Natsu Miyashita
Der Klang der Wälder
Roman
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
Insel Verlag
Ich konnte den Wald riechen. Einen herbstlichen Wald in der Dämmerung, wenn der Wind durch die Bäume fegt und das Laub raschelt. Den feuchten Duft des Waldes bei Einbruch der Nacht.
Nur, da war kein Wald. Und dennoch roch ich das welke Herbstlaub, spürte die sich herabsenkende Dunkelheit, während ich mich doch nur in einer Turnhalle aufhielt.
Der Unterricht war vorbei, die Halle verlassen. Ich wartete am Rand und beobachtete den Mann, den ich gerade hereinbegleitet hatte.
Vor mir stand das Klavier. Imposant, glänzend schwarz, mit geöffnetem Deckel – ein Konzertflügel. Der Mann ging darauf zu. Er warf einen flüchtigen Blick in meine Richtung, aber ich brachte kein Wort heraus. Er schlug ein paar Tasten an und erneut entstieg dem geöffneten Deckel der Duft von warmer Erde und raschelndem Laub. Die Dunkelheit rückte allmählich näher. Ich war siebzehn.
Weshalb der Lehrer gerade mich gebeten hatte, den Besucher in die Turnhalle zu führen, lag wohl daran, dass er mich als Letzten im Klassenzimmer angetroffen hatte.
Ich war im zweiten Semester des Abschlussjahrgangs in der Phase der Zwischenprüfungen, wo sämtliche Clubaktivitäten ruhten. Entsprechend eilig hatten es meine Klassenkameraden, von hier wegzukommen. Ich hatte keine Lust gehabt, ins Wohnheim auf mein einsames Zimmer zurückzukehren und wollte mich stattdessen in die Bibliothek setzen, um zu lernen.
»Hör mal, Tomura-kun«, sprach mich der Lehrer an. »Wir erwarten heute Nachmittag einen Besucher, ich muss aber in eine Dienstbesprechung. Kannst du ihn bitte in die Turnhalle führen? Er kommt um vier. Das wäre nett.«
Ich erklärte mich einverstanden. Es kam häufig vor, dass man mich um Gefälligkeiten bat. Vermutlich wirkte ich einfach hilfsbereit oder wie jemand, der schwer Nein sagen konnte. Vielleicht dachte man auch, ich hätte sonst nichts vor. Zugegeben, das stimmte. Ich hatte reichlich Zeit und keinerlei Verpflichtungen. Auch keine Hobbys. Ich wollte einfach nur den Schulabschluss einigermaßen hinkriegen und hinterher einen vernünftigen Job finden, um mein Leben irgendwie zu meistern. So dachte ich damals.
»Wer kommt denn?«
Der Lehrer, schon im Gehen begriffen, drehte sich zu mir um:
»Der Stimmer.«
Komisch, das Wort hatte ich noch nie gehört. Kam er, um die Klimaanlage zu justieren? Aber wieso musste er dazu in die Turnhalle? Na ja, das konnte mir im Grunde egal sein. Um die Zeit totzuschlagen, verbrachte ich die nächste Stunde im Klassenzimmer, wo ich für den Test am nächsten Tag japanische Geschichte paukte.
Als ich kurz vor vier am Haupteingang eintraf, wartete der Mann bereits an der Glastür. Er trug ein braunes Jackett und hatte eine Art Koffer bei sich.
»Sie kommen wegen der Klimaanlage?«, fragte ich, während ich ihm von innen öffnete.
»Mein Name ist Itadori, von Etō Musikinstrumente.«
Musikinstrumente? Dann war dieser ältere Mann vielleicht gar nicht der Besucher, den ich empfangen sollte? Ich hätte mich beim Lehrer vorsichtshalber nach dem Namen erkundigen sollen.
»Kobuta-san sagte mir, dass er heute wegen einer Besprechung nicht abkömmlich sei. Das ist nicht weiter schlimm. Hauptsache, du zeigst mir den Weg.«
»Sie müssen zur Turnhalle, richtig?«, vergewisserte ich mich, während ich ihm die braunen Slipper für Gäste bereitstellte.
»Ja, heute ist der Flügel dort dran.«
Was hat er denn damit vor?, wunderte ich mich, aber weiter reichte meine Neugierde nicht.
