Paul Nizon
Der Nagel im Kopf
Journal 2011-2020
Herausgegeben und mit
einem Nachwort von Wend Kässens
Suhrkamp Verlag
»Und hier das Glühlicht einer Verlockung,
hurra coraggio.«
Jahreswechsel 2010/11, Bern
Die Straße versank jetzt in der winterkalten Schwärze, noch nicht ganz, doch die Drohung bestand, und nur das erleuchtete Schaufenster (von Bergers Früchte- & Gemüsegeschäft) glomm schwächlich wie ein Markierlicht an einer Felsklippe. Und das Treppenhaus ringelte sich an den niemandem gehörenden Fenstern der verschiedenen Stockwerke entlang, und das Treppenhaus strömte Kälte aus. Und das Kind erklomm die Stiegen und empfand gleichzeitig den Stich der Bosheit, der hinter den verschlossenen Wohnungstüren nach ihm pickte, und ein Wohlbehagen, nicht nur im Sicheren zu sein, sondern sozusagen an der Brust geheimnisvoller Wonnen. Die Wonnen waren das Versprechen an Lebensguthaben, schönem, berückendem Zukunftsgeheimnis, wobei zum Geheimnis all die unterm selben Dach wohnenden bekannten wie unbegreiflichen Hausbewohner mit ihren so anderen Leben und Möbeln zählten. Und Mädchenversprechen und kommende Tagesvergnügen wie Leckerbissen und Schleckereien. Und über allem die Dämpfe des Geheimnisses. Und im eigenen Wohnungsinneren die Vielfältigkeit der Hauptpersonen, Dramatis Personae. Es war das Unbekannte, das den Kleinen erregte.
Und wie das unerprobte Geheimnis des Geschlechtlichen einen erregte. Es war ein Rumoren im Leibe. Unter den Pensionären, die unsere Wohnungen besetzt hielten, geisterten Frauenzimmer, junge, anziehende, fremde Frauen, der Junge weiß nicht, ob sie eine Schule besuchen oder bereits einen Beruf ausüben, vor allem stiften sie Verwirrung in seinem Kopfe. Er beobachtet, verfolgt sie. Die eine hat er auf ihrem Zimmer besucht und eigentlich angefallen. Sie rannten um den Tisch, es sah nach einem Spiel aus, und dann grapschte er nach ihrem Leib, ihrem Kleid und warf sie aufs Bett und er über ihr. Sie hatte die faulsten, wie verklebten Augen, Tieraugen, die auch im Dunkeln sahen, wie er sich vorstellt. Und die ganz junge Frau strömte pure Sexualität aus.
Nun, er auf ihr, auf ihren Weichheiten. Und was dann? Er weiß es ja nicht, und sie hat ihm nicht geholfen. Sie hat ihn zurückgestoßen, wohl aus dem aufkeimenden Wissen, dass sie es mit einem Kinde zu tun hat, einem Knäblein.
Auch die Alarmierung durch den weiblichen Lockruf gehörte zu dem Aufwachsen im Hause mit dem sich ringelnden Treppenhaus. Eigentlich wartete er nur die Reife ab, bis es so weit wäre. Die Röcke sorgten für die benommenen Sinne und die ganze Verwirrung. Auch dieses Bangen, auch die schwelende Hörigkeit, auch dieses Versprechen gehörten zum Haus, zum Heimwehhaus, zum Heranwachsen. Und draußen die Nacht wie schaukelnde Fetzen am Lampenschein der Laternen. Hitze und Beklommenheit. Angst.
März 2011, Paris
Es ist Ende März, die Knospen längst gesprungen, jetzt stehen die Bäume in diesem hellen glücksprühenden jungen Grün. Ich stelle fest, dass ich seit langem, seit Wochen einfach gar nichts mehr aufschreibe, ich bin abgenabelt von der Maschine, der Schreibtätigkeit. Stattdessen lese ich, im Augenblick Serge Doubrovsky auf Anraten Michel Contats, nicht schlecht, ziemlich nahe an meiner Domäne, er ist ja der Erfinder des Autofiktionsbegriffs – wie ich; aufregend die Frauen, der Sexus, das Begehren, dieser Kontinent, da erkenne ich mich selber heftig wieder. Und dann teile ich mit ihm das Erleben und die Schrecken des Alters, er ist 1928 geboren. Mit jedem Buch habe er eine Frau umgebracht; erinnert an Bojarek Garlinski (die großen Bücher seien auf dem Fleisch oder Leichnam der Geliebten geschrieben).
