewirkt hatte, das zog gerade ihn lebhaft an. Denn er fühlte sich ihr vom ersten Augenblick an im Innersten verwandt.
Auch der Grundzug seines Wesens war ein tiefer, vorzeitiger Ernst. Früh verwaist, hatte Jörg gelernt, sich allein durch die Welt zu finden. Große Festigkeit und schnelle Reife waren auf der einen Seite die Früchte davon gewesen, auf der anderen ein still verschwiegenes, aber um so tieferes Sehnen nach Liebe und Güte, die er so lange hatte entbehren müssen.
So gestimmt, fand er wenig Gefallen an den bevorzugten jungen Damen der Gesellschaft, deren oberflächliches, ewig lachendes Wesen ihn abstieß; dagegen suchte und ahnte er sofort bei Ursula ein gleichgestimmtes Empfinden, tiefes Verstehen. Allmählich kamen sie sich so immer näher.
Als das Mädchen sich davon überzeugt hatte, daß hier ein Mann vor ihr stand, ganz anders als die anderen, voll Charakter, voll Reinheit und Zartheit des Empfindens, von einer verehrungsvollen Hochachtung vor den Frauen, und zu allem: ein Einsamer wie sie selber – da erschloß sie auch ihm ihr innerstes Wesen. Und so fanden sich ihre Herzen: Aus dem warmen Mitleid mit ihrer freudlosen Jugend blühte bei ihm eine tiefe, innige Liebe auf, bei ihr aus der Dankbarkeit für seine Teilnahme, aus der Achtung vor seiner hohen, idealen Gesinnung und der Bewunderung seiner überlegenen geistigen Reife.
Der Major konnte diesen Herzensbund nur aus vollster Überzeugung gutheißen. Er konnte sich für sein Kind, das der festen, führenden Hand eines ernsten Mannes bedurfte, keinen besseren Lebensgefährten wünschen. Freilich war Wigand ja im Augenblick noch nicht in der Lage einen Hausstand zu gründen. Ein noch junger Arzt, der freilich bereits die besten Aussichten auf eine gute Praxis hatte, mußte er noch einige Jahre warten, ehe er ein für eine Familie ausreichendes Einkommen hatte. Aber beide waren ja noch jung, so konnten sie getrost noch ein paar Jahre warten und sich inzwischen einander anzupassen lernen.
Der Brautstand, der nun schon über ein Jahr dauerte, hatte in Ursula einen bemerkenswerten Wandel, ein frohes Aufblühen mit sich gebracht. Nun war ja mit einem Male warmer, freundlicher Sonnenschein auch in ihr Leben gefallen, und eine hoffnungsselige Zukunft dämmerte da hinten in der Ferne. Da blühte alles in ihr dankbar dem neuen Licht entgegen, und die alten, bangen Schatten ängstigten ihre Seele nicht mehr.
Sie fühlte sich ja nun geborgen, und wollte ihr wirklich einmal die Angst vor ihr selber kommen, so flüchtete sie sich schnell an die Brust des Mannes, den sie als ihren starken Schützer und Führer fast schwärmerisch verehrte. Wie oft zog sie in aufwallendem Empfinden glückseliger Dankbarkeit nicht seine Hand, eh' er's noch wehren konnte, an ihre Lippen und flüsterte ihm zu: »Du Lieber, Einziger! Wie gut du bist – wie klug! Daß du gerade mich genommen hast! Werde ich dir denn nun wirklich auch genügen können?«
So brachte die Wartefrist den Verlobten ein tiefes, inniges Glück. Freilich kein ganz unbewölktes. Bei all der Harmonie ihres Empfindens zeigten sich doch auch bisweilen Verschiedenheiten ihrer Charaktere, die bei der Offenheit ihres Wesens gelegentlich auch zu einer Auseinandersetzung und vorübergehenden Verstimmung führten.
Gerade weil Jörg äußerst zart in seinem Empfinden gegen andere war, erwartete er umgekehrt aber auch ein gleiches, ganz besonders aber von der Verlobten, die er auf Händen trug. Es verletzte ihn daher empfindlich, wenn er einmal merken mußte, daß Ursula ihn nicht so zart behandelte, wie er es erwartet hatte.