»Hier entlang, bitte.«
Ich ging voran, er folgte mir dicht auf den Fersen. Der Koffer schien einiges zu wiegen. Ich führte ihn bis zum Flügel und wollte mich gleich zurückziehen. Der Mann stellte sein Gepäck auf den Boden und nickte mir zu. Ich dachte, damit sei die Sache erledigt, und verneigte mich ebenfalls, um mich zu verabschieden. In der Halle, wo normalerweise um diese Zeit die Volleyball- und Basketball-AGs lautstark trainierten, war es mucksmäuschenstill. Durch die Oberlichter fiel sanftes Abendlicht herein.
In dem Moment, als ich den Rückweg über den Korridor antrat, ertönte hinter mir der Flügel. Ich blieb stehen und lauschte dem sanften und rhythmischen Klang. Eine tiefe Wehmut erfasste mich, als ich die Töne vernahm, die mir konkret wie greifbare Formen erschienen. Ich empfand sie als ungemein wohltuend, ohne ihr eigentliches Wesen erfassen zu können. So kam es mir jedenfalls vor.
Der Mann beachtete mich nicht und schlug weitere Tasten an. Er spielte nichts Besonderes, sondern schien nur den Klang der einzelnen Töne zu prüfen. Ich blieb eine Weile am Rand stehen, bevor ich erneut auf den Flügel zuging.
Ich schien den Mann nicht zu stören. Er trat einen Schritt von der Klaviatur zurück, um den Deckel zu öffnen. Dieser Deckel … er sah aus wie eine Vogelschwinge. Der Mann hob die Schwinge und befestigte sie mit einem Metallstab. Dann schlug er weitere Tasten an.
In diesem Moment rieche ich den Wald. Die Schwelle des Waldes, bei Einbruch der Nacht. Ich will ihn betreten, halte jedoch inne. Denn der düstere Wald birgt Gefahren. Früher erzählte man mir oft Geschichten von Kindern, die sich im Wald verirrt und nicht mehr zurückgefunden hatten. Man durfte nicht mehr in den Wald, wenn die Sonne unterging, denn das geschah viel schneller, als man tagsüber vermuten würde.
Mein Blick fiel auf den inzwischen geöffneten Koffer. Er enthielt die verschiedensten Werkzeuge. Werkzeuge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Was wollte er damit anstellen? Ich traute mich nicht, ihn zu fragen. Wer fragte, verpflichtete sich. Wenn er mir antwortete, müsste ich wiederum etwas entgegnen. Die Frage schwirrte gestaltlos in meinem Kopf herum, ohne dass ich sie formulieren konnte. Vielleicht weil mir nichts einfiel, was ich anschließend hätte sagen können.
Was haben Sie mit dem Flügel vor? Was möchten Sie mit dem Flügel machen? Oder: Was werden Sie an dem Klavier tun?
Damals hatte ich keine Ahnung, wie ich es am besten ausdrücken sollte. Sogar heute wüsste ich es noch nicht. Aber ich wünschte mir immer wieder, ich hätte ihn gefragt. Ich hätte mich einfach trauen sollen, ihm die entscheidende Frage, die sich mir aufdrängte, zuzumuten, auch wenn sie noch keine richtige Form besaß. Dann wäre es mir später erspart geblieben, immer wieder nach Antworten suchen zu müssen. Sofern mich seine Erklärung zufriedengestellt hätte …
Ich stand also einfach bloß da und schaute ihm schweigend zu, um ihn nicht bei der Arbeit zu stören.
In meiner Grundschulzeit hatten meine Lehrer im Musikunterricht öfter Klavier gespielt, und wir Kinder hatten dazu gesungen. Es hatte dort zwar keinen so imposanten Flügel gegeben wie diesen hier, aber der Klang eines Klaviers war mir seit damals vertraut. Aber nun erschien mir dieses große schwarze Instrument völlig neu. Zumindest erhielt ich zum ersten Mal einen Einblick in das Innenleben unter den geöffneten Schwingen, der mir fast intim vorkam. Es überraschte mich auch, dass die ihm entlockten Töne auf meiner Haut vibrierten.