Woher die radikale Schreibhemmung? Ich leide unter einer Art Schlafsucht, Ermüdung, es muss sich um Flucht handeln, Flucht in den Schlaf, Depression. Gestern war ich bei Leborgne, dem Hausarzt an der Place des Victoires. Er meinte, ich solle mich vom Schreibleistungsprinzip freisprechen und nichts tun, wenn möglich Urlaub nehmen. Urlaub von mir? Wenn ich mit Leuten zusammen bin, z. B. Jocks, Lukas Balthasar (Enkel von Milo Albisetti), Barbara Weber und Daniel Binswanger, Hans Christoph Buch – ich zähle die letzten Besucher auf –, dann bin ich lebhaft bis spaßhaft, sehr aufmerksam und keineswegs abgestellt, ich habe nur diese teuflische Angst vor dem Arbeitstisch und der entsprechenden Konfrontation mit dem Leichenweiß des Blattes.
Odiles Verzweiflung. Sie steckt voller bitterer Vorwürfe mich betreffend, ich habe für sie ja nie Sorge getragen, wir gingen so verdammt strikt getrennte Wege, nachdem sie aus dem jungen Liebesnest geflüchtet und ins Studium und danach ins Erwerbsleben eingetreten und mir verloren gegangen war. Ich verachtete ja die Werbemenschen über alles, wie ich alle Angestellten verachtete und nur die schöpferisch Tätigen, also Künstler, gelten ließ. Und ich war ja noch vor dem wirklichen Durchbruch. Ich fand es nur natürlich, dass die Familieninteressen und Odiles Erwerbsleben nach meinem künstlerischen Feldzug rangierten. Heute sagt sie, das Kreuz sei der große Altersunterschied. Mit Altersunterschied meint sie den Ort der Entwicklung und die Position im Leben. Bei ihr war alles Anfang, Erkundung, Mutprobe, Experiment. Ich war ihr keine Hilfe. Ich blieb in meiner exquisiten Isolation/Abkapselung, dem schöpferischen Wahn und Amok und erwartete nicht nur Ermutigung, sondern Unterstützung, ja Aufopferung. Und meine Arbeit konnte ich ja weiß Gott nicht mit ihr oder sonst wem teilen. Ich ließ mir nicht in die Karten schauen, ich verzog und verkroch mich in meine Ateliers, und wenn es an die »Front«, zu Lesungen, Kongressen, öffentlichen Auftritten ging, fuhr ich allein. Wenig Gemeinsamkeit. Es gab so gut wie keine Allianz. Eine bittere Bilanz.
Anruf von Actes Sud, Contats Kritik des Journals ist erschienen, wie im Figaro (Beigbeder) wird die literarische Qualität oder Bedeutung in großer Höhe angesetzt, weiß der Himmel, woher die Superlative. Dass ich ein überaus finsteres Tal durchquere, ist nicht zu leugnen. Und vor dieser Realie kommt mir der Triumph meiner Literatur mehr als nur seltsam vor.
16. April 2011, Osterwoche, Paris
Vorgestern in Straßburg gewesen, Buchhandlung Kléber, großer Saal im Obergeschoss zwecks Gespräch und Leseproben aus dem Journal Les Carnets Du Coursier, angekündigt als einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller mit Nobelpreis-Aussichten, in Umlauf gebracht durch Beigbeders Kolumne im Figaro-Magazin und Contats großer, höchstwohllöblicher Kritik in Le Monde rund um die Lesung. Und dann der stockende Dialog mit einem entweder unbedarften oder aber von mir eingeschüchterten jungen Gesprächspartner.
Vom Markt habe ich zehn wunderbare zottelige Tulpen heimgebracht, weiß mit grünlichem Geäder, sie sind nicht zottelig, sondern ausgefranst.
22. Mai 2011, Paris
Sonntag, ich merke, wie nötig mir ein Atelier wird, denn immer, wenn ich mich an den Tisch setze, werde ich von den Stößen unerledigter Post oder anderer Pendenzen nicht nur verhindert, sondern abgeschreckt. Ein Atelier, ein Arbeitstisch mit nichts anderem als dem in Arbeit befindlichen Manuskript auf der Tischfläche. Freie Bahn haben. Ich bringe es in meinem düsteren Arbeitsraum, der ja auch noch meine Schlafstätte und Nachtliege beherbergt, einfach nicht fertig, mich an die Arbeit zu machen. Manchmal ertappe ich mich dabei, etwas Publikumsappetitliches zu schreiben oder wenigstens als Köder in das Buch einzuschmuggeln; ich bin ja auch auf eine verflixte Art geradezu eifersüchtig auf Stars in anderen Showbiz-Bereichen. Mir fehlt der Publikumskontakt, könnte man meinen. Ist es das? Hat es mit dem Charakter meiner Literatur zu tun, dem einwärts Gerichteten?