Je mehr aber Ursula wieder in der Sonne seiner Liebe aufzuleben begann, je mehr entwickelte sich leise, ihr selbst unmerklich, jener geheime Trieb zu sorglos heiterer Lebensauffassung, den sie schon ausgerottet wähnte. So empfand es Jörg manchmal schmerzlich, daß in gewissen Momenten ihr tiefes Empfinden versagte, wo er das früher nie beobachtet hatte, daß sie leicht über eine Sache hinwegglitt, die er nur schwer in sich verarbeitete. Zwar waren das nur immer flüchtige Augenblicke, die bald durch Stimmungen glücklichen Verstehens wieder in Vergessenheit gebracht wurden; aber sie kehrten doch immer wieder, und sie mehrten sich, so schien es ihm.
Durch all das schon überempfindlich und reizbar geworden, hatte Wigand eben Ursulas Wesen tiefer verletzt, als es sonst wohl geschehen wäre. Aber er begann nun, in den Augenblicken, wo er schweigend dem Major gegenübersaß, nachzudenken, ob er ihr nicht irgendwie doch unrecht getan hätte. Absolute Ehrlichkeit auch gegen sich selbst war ein hervorragender Zug seines Wesens; so sagte sich denn Jörg nach kurzem Besinnen, daß seine Verdrossenheit über Ursulas Ausbleiben unberechtigt gewesen war. Aber das mit dem Zimmer wollte ihm noch immer nicht in den Kopf. Nein – da war doch wohl sein Empfinden entschieden im Recht! Und heftig stieß Wigand in trotzigem Verharren den Rauch seiner Zigarre von sich.
Und doch – wenn er die Sachlage unparteiisch erwog, angesichts von Ursulas Vater in seinem ruhigen Ernst, so mußte er sich das Eingeständnis abzwingen: es ging einmal nicht anders! Der Major konnte den einzigen Sohn seines verstorbenen Bruders doch wirklich nicht seinen Empfindungen zuliebe ins Hotel schicken. Und Ursulas Zimmer war das einzig verfügbare im Hause.
Sowie Wigands hitzige Erregtheit verflogen und dieses bessere Erkennen in ihm aufgestiegen war, kam auch der Drang über ihn, das begangene Unrecht sofort wieder gutzumachen. Schnell sprang er daher auf.
»Verzeih, Papa« – wandte er sich, die Zigarre fortlegend, an den Major. »Ich möchte zu Ursel.«
»Na, also schon wieder im reinen?« Ein leises, gutmütigironisches Lächeln überflog die durchfurchten Züge des Majors. Er kannte ja des Schwiegersohns etwas heißblütiges Wesen bereits. »Recht so, mein Junge!« nickte er Jörg zu, der schon dem Nebenzimmer zuschritt.
Gleich darauf trat Tante Marie ins Zimmer. »Wir können essen. Die Kinder nicht hier?« Suchend blickte sich die rundliche, kleine Dame im Zimmer um.
»Werden wohl noch einen Augenblick warten müssen,« meinte mit einem Anflug von Humor der Major und rauchte ruhig einstweilen an seiner Zigarre weiter.
»Wieso?« Die Tante fragte es etwas ungeduldig. Die Suppe drohte ja kalt zu werden.
»Da drinnen« – Drenck wies mit einer Kopfbewegung nach Ursulas Zimmer hin – »wird grad' wieder mal Versöhnungsfest gefeiert.«
»Was? Schon wieder?« Die Tante schlug die Hände zusammen. Dann setzte auch sie sich nieder. »Das finde ich doch aber recht bedenklich, Schwager. Mir wird bisweilen ganz bang' um Ursels Zukunft«, fügte sie leiser, mit besorgter Miene hinzu. »Wenn das jetzt schon so losgeht mit den Meinungsverschiedenheiten!«
»Besser als nachher – wenn's zu spät ist!« Gelassen strich der Major die Asche von seiner Zigarre ab. »Aber die Geschichte ist ja doch nicht so ernst zu nehmen. Sie sind eben beide noch jung und müssen sich gegenseitig abschleifen – besonders das Mädel. Ist ja noch ein reines Kind.«
»Das ist's ja eben,« seufzte die Tante. »Jörg ist ja viel zu ernst und reif für sie. Paß auf, Schwager, das tut nimmer gut! Ich hab's ja gleich damals gesagt« –
»Ach, Unsinn!« Ärgerlich warf der Major seine Zigarre auf den Aschteller hin und stand auf. »Fang doch bloß nicht immer gleich zu unken an, Schwägerin!«
Gereizt legte er die Hände hinter den Rockschößen zusammen und begann eine Beruhigungspromenade durch das Zimmer, ein Anblick der Ruhelosigkeit, der Tante Marie ihrerseits stets nervös zu machen pflegte.