Ich konnte den Wald riechen. Im Herbst, in der Abenddämmerung. Ich stellte meine Schultasche ab und lauschte den Tönen, die sich nun abwechselten. Zwei Stunden mochten vergangen sein, aber ich merkte nicht, wie die Zeit verstrich. Die Herbsttage wurden allmählich kürzer. Es war Anfang September gegen sechs Uhr abends, noch war es hell und die Luft relativ trocken. Aber im Gegensatz zum verbliebenen Tageslicht in der Stadt, gelangten die letzten Sonnenstrahlen nicht über die hohen Bäume hinweg bis in das abgelegene Bergdorf. Man kann schon den leisen Atem der auf die Nacht lauernden Kreaturen in der Umgebung erahnen. Ein ruhiger, warmer und tiefer Hauch. So klangen die Töne des Flügels.
»Der Flügel ist ziemlich alt.«
Endlich sagte der Mann etwas, wahrscheinlich, weil er bald mit der Arbeit fertig war.
»Er hat einen ganz samtigen Klang.«
Ich nickte bloß, weil ich nicht sicher war, was genau er damit meinte.
»Ein guter Flügel.«
Ich nickte abermals.
»Früher waren die Zeiten in den Bergen und auf den Weiden besser.«
»Wie bitte?«
»Nun ja, die Schafe in den Bergen haben damals gutes Futter zu fressen bekommen«, erklärte er, während er mit einem weichen Tuch den schwarzen Kasten polierte.
Ich erinnerte mich an die Schafe, die in der Nähe meines Elternhauses friedlich auf den Weiden grasten.
»Man konnte hochwertige Wolle von wohlgenährten Schafen für die Herstellung des Filzes verwenden. Heutzutage findet man nicht mehr so gute Hämmer.«
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
»Was haben Hämmer mit einem Klavier zu tun?«, fragte ich.
Der Mann blickte auf. Ein Lächeln umspielte seinen Mund.
»Hier drinnen befinden sich viele davon.« Er deutete auf den Flügel.
Ich konnte mir absolut nichts darunter vorstellen.
»Soll ich sie dir zeigen?«, bot er mir an.
Ich trat näher.
»Sieh mal, wenn man eine Taste anschlägt …«
Der Ton hallte durch den Raum. Ich bemerkte, wie ein einzelnes Element im Korpus hochschnellte und einen gespannten Draht berührte.
»Hier, die Saite wird von einem Hammer angeschlagen. Und dieser Hammerkopf besteht aus Filz.«
Dong … dong … tönte es. Ich konnte allerdings nicht ausmachen, ob es weich klang. Aber es war sechs Uhr abends Anfang September im Wald, wo es bereits dämmerte.
»Fällt dir etwas auf?«
»Sie ist viel deutlicher als vorhin«, erwiderte ich.
»Was meinst du damit?«
»Die Landschaft des Tons.«
Die Landschaft, die der Ton hervorrief, war nun viel klarer zu erkennen. Nachdem der Mann seine Arbeit mit einer Reihe von Handgriffen abgeschlossen hatte, erschien mir die Szene noch lebendiger als beim Anschlag der ersten Taste.
»Ist es eigentlich Kiefernholz, das man für den Klavierbau verwendet?«
Der Mann nickte halbherzig.
»Der Baum heißt eigentlich Fichte, aber es ist schon eine Art Kiefer.«
Etwas mutiger fragte ich weiter:
»Könnten es Kiefern aus dem Daisetsu-Gebirge sein?«
Lag es vielleicht daran, dass ich genau diese Landschaft vor Augen hatte? Diese Szene im Wald? War ich deshalb so ergriffen? Es war nämlich jener Wald dort in den Bergen, der in mir erklungen war.
»Nein, es ist importiertes Holz. Wahrscheinlich aus Nordamerika, denke ich.«
Oh! Damit hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht war es ja so, dass jeder Wald auf dieser Welt Töne hervorbrachte. Waren sie alle bei Einbruch der Nacht so tief und still und irgendwie unheimlich? Der Mann schloss den flügelgleichen Deckel und polierte ihn ebenfalls.
»Du spielst wohl kein Klavier?«
Seine Frage klang ruhig, und ich hätte ihm allzu gern widersprochen. Wie schön wäre es, wenn ich Klavier spielen könnte, um all die wundervollen Dinge wie Wald und Nacht ausdrücken zu können.
»Nein.«
Tatsächlich hatte ich noch nicht einmal eins berührt.