Ich fürchte mich vor dem Wiedereinsteigen ins Manuskript des Nagels. Und gleichzeitig tönt das Vorhaben wie Stierkampfmusik in meinen Ohren. Wie schnell das Leben abläuft und sich verläuft. Gestern war ich noch an der Rue Simart und schwitzte und weinte an meinem Jahr der Liebe, und ich kann mühelos alles Damalige in mir hervorholen, und doch ist inzwischen ein halbes Leben an mir entlang- und zum Teil vorbeigegangen. Ich möchte so gerne Honig und Pfeffer und andere Betörungseffekte in die meiner harrende Prosa träufeln und mischeln können. Doch zuvor muss ein Atelier her.
24. Mai 2011, Paris
Morgen geht's in die Clinique Bachaumont zum Scannen der Bauchspeicheldrüsengegend (pancréas), mir wohlbekannt von früher, die Klinik Nähe Montorgueil. Ich erinnere mich, dass Johannes Itten, der ja neben Mazdaznan und anderen Gesundheitslehren, die ihn (wieder) in die Nähe von Vaters Denken rückten, mir einmal sagte, typologisch gehöre zu meiner Krankheitsanfälligkeit die Magen- und Bauchgegend, er meinte die Schwäche. Merkwürdigerweise habe ich diese Aussage wie ein Verdikt oder böses Omen nie vergessen. Nun, das Leben ist ja bis heute eher gnädig mit mir umgegangen, was Krankheiten angeht.
14. Juni 2011, Paris
Marie-Luise Scherer sagte neulich am Telefon, nach Canto-Lektüre, es handle sich nicht um lyrische Prosa, sondern um Poesie. Ich würde sagen: Dichtung, ja. Meine Vorstellung von Literatur ist das Versprachlichen dessen, was ist und in und um mich ist. Der kleine Ablauf der alltäglichen Dinge, aus welchem sich Leben zusammensetzt, ich finde das aufregend wie das Trottoir. Natürlich hoffe ich mit der Alltagsabwicklung den existenziellen Nerv freizulegen. Mit anderen Worten: Mein Schreibprogramm zielt auf Literatur im höchsten Sinne des Wortes, ist aber gleichzeitig – wie Genazino vermerkte – eine Selbstrettungsaktion. Hier liegt auch mein Kreuz.
16. Juni 2011, Paris
Stoff. Muss meinen Stoff aus dem Keller der Selbstverknäuelung und Selbstverdrängnisse, solcher Ablagerungen aus Selbsterlebtem, emporholen. »Wenn er doch von sich wegkommen und in einem freien Gewässer oder Luftraum dahinfabulieren könnte«, heißt es im Bauch des Wals. Geht nicht. Er muss den Stoff aus den inneren Schleimhäuten ablösen, sonst fehlt dem späteren Text Plasma und Pneuma, die Glaubwürdigkeit. Der Zwang. Manchmal möchte man aufgeben. Die Waffen strecken. Oder einfach davonlaufen.
3. Juli 2011, Paris
Es ist der Vorvorabend vor der Abreise nach Basel/Baden/Italien, morgen noch zur Pediküre, lange Busfahrt bis Saint-Augustin, danach Abstecher zu Odile, danach packen.
Die Einsamkeitsgefühle mehren sich in der eher finsteren Wohnung, obwohl ich ja alles andere als abgesondert lebe. Ich spüre, dass im Nagel im Kopf das Unglück des Kindes, Familienunglück bevorsteht. Wie war das verstümmelte Berner Familiendasein niederdrückend bis zur Sprachlosigkeit. Darum die Musik mit ihren Schwingen so wichtig. Es war mehr als Einsamkeit, es war die verdammte Niemandszugehörigkeit. Und der Krieg am Horizont.
Unsere Familie war ein Unternehmen, ein Gastbetrieb, ich wuchs darin wie ein Luftgewächs empor.