»Ich sage dir: Jörg ist gerade der richtige Mann für das Mädel. Er hat die richtige Hand für sie: fest und doch weich! Scharf herannehmen und doch mal wieder Luft am Zügel geben. Der bringt sie richtig in Gang – verlaß dich drauf!« rief er, vor der Schwägerin stehen bleibend, zuversichtlich aus.
»Na, wenn du denn eine Frau durchaus immer mit 'nem unvernünftigen Tier vergleichen mußt« – des Majors kavalleristischer Lieblingsvergleich kränkte die kleine Dame immer von neuem – »gut! – Aber dann sage ich dir – und so viel versteh' ich doch auch noch von der Pferdebehandlung« – Tante Marie stammte vom Lande – »er ist viel zu hitzig für sie! Ja, wenn er ruhiger wäre, nicht selber immer gleich aufbegehrte – aber so!« Und mit einem vielsagenden Achselzucken ging Tante Marie hinaus, ihre Suppe noch einmal warmzustellen.
* * *
Ursula, die in ihrem Zimmer gerade damit beschäftigt war, auf dem Tisch am Fenster die Photographien neu zu stellen, hörte, wie die Tür aufging und jemand hereinkam. Am kurzen, scharfen Tritt erkannte sie sofort Jörg, aber sie verriet es nicht. Noch grollte der Zorn in ihr über die zu Unrecht erlittene Zurechtweisung. Nun aber fühlte sie seine Hand auf ihrer Schulter, und als dann seine Stimme dicht an ihrem Ohr ein leises Wort der Abbitte sprach, da verflog auch ihr Groll. Einen Augenblick empfanden beide in langem Kuß die Süße verzeihender, junger Liebe. Dann bat sie innig, an seine Schulter geschmiegt:
»Jörg, sei nie wieder so zu mir! Ich bitte dich flehentlich: faß mich nicht hart an! Ich fühle es, in mir steckt ein Stolz, ein Trotz, der sich aufbäumt, wenn man ihn mit Füßen tritt. Sei immer gut und zart zu mir, dann will ich wie Wachs in deiner Hand sein.«
Die leisen Worte, ihre fast ängstlich flehenden Blicke rührten ihn. Mit innigem Ansichziehen versprach er ihr es. Dann aber machte sie sich frei – wieder strahlend froh.
»Und nun sieh dich mal um!« Mit Stolz wies sie ihm das Stübchen, das sie möglichst einem Herrenzimmer gemäß umgestaltet hatte. »Sieht es nicht riesig gemütlich hier aus? Fred wird sich wohl fühlen, denk' ich – nicht?«
Wigand bemühte sich ehrlich, an ihrer Freude teilzunehmen und versöhnlicher an den Vetter zu denken.
»Das sollt' ich meinen,« nickte er.
»Ach, Jörg, ich bin ja so glücklich, daß Fred kommt! Das wird ja zu reizend! Der bringt gleich eine ganz andere Luft ins Haus. Du sollst mal sehen, wie der Papa aufzuheitern versteht – gar nicht zum Wiedererkennen, sag' ich dir! Und auch dir wird er gefallen, paß auf! Er ist ja so ein lieber, prächtiger Kerl.«
Wigand empfand zwar eher eine gerad' gegenteilige Überzeugung gegenüber ihrer begeisterten Lobpreisung des Vetters, aber er bezwang sich.
»Nun, an mir soll es nicht liegen,« versicherte er ruhig. »Ich will ihm ohne Vorurteil gegenübertreten.«
»Ohne Vorurteil?« Sie sah ihn an und nahm ihn, hell lachend, bei beiden Ohren. »Als ob dir Fred schon – Gott weiß was – getan hätte! Wenn man nicht wüßte, was für ein seelensguter Mensch du bist, man könnte ordentlich wütend werden auf dich, du lieber – alter – greulicher – Brummbär!« Und sich auf den Fußspitzen hebend, drückte sie ihm während der letzten Worte jedesmal ihre Lippen auf den Mund.