»Aber du magst den Klang, ja?«
Auch dazu konnte ich nichts sagen. Denn an diesem Tag war ich zum ersten Mal darauf aufmerksam geworden. Er scherte sich jedoch nicht weiter um meine Einsilbigkeit, sondern verstaute nach der Politur das Putztuch in seinem Koffer, den er mit einem sanften Klicken schloss. Als er sich mir zum Abschied zuwandte, zog er eine Visitenkarte aus der Jackentasche. Es war das erste Mal, dass ich ein meishi von einem Erwachsenen erhielt.
»Komm doch mal vorbei und schau dir unsere Klaviere an.« Auf der Karte stand der Name des Geschäfts – Etō – und darunter: Soichi Itadori – Klavierstimmer.
»Wirklich?«, fragte ich überrascht. Es konnte ja nicht schaden. Immerhin hatte er den Vorschlag gemacht. Es klang wie eine Einladung.
»Aber sicher.«
Itadori-san nickte lächelnd.
Die Begegnung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Eines Tages suchte ich das Klaviergeschäft auf.
Itadori-san war gerade auf dem Weg zu einem Kunden. Wir gingen noch ein Stück gemeinsam bis zum Parkplatz hinter dem Laden, wo ich ihn dann unvermittelt fragte:
»Würden Sie mich als Lehrling einstellen?«
Itadori-san reagierte weder mit einem Lachen, noch zeigte er sich überrascht, sondern blickte mich nur freundlich an. Er stellte seinen Werkzeugkoffer ab, zog ein kleines Notizheft aus der Jackentasche und kritzelte mit einem Kugelschreiber etwas hinein. Dann riss er die Seite heraus und überreichte mir den Zettel.
Darauf stand der Name einer Schule.
»Ich bin nur ein einfacher Klavierstimmer. Mir steht es nicht zu, einen Lehrling anzunehmen. Wenn du ernsthaft das Handwerk erlernen möchtest, empfehle ich dir dieses Institut.«
Nach dem Highschool-Abschluss konnte ich meine Eltern davon überzeugen, mich auf dieser Fachschule ausbilden zu lassen. Bis heute weiß ich nicht, inwieweit meine Familie Verständnis für mich aufbrachte. In dem Bergdorf, wo ich aufgewachsen bin, begnügte man sich gewöhnlich mit der mittleren Reife. Nach Abschluss der Mittelstufe verließ man die Heimat, um in die Stadt zu gehen. Dieser Weg war vorgezeichnet. Einige der Bergkinder konnten sich mit der neuen Situation des Alleinlebens gut arrangieren und blühten regelrecht auf, während andere von den großen Schulen mit ihren lauten, vollen Gängen regelrecht überwältigt wurden. Entweder fand man Anschluss in der neuen Schulgemeinschaft und fühlte sich wohl, oder man blieb der ewige Außenseiter. Manche gingen dann wieder zurück in ihr Dorf, andere verschwanden völlig von der Bildfläche.
Mein Los war das Klavierstimmen, das mir den Duft der Wälder offenbart hatte. Ich konnte nicht mehr in die Berge zurück.
Das erste Mal in meinem Leben verließ ich die gewohnten Pfade. Die Fachschule für Klavierstimmer befand sich auf der Hauptinsel Honshū, die Ausbildung umfasste vier Semester. Zwei Jahre also brachte ich in dem nüchternen, an eine Pianowerkstatt angegliederten Unterrichtsraum zu, allein um die Technik des Klavierstimmens zu erlernen. Wir waren zu siebt.
Von früh bis spät widmete ich mich voll und ganz dem Studium. Im Sommer war es brütend heiß, im Winter bitterkalt. Die Praxis wurde von der Pike auf gelehrt, bis hin zur kompletten Wartung eines Klaviers inklusive Lackpflege. Man stellte uns herausfordernde Aufgaben, mit denen ich mich bis spät in die Nacht herumschlug und die mich oft deprimiert zurückließen, weil ich mir nicht zutraute, sie jemals zu meistern. Hatte ich mich etwa über die Schwelle des furchterregenden Waldes gewagt, wo man sich heillos verirrte und nie mehr herausfand? Dieser Gedanke versetzte mich regelmäßig in Panik. Vor mir nur dichtes Gestrüpp, Dunkel.