Der Nagel im Kopf
Immer schon hatte ich Mühe mit meinen Personalien. Fragte man mich nach meinen Personalien, gab ich meinen Namen an, und schon bei der Frage nach meinem Beruf oder Alter stockte ich, nicht weil mir die Angaben fehlten, sondern weil sie mir so nichtssagend vorkamen, als gehörten sie einem andern. Nicht mir.
Beruf des Vaters, wurde ich gefragt. Tot, antwortete ich. Natürlich hatte er einen Beruf gehabt und ausgeübt, doch was besagte das schon, wo er seit langem nicht mehr lebte. Einen Schnurrbart hatte er getragen, daran erinnere ich mich, ich mochte das schnurrbärtige Aussehen, es verlieh ihm etwas sowohl Gutmütiges wie Gütiges. Ob der Schnurrbart nicht etwas Strahlendes hatte? Jedenfalls komme ich von diesem schnurrbärtigen Mann her, nur habe ich ihn leider so gut wie nicht gekannt. Der strahlende Schnurrbart verbarg ihn mir. Oder er verbirgt ihn mir in meiner Erinnerung.
An die Mutter habe ich ziemlich unscharfe Erinnerungen. Sie war immer darum bemüht, als eine stolze Dame in Erscheinung zu treten. Warum sie dieses Bedürfnis verspürte? Ihre Redewendungen hatten etwas Formelhaftes, als seien sie ausgeliehen oder nur aufgesagt. Warum konnte sie nicht etwas direkter sein? Spontaner? Warum brachte sie es nicht fertig, mich anzubrüllen oder mit Zärtlichkeiten, selbst wenn sie mir unangenehm gewesen wären, zu überhäufen? Ich hatte den Eindruck, sie meine nicht wirklich mich, wenn sie das Wort an mich richtete. Früh gewöhnte ich mir an, sie vor mir selber in Schutz zu nehmen, zu entschuldigen. Ich möchte nicht behaupten, dass wir aneinander vorbeilebten, ich möchte sie nicht kritisieren, ich kann sie mir nur nicht recht in Erinnerung rufen. Jedenfalls hat sie mich nicht auf den Bahnhof begleitet, als ich nach Abschluss des Gymnasiums den Zug nach Kalabrien bestieg und die Familie, oder was von ihr übriggeblieben war, verließ. Meines Wissens hat mich niemand nach den Beweggründen für meine Abreise gefragt, auch hat sich niemand um mich Sorgen gemacht. Auf den Bahnhof hat mich der Vater eines Schulkameraden begleitet. Es war spät, nach Mitternacht, kalt, es war im Februar.
Im Zug hat mich niemand nach meinen Personalien gefragt, der Fahrschein genügte und beim Grenzübergang der Pass. Das Passbild war ein Kinderbild, ich war eben gerade zwanzig, sah aber jünger aus. Der Wagen war leer bis auf mein Abteil, ich ließ mich durch das Rattern einlullen. Ich schlummerte und fror.
Ich will hier nicht von meiner Reise erzählen, ich komme von den Personalien auf die Abreise, die man wohl die Abreise aus der Kindheit nennen könnte. In Italien gab ich, wenn ich nach meinem Reisezweck oder nach meinem Vorhaben gefragt wurde, an, ich sei Theologiestudent, warum ich gerade auf diesen Schwindel verfiel? Religion hatte mich noch nie interessiert, und Student war ich auch nicht; ich war lediglich Schulabgänger.
Etwas ist mir eben bei der Erwähnung meines schnurrbärtigen Vaters eingefallen. Zur Weihnachtszeit pflegte er Datteln mitzubringen, ich sehe die schmale, längliche, orientalische Schachtel vor mir, wie er sie aus der Manteltasche hervorzieht, und ich sehe die klebrigen, schön aufgereihten glänzenden Früchte vor mir. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was mich zu der Kalabrienreise bewegt hat.
Kalabrien bedeutete mir nichts. Warum Kalabrien?
Zu den Personalien gehört auch der Zivilstand. Fragt man mich, ob ich verheiratet sei, antworte ich: gewesen. Was heißt gewesen?, sagt der Beamte. Sind Sie Witwer oder geschieden? Letzteres, antworte ich, obwohl ich versucht war, beides zu sagen.
In puncto Personalien fällt mir des Weiteren ein, dass die Schulabgänger, die gewissermaßen Kaulquappen, weil nicht mehr Schüler und noch nicht eingeschriebene Studenten waren, auf einem Formular zu präzisen Angaben über ihre Studienvorhaben und den mutmaßlichen Studienort aufgefordert worden waren.