Jörg umfing sie da plötzlich mit den Armen und zog sie dichter an sich. Ihre zierliche Neckerei ließ seine Liebe heiß aufwallen.
»Wirklich – dein lieber?« – Und aus nächster Nähe senkte sich sein Blick mit leidenschaftlichem Fordern in den ihren.
Das Mädchen schloß unter diesem Blick die Augen, und ihre Hände glitten über sein Gesicht, daß die weichen Spitzen der feinen Finger mit sanftem Druck seine Lider zudrückten.
»Ja – du!« Leise hauchte sie es und drängte sich unwillkürlich dem Geliebten entgegen, in stummer Bekräftigung des sie durchströmenden Empfindens.
Da riß er sie plötzlich wild hoch, ihre ganze schlanke Mädchengestalt mit den Armen umfangend, daß ihr in jähem, süßem Erschrecken fast die Sinne schwanden, und mit heißem Atem schlugen ihr seine Worte ins Ohr:
»Du mußt mich lieb haben – du mußt! Ich kann dich ja nicht missen, du mein ein und alles! Mein Sonnenschein du!«
Das Mädchen durchschauerte es selig. So hatte sie ihn noch nie gesehen; noch nie hatte er ihr die ganze Tiefe und Leidenschaftlichkeit seines Empfindens so unverhüllt gezeigt. Ein jubelndes Glück, freudiger Stolz mischten sich ihr in das instinktive dunkle Angstgefühl, das sie bei diesem Ausbruch der Mannesleidenschaft überfallen hatte. Ihre Arme umschlangen plötzlich den, dem sie entfliehen wollte, und selbstvergessen entrang sich ihr das Geständnis.
»Dein, Jörg – ewig dein!«
Mit einem Sturm von Liebkosungen dankte er ihr das beglückende Wort. Dann aber entriß sie sich seinen Armen und flüchtete sich, das verwirrte Haar eilends ordnend, zu den andern ins Wohnzimmer.
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»Was ist dir denn bloß, Liebster? Du sprichst ja kein Wort mehr!«
Unterm Tisch fühlte Wigand bei den leis geflüsterten Worten Ursulas den lebhaften Druck ihrer warmen, weichen Hand auf seiner Rechten, die die Serviette auf dem Schoß hielt. In der Tat hatte Wigand die letzten Minuten schweigend neben ihr gesessen und gedankenverloren, mit gefurchter Stirn in dem fröhlichen Geschwirr der Tafelunterhaltung ringsum vor sich hingeblickt.
Nun sah er auf, bestrebt, mit einem Lächeln seine wahren Empfindungen zu verbergen.
»O nichts!« Er strich seine Serviette glatt. »Ein ernster Fall in der Praxis ging mir nur gerad' durch den Kopf.«
»Gott sei Dank!« Erleichtert und wieder froh preßte sie noch einmal seine Hand. »Ich dachte schon, du wärst böse auf mich, weil ich mich so lange mit Fred unterhalten habe.«
Sein Blick flog unwillkürlich einen Moment hinüber zu dem jungen Ulanen Ursula gegenüber, der eben mit lachender Miene angelegentlich zu seiner Tischdame sprach. Wie ein noch fernes Wetterlohen zuckte es in diesem Blick auf, unbemerkt von denen, denen es drohte.
In der Tat, Ursula und der Vetter hatten da eben wohl zehn Minuten lang, Auge in Auge versenkt, mit strahlenden Gesichtern geplaudert, ganz verloren in gemeinschaftliche Jugenderinnerungen, von denen Jörg nichts wußte. So hatte er denn recht überflüssig dabei gesessen, ohne daß die beiden im unbewußten Egoismus ihres Frohsinns auch nur den Versuch gemacht hätten, ihn in die Unterhaltung zu ziehen.
Aber das war ja nur ein Glied in einer langen Kette von schmerzlichen Erfahrungen, die Wigand in diesen letzten acht Tagen hatte machen müssen, wo der Vetter nun schon bei ihnen zu Besuch war. Die Erscheinung Alfred Drencks hatte auf Ursulas Wesen noch weit schlimmer gewirkt, als Jörg es befürchtet hatte. Seine Braut stand ganz unter dem Bann von Freds Persönlichkeit. Es war, als ob er, wie mit einem Zauber, jene zweite, bisher unterdrückte Natur in ihr plötzlich zu stärkstem Leben erweckt hätte.