Und doch empfand ich seltsamerweise keinen Widerwillen. Der Duft des Waldes würde wohl niemals einem der von mir gestimmten Klaviere entsteigen, aber ich konnte ihn nicht vergessen. Allein das war Ansporn genug, um die zweijährige Ausbildung abzuschließen. Ich konnte zwar weder Klavier spielen, noch besaß ich das absolute Gehör, aber immerhin war ich nun in der Lage, den Kammerton a' auf der neunundvierzigsten Taste auf 440 Hertz zu stimmen.
Um davon ausgehend den Aufbau der gesamten Tonleiter zu beherrschen, was mir mit Ach und Krach gelang, hatte es immerhin zwei Jahre gebraucht, die für mich jedoch wie im Fluge vergangen waren.
Wir alle bestanden die Prüfung tadellos, und ich fand zu meinem Glück in der Stadt nahe meines Heimatdorfes eine Anstellung bei Etō, dem Instrumentenhandel, für den auch Itadori-san arbeitete. Zufällig hatte gerade einer der Klavierstimmer dort gekündigt.
Die Firma hatte sich hauptsächlich auf Klaviere spezialisiert. Der Geschäftsführer, Etō-san, war selten da. Es war ein relativ kleiner Laden mit lediglich zehn Beschäftigten. Außer uns vier Klavierstimmern gab es noch weitere Angestellte am Empfang, im Büro und im Verkauf.
Das erste halbe Jahr dort verbrachte ich im Laden mit den Aufgaben eines Lehrlings: Telefonanrufe entgegennehmen, Schriftkram für den Musikunterricht erledigen, der parallel zum Verkauf angeboten wurde, Instrumente verkaufen und Kunden beraten. Wenn dann noch Zeit blieb, durfte ich an den Klavieren das Stimmen üben.
Im Erdgeschoss befand sich der Ausstellungsraum mit vier Klavieren und zwei Flügeln und einer Nische, wo Noten und Bücher zum Verkauf angeboten wurden. Des Weiteren gab es zwei kleinere Unterrichtsräume und einen bescheidenen Aufführungssaal für einige Dutzend Zuhörer.
Wir hielten uns jedoch für gewöhnlich im Büro im ersten Stock auf. Dort gab es außerdem ein Besprechungszimmer und einen Empfangssalon. Der Rest der Etage wurde als Lager genutzt.
Bis zum regulären Dienstschluss hatte ich immer alle Hände voll zu tun, sodass ich erst am späten Abend dazu kam, das Stimmen zu üben.
Nachts ist es hier totenstill. Ich hebe den Deckel an. Eine unbeschreibliche Ruhe überkommt mich, meine Sinne sind offen und empfänglich, während ich zugleich tief in mich hineinhorche. Die Stimmgabel erklingt.
Pling! Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Saite für Saite weise ich die Töne zu, habe jedoch das Gefühl, dass es nie ganz hinhaut. Die Schallwellen lassen sich nicht einfangen. Die Zahlenwerte, die, mit dem Tuner gemessen, eigentlich korrekt sein sollten, scheinen immer leicht zu schwanken. Von einem Klavierstimmer wird eben mehr erwartet, als nur die Töne abzugleichen. Er muss ein Gespür für die Vibrationen und die Interaktion der einzelnen Töne untereinander entwickeln.
Aber genau an diesem Punkt scheiterte ich. Ich strampelte im Pool, in den ich hineingesprungen war, um zu schwimmen. Ich plantschte nur herum, kam jedoch keinen Deut voran.
Itadori-san traf ich so gut wie nie. Er kam nur selten ins Büro. Die meiste Zeit stimmte er Flügel in Konzertsälen oder besuchte Privatkunden. Kurzum, er war so beschäftigt, dass er oft direkt von den Terminen nach Hause fuhr und ich ihn wochenlang nicht zu Gesicht bekam.
Ich hätte gern mehr technische Unterweisung von ihm erhalten und wollte ihm unbedingt beim Stimmen zusehen. Und noch mehr wünschte ich mir mitzuerleben, wie er dabei jedem Klavier seine spezifische Klangfarbe entlockte.
Offenbar las er meine Gedanken, denn bevor er zu seinem nächsten Kundenbesuch aufbrach, rief er mich kurz zu sich.
»Nur nichts überstürzen. Immer eins nach dem anderen. Schritt für Schritt.«
Ja, erwiderte ich. Schritt für Schritt … meine Reife zum Klavierstimmer stellte sich immer mehr als gigantisches, langwieriges Unterfangen heraus.