Es war wirklich etwas wie ein Zauber über Ursula gekommen. Sie sah in Fred gleichsam eine Verkörperung der Welt ihres geheimsten Sehnens. Der elegante, jugendlich geschmeidige Offizier mit seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit gegen Frauen, seinem sieghaften, fast kecken Auftreten, seinem stets lachenden Frohsinn, der so leicht mit fortriß – er wirkte einfach faszinierend auf sie. So hatte sie Fred ja gar nicht mehr in der Erinnerung gehabt; so war er aber auch wirklich noch nicht damals vor vier Jahren gewesen, als sie sich das letztemal gesehen hatten – er noch als Fahnenjunker. Das hatte erst die Verwöhnung durch die Gesellschaft aus ihm gemacht.
Willenlos, mit einem Gefühl von Selbstverständlichkeit gab sich Ursula dem Zauber seines Wesens hin, das in ihr ja nur ein allzu mächtiges Echo weckte. Fühlte sie sich doch seiner Art so im Innersten verwandt: Das war's ja, wonach sie gedürstet, worum sie sich kasteit hatte – diese hellstrahlende, berauschende Lichtflut des Lebens! Und war's denn nun ein Unrecht, wenn sie sich von Fred anstecken ließ mit seiner glücklich sorglosen Art? Hatte ihr doch Jörg selbst gesagt, daß er ihr ihren Frohsinn gönnte! Und war doch Fred ihr Vetter, ihr altvertrauter Jugendkamerad, so daß ja in ihrer Intimität kein Unrecht lag. Sie wollte ja auch nichts weiter von ihm als bloß eine Zeit ungetrübter Fröhlichkeit, jenes glückseligen Flatterns von Freude zu Freude – eine kleine Spanne Zeit voll Festesglanz, der ihr ganzes Leben lang noch nachleuchten sollte! Sie wollte ja nur ein wenig nachholen, worum sie in ängstlicher Askese sich selbst bisher betrogen hatte!
Fred, der auch das Herz des Majors gewonnen hatte – in wehmütiger Erinnerung stieg bei seinem Anblick dem ersten Manne die eigene schöne Leutnantszeit in der Erinnerung auf – wußte es dem Onkel abzuschmeicheln, daß fast jeder Tag seines Besuchs ein neues Fest für die jungen Leute brachte. Wohl hatte Wigand ein paarmal versucht, dem liebenswürdigen Verführer in Ursulas ernstem Interesse ein Paroli zu bieten; aber der alte Drenck hatte ihm schließlich selbst zugeredet, doch einmal fünf gerade sein zu lassen und sich und den anderen die paar Festtage zu gönnen. Freds Urlaub liefe ja nach vierzehn Tagen ab, und dann käme alles wieder ins alte Gleis der Ordnung.
Ebensowenig wie bei dem Major hatte Wigand bei der Braut selbst Glück gehabt. Wenn er mit ernsten, aber innigen Worten Ursula fragte, ob sie denn solch rauschende Freuden wirklich befriedigten, ob sie denn in diesen Tagen beständigen Dahinwirbelns nicht auch den Wunsch nach einer Stunde traulich-ruhigen Beisammenseins mit ihm habe, so war sie ihm stets um den Hals gefallen, hatte seine Fragen mit Küssen erstickt und ihn beschworen, sie doch nicht aus ihrem Glücksrausch aufzurütteln. Er solle doch mittun, ja auch einmal recht von Herzen ausgelassen sein! Sie würde ja selig sein, ihn noch viel lieber haben, wenn sie ihn auch einmal so recht jugendlich sehen könnte!
Mit leisem Weh hatte Jörg es da aufgegeben, sie umzustimmen. Was hätte es ihm auch genützt, wenn er mit einem Machtwort ihre Freuden hätte abschneiden wollen? Wenn sie es nicht aus innerster Überzeugung tat – zwingen wollte er sie nicht. So ließ er denn alles gehen und tat äußerlich auch mit, erforderte doch schon die gesellschaftliche Sitte seine Anwesenheit bei der Braut und Fred. Aber es verließ ihn nie dabei das bittere Gefühl, daß er eigentlich nur die Rolle einer Ehrenwache für die beiden spielte, die sich da, unbekümmert um ihn, ganz von den Wogen rauschender Lust zusammen treiben ließen.
Wie schmerzlich auch Wigand diese Rolle war, so war ihm doch zu Anfang jedes kleinliche Gefühl der Eifersucht fremd gewesen. Wußte er ja doch: was die beiden da verband, das war nur die gemeinsam verlebte Jugend und heiterer Lebensgenuß. Außerdem traute er – Ursula ja ganz selbstverständlich – aber auch Fred niemals einen Mißbrauch der Intimität zu, die er ihnen gewährte. Wenn ihm auch der junge Offizier mit all seiner glänzenden und selbstbewußten Oberflächlichkeit durchaus unsympathisch war, so stand ihm doch seine Ehrenhaftigkeit außer jedem Zweifel.
Seit den letzten Tagen aber waren in Wigand doch ernstere Bedenken aufgestiegen. Er hatte als stummer Beobachter manch übermütiges Wort, manchen noch beredteren Blick unverhohlener Bewunderung Freds für die Cousine aufgefangen. Dieser suchte auch gar nicht zu verbergen, was ihn bewegte.
»Donnerwetter! Mädel – was ist aus dir geworden!« sagte er ihr mit blitzenden Augen ins Gesicht. »Du bist ja ein famoser Kerl geworden – wahrhaftig, einfach famos!«
Und Ursula hatte seine kecke Huldigung mit hellem Lachen hingenommen, sicherlich noch in vollster Unbefangenheit – mein Gott, Fred war doch nicht ernst zu nehmen! – aber doch stieg eine quälende Unruhe in Jörg auf: Was sollte dies gefährliche Spiel? Wer konnte wissen, was da aus dem Scherz schließlich noch für Ernst entstand – wenn auch nur bei dem Vetter, es hätte doch genügt, seine Kreise auch in Ursulas Wesen zu ziehen. Und das war gerade schon aufgerührt genug!
Heute nun, während des Soupers auf dem Ballfest, hatte sich Wigands Unruhe fast schon zur Qual gesteigert. Obwohl Ursula, wie ja selbstverständlich, seine Tischdame war, hatte sie sich fast ausschließlich mit ihrem Gegenüber, Fred, unterhalten, und wie die beiden da in ihrer impulsiven, unbekümmerten Art, getragen von der rosigen Feststimmung, sich ganz ineinander verloren hatten, da hatte Wigand, als der verbittert Draußenstehende, mit seinem geschärften Beobachterblick wahrgenommen, ganz unzweifelhaft, daß Fred – vielleicht sich selbst noch unbewußt! – hell in Flammen stand für seine reizende Cousine. Noch zwar merkte sie es nicht, aber Jörg durfte es nicht erst dahin kommen lassen; es galt jetzt ernstlich, ihre Herzensruhe und seine heiligen Rechte zu schützen!
Aber es mußte das unauffällig geschehen, daß Ursula nicht gerade dadurch erst die Augen geöffnet wurden. Jörg suchte daher die Braut zunächst einmal in eine ernstere Unterhaltung zu ziehen, ihr Interesse von Fred abzulenken. Er begann, in Anknüpfung an seine letzten Worte, von der Zukunft zu sprechen, wenn sie als eine kleine Doktorsfrau ihm auch in beruflichen Dingen treu zur Seite stehen würde.
»Wie traulich könnte ich mir das denken, wenn wir dann so abends still beieinander sitzen, und ich erzähle dir von allem, was ich tagsüber erlebt.«
»Ach ja, Schatzi, das kann wonnig werden!« Zärtlich schmiegte sie sich einen Augenblick mit ihrer Schulter an seinen Arm, daß es ihn freudig durchrieselte. Gottlob, sie war doch noch ganz sein! Aber gerade wie er ihr ein leises Wort der Glückseligkeit ins Ohr flüstern wollte, sah er sie plötzlich mit strahlender Miene Fred zunicken, dessen suchende Blicke sie eben mit hellem Aufleuchten grüßten.