Ich war froh, dass Itadori-san mir Beachtung schenkte, aber das reichte mir nicht. Ich rannte hinter ihm her, als er das Geschäft verließ.
»Aber welche Schritte muss ich denn gehen? Und welcher Weg ist der richtige?«, fragte ich verzweifelt, noch ganz außer Atem. Itadori-san schaute mich verwundert an.
»Beim Klavierstimmen gibt es nicht den einen Weg. Und auch kein richtig oder falsch.«
Er nickte einige Male kurz mit dem Kopf, als würde er sich selbst beipflichten.
»Schritt für Schritt … eins nach dem anderen«, wiederholte er, während er die Tür aufschob, die zum Parkplatz führte.
Schritt für Schritt … eins nach dem anderen? Ich hielt ihm die Tür auf.
Er sah mich prüfend an.
»Man sollte nie versuchen zu rennen, bevor man gehen kann.«
Beharrlich, eins nach dem anderen, stimmte ich weiterhin die Klaviere im Geschäft. Ich nahm mir jeden Tag eines vor. Sobald ich alle durchhatte, widmete ich mich wieder dem ersten, wobei ich diesmal die Tonhöhe leicht veränderte.
Mir wurde gesagt, dass ich erst nach einem halben Jahr immerwährenden Übens so weit sein würde, das Klavier eines Kunden zu stimmen. Der Mitarbeiter, der vor meinem Eintritt aus der Firma ausgeschieden war, hätte sogar viel länger gebraucht. Er sei erst nach anderthalb Jahren dazu in der Lage gewesen.
Es war mein sieben Jahre älterer Kollege Yanagi-san, der mir das erzählte.
»Er hatte die gleiche Ausbildung wie du, aber nicht jeder ist für diese Aufgabe geschaffen.«
Das erschreckte mich. Was, wenn auch ich der Sache nicht gewachsen wäre?
»Es zählt eben nicht bloß die Technik, um ein guter Klavierstimmer zu sein.«
Dabei klopfte er mir auf die Schulter.
Ich hatte ja nicht einmal Vertrauen in meine Technik. Zwar hatte ich eine rigorose Ausbildung hinter mir, beherrschte jedoch gerade mal die Grundlagen. Wenn ich vor einem verstimmten Klavier stand, konnte ich lediglich die unsauberen Töne identifizieren und ihre Frequenz neu anpassen, um eine harmonische Tonleiter herzustellen. Niemand wusste besser als ich, wie beschränkt meine Kenntnisse waren. Mir mangelte es nicht bloß an technischer Routine, sondern ich hatte auch nicht die leiseste Ahnung von den weiteren Feinheiten, die das Stimmen überdies ausmachten.
Yanagi-san hatte mir den Kummer wohl angemerkt, als er mich mit einem Lächeln aufzumuntern versuchte:
»Kopf hoch, mein Lieber. Das wird schon. Du musst einfach selbstsicher auftreten, sonst wird der Kunde leicht misstrauisch.«
»Tut mir leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Wie gesagt, ein bisschen mehr Selbstvertrauen tut es schon«, sagte Yanagi-san amüsiert.
Er war zwar älter als ich und erfahrener, aber mir gegenüber nie überheblich oder besserwisserisch. Das rechnete ich ihm hoch an. Da ich die meiste Zeit meines bisherigen Lebens in einer kleinen Dorfgemeinschaft zugebracht hatte, durchschaute ich das System sozialer Hierarchien noch nicht so richtig. Es gab immer irgendwelche Machtgefälle in Beziehungen, die es zu berücksichtigen galt. Zwischen Älteren und Jüngeren, Stadt- und Dorfbewohnern. Ich wusste zwar darum, tat mich aber schwer, mich in diesen Hierarchien zurechtzufinden.
Ich widmete mich also beharrlich weiter dem Stimmen von Klavieren, und ebenso beharrlich hörte ich mir Alben mit Klavierstücken an.
Bis zu meinem Schulabschluss hatte ich so gut wie keine Beziehung zu klassischer Musik gehabt. Mir hatte sich damit eine ganz neue Welt eröffnet. Schon bald wurde ich geradezu süchtig danach und schlief nachts regelmäßig mit Klaviermusik von Mozart, Beethoven oder Chopin ein. Ich wollte so viele Kompositionen und Interpreten wie möglich kennenlernen und fand kaum die Zeit, ein Stück einmal in zwei verschiedenen Einspielungen im Vergleich zu hören. Wenn es sich doch einmal ergab, war mir stets die Version, die ich als Erste gehört hatte, die liebste, ganz wie ein frisch geschlüpftes Küken das Wesen, das es zuerst erblickt, für seine Mutter hält. Selbst bei sehr eigenwilligen Interpretationen, wo beispielsweise das Tempo drastisch abwich, ging es mir so.