Heißer Grimm schoß Wigand ins Herz. Er hätte dem lockenden Mädchenfänger da an die Kehle gehen können! Unwillkürlich legte er seine Rechte um Ursulas Arm, wie um sie an sich zu ziehen – zu ihm, dem sie gehörte. Im selben Augenblick hob aber der Vetter drüben den Sektkelch, und mit eleganter Bewegung präsentierte er das Glas erst vor Ursula, dann vor Wigand. »Prosit – euer Wohl!«
Schnell erhob auch Ursula ihren Kelch: »Danke – deins!« rief sie glückselig hinüber. Es war ja heute so einzig schön, und alle die Ihren nahmen teil an dieser Freude. Dort oben der Vater und die Tante – sie nickte ihnen strahlend mit rosig erglühten Wangen zu – neben ihr Jörg, sie preßte mit ihrem Arm seine Hand zärtlich an sich, und da drüben Fred, der Jugendvertraute, mit seinem bildhübschen, kecken Leutnantsgesicht und den lachenden Augen. Ein zu lieber Junge!
Und plötzlich schoß es ihr durch den Kopf, daß sich ihr Verlobter noch immer ganz steif »Sie« mit ihm nannte – mit Fred, der doch so gut wie ihr leibhaftiger Bruder war. Doch eigentlich zum Lachen! Ihrem Impuls sofort nachgebend, warf sie den Kopf zu Jörg herum, der eben – dem elenden Zwange gehorchend – mit sehr reservierter Miene flüchtig Fred Bescheid getan hatte.
»Nein, Schatzi, wie lächerlich, daß du und Fred euch noch immer siezt!« Hell lachte sie auf. »Kommt, trinkt doch Brüderschaft, wie sich's gehört.« Und sie winkte vertraulich dem Vetter zu, der ihre Worte gleichfalls vernommen hatte und nun, seiner gutmütig-leichtherzigen Natur nachgebend, fröhlich nickend sofort seinen Kelch frisch füllte zu der zeremoniellen Handlung. Da fühlte sie plötzlich einen heftigen, schmerzhaften Druck an ihrem Arm, wo Jörgs Hand lag, und sah nun ganz erschrocken auf den Verlobten. Mein Gott, wie sah der denn aus? Ganz finster, fast grimmig! Ach, was hatte sie denn nun nur jetzt wieder angerichtet? Ganz ahnungslos in ihrer harmlosen Fröhlichkeit!
Wigand hatte in der Tat einen hellen Zorn auf Ursula. Nun auch das noch: Schmollis mit dem Menschen, dem er sonst was hätte antun können! Und er konnte sich doch nun eigentlich nicht mehr der Aufforderung entziehen, die leider ja so unvernünftigerweise hier, gewissermaßen öffentlich, an ihn gerichtet worden war. Er sah ja auch schon, wie der drüben sein gefülltes Glas erheben und ihm herüberhalten wollte. Er mußte also gute Miene zum bösen Spiel machen.
Schon zuckten auch seine Finger zum Glase hin; da trotzte es aber plötzlich in ihm auf: Nein! Trotz allem nicht! War er so schwach, so charakterlos, sich durch bloße Zufälligkeiten, durch einen törichten Einfall seiner Braut zu einem Schritt zwingen zu lassen, der für ihn seiner Gepflogenheit nach mehr als eine oberflächliche Zeremonie war? Er hatte bisher nur immer Leute geduzt, die ihm innerlich nahe standen, und so sollte es auch bleiben.
Wigand gab sich einen Ruck, und mit einem leichten Lächeln, nicht unfreundlich, aber doch zurückhaltend, verneigte er sich zu Fred hinüber, der gerade das Glas ihm entgegenstreckte.
»Pardon!« bat er leicht. »Ursula hat uns da eben in eine kleine Verlegenheit gebracht. Ich bin überzeugt, Sie denken ebenso wie ich, Herr Drenck, daß ernsthafte Leute lieber erst Schmollis trinken, wenn sie sich bereits längere Zeit kennen. Nicht wahr? Also in diesem Sinne!« Und er trank Fred jetzt zu.
Dem jungen Offizier schoß unvermittelt eine jähe Röte ins Gesicht, und seine Hand mit dem Glas zog sich mit einem Ruck zurück, so heftig, daß der schäumende Trank das Tafeltuch netzte.