Wann immer ich die Zeit fand, stellte ich mich vor eins der Klaviere im Verkaufsraum, hob den Deckel und inspizierte sein Innenleben. Eine Klaviatur besteht aus achtundachtzig Tasten, die in der Mittellage so wie im Diskant mit jeweils drei Saiten verknüpft sind, in der tieferen Lage jedoch nur mit zweien beziehungsweise mit einer am Ende. Jedes Mal lief mir ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken, wenn ich die exakt in einer Reihe angeordneten Hämmer erblickte, die nur darauf zu warten schienen, wie Magnolienknospen auf die straff gespannten Stahlsaiten zu treffen. Ein Wald, in dem alles in Balance zueinander steht, ist vollkommen in seiner Schönheit. ›Schön‹ war für mich ein ebenso neuer Begriff wie ›richtig‹. Vor meiner Begegnung mit dem Klavier habe ich nie auf schöne Dinge geachtet. Was nicht heißen soll, dass es sie nicht gab. Ich war sogar von einer Menge schöner Dinge umgeben. Sie sind mir nur nicht bewusst als ›schön‹ aufgefallen. Zum Beispiel der Milchtee, den meine Großmutter mir zubereitete, als ich noch zu Hause wohnte. Sie brühte ihn in einer Kasserolle auf, goss Milch hinzu, wodurch er eine Farbe annahm, die einem schlammigen Fluss nach einem sintflutartigen Regen ähnelte. Ich stellte mir dann vor, dass sich kleine Fische am Grunde des kleinen Topfes versteckt haben könnten.
Ah, warmer Milchtee! Fasziniert beobachtete ich die strudelnde Flüssigkeit, wenn sie in meinen Becher gegossen wurde. Das fand ich schön.
Oder die gerunzelte Stirn eines schreienden Babys. Die Furchen, die in seinem knallroten Gesicht entstehen, wenn es aus Leibeskräften brüllt, erschienen mir wie eigenständige Wesen mit einem überaus starken Lebenswillen. Auch das empfand ich als schön.
Und die Baumblüte. Wenn in den Bergen später als anderswo endlich der Frühling ausbricht und es auf einen Schlag überall zu knospen beginnt. Erfüllt von der Farbe unzähliger, rötlich schimmernder Zweige, scheinen die Berge aus sich heraus zu leuchten. Jedes Frühjahr erlebte ich dieses Schauspiel. Überwältigt von den geisterhaften Flammen der glühenden Berge stand ich einfach nur da. Diese Reglosigkeit erfüllte mich mit Glück. Innehalten und tief Luft holen, weiter nichts. Mein Herz klopfte vor lauter Vorfreude: Der Frühling war da, bald würde aus den Zweigen junges Laub üppig sprießen.
Auch heute ist es noch so. Wenn ich etwas atemberaubend Schönes erblicke, stehe ich da wie gebannt.
Bäume, Berge, Jahreszeiten – all das war schön. Es befreite mich, ein Wort dafür zu haben, denn nun konnte ich diese Dinge als ›schön‹ bezeichnen und mit anderen teilen. Ich trug eine Schatztruhe in mir und musste nur den Deckel öffnen. All die Dinge, die ich bisher nicht als schön zu definieren wusste, tauchten nun überall in meiner Erinnerung auf. Frei und leicht wie das Aufsammeln von Eisenspänen mit einem Magneten. Ich staunte, dass etwas wie das Schimmern von Knospen und das anschließende Sprießen von Blättern gleichsam banal und schön sein konnte. Banal und dennoch wundersam. Ich weiß nun, dass sich einem hinter jeder Ecke etwas Schönes eröffnen kann, nur erwarten darf man es nicht. So wie damals in der Turnhalle nach dem Unterricht. Wenn ein Klavier solch ein Wunderwerk ist, das unsichtbar Schönes aufgreifen und ihm eine hörbare Form verleihen kann, dann möchte ich mit Freuden sein Diener sein.