Da ich um alles nicht studieren wollte und von dem weiteren Verlauf meines Werdegangs keine Ahnung hatte, schrieb ich »Großwildjäger. Afrika« in die dafür vorgesehene Rubrik. Machen Sie sich über die Schulbehörde lustig?, fragte der Lehrer. Keineswegs, meines Wissens, gab ich zur Antwort. Ich weiß nicht mehr, was ich mit Großwildjäger gemeint habe. Vermutlich wollte ich mit der Kombination »Wild« und »Jäger« etwas Aktives, womöglich mit Gefahren Verbundenes ausdrücken, so etwas wie eine Kapitelüberschrift über einem noch weißen Blatt. Dies im Unterschied zu Sitzleder und Lernen. Schließlich lag das Büffeln eben gerade hinter mir, und vor mir lag die unberechenbare Größe Freiheit, in welcher man ohne Zweifel untergehen konnte, wenn man sich nicht aufrappelte. Darum nahm ich den Zug nach Kalabrien, und Kalabrien lag gewissermaßen an der Schwelle zu Afrika. Ich bin ja dann nicht bis nach Afrika gekommen, und Großwild habe ich nur im Zoo gesehen, dies nur der Vollständigkeit halber. Von Kalabrien ist mir nicht viel in Erinnerung, bis auf eine dicke Dame, die in einem billigen Bordell Männerbesuche empfing. Sie war enorm und lustig und in der schmuddeligen Unterwäsche nicht unbedingt anziehend. Sie war sympathisch. Und fragte mich nach meinem Namen. Ich sagte, ich heiße Pius Eusebius Anselm Rittersporn. Wie bitte?, sagte sie, und ich wiederholte den Namen, wobei ich über den Rittersporn stolperte. Macht nichts, sagte sie. Dann komm mal her. Und ich schlich auf das ungemachte Bett zu und stellte mir einen Großwildjäger vor, der sich anpirscht.
Dann nahm ich ja das Schiff nach Messina, und später fuhr ich mehrmals auf Schiffen zwischen der damals kurz nach dem Krieg noch einigermaßen untouristischen Insel Ischia und Neapel hin und her, auf welchen die Schiffsoffiziere blendend weiße Uniformen trugen und, wie ich bald merkte, auffallend schwul waren, doch einmal gab es eine Menge bewaffneter Carabinieri an Bord und die dazugehörigen in eisernen Fußketten schlurfenden Sträflinge, die von der Sträflingsinsel Procida nach Neapel befördert wurden, Gefangenentransporte zu Gerichtsverhandlungen. Da ich damals noch keine italienischen Kraftausdrücke kannte, murmelte ich: O sole mio, was soll denn das? Sträflinge mitten unter den Passagieren? Ich wandte mich staunend und nicht ohne Mitgefühl von den sympathischen Sträflingen ab und den kinderreichen Familien zu, die sich alle große durchgeschnittene und mit Tomaten und Zwiebeln und Kapern belegte Brote teilten.
Ich bin ja dann von Ischia bald wieder in die Heimat zurückgekehrt und dachte: Um ein Haar wäre ich in Afrika gestrandet. Besser nicht. Ich bin ja weder Mister Livingstone noch Mister Stanley, und Urwälder oder Wüsten sind noch nie Orte meiner Träume gewesen. Von den Boas ganz zu schweigen. Der Pass mit dem Kinderfoto ging noch eine Weile durch, bis mir von einem Zollbeamten oder Grenzpolizisten bedeutet wurde, es sei an der Zeit, einen neuen Pass ausstellen zu lassen, zumal auch die Berufsbezeichnung Schüler und die Körpermaße längst nicht mehr stimmten. Es vergingen Jahre, bis ich wieder nach Italien kam.
Auf der Kalabrienreise war der Krieg eben erst einige Jahre vorüber und Land und Leute so, wie man sie in den neorealistischen Filmen zu Gesicht bekommt. Und Giulianos Banden hatten damals den ganzen südlichen Teil des Landes kontrolliert oder terrorisiert, je nachdem, ich wusste darum, bin aber mit ihnen nicht in Konflikt geraten. Warum Kalabrien? Weil ich um alles nicht lernen wollte und wohl gedacht hatte, die Reise würde etwas aus mir machen. Nicht lernen – leben! Leben hatte damals ja auch immer mit Liebesvorstellungen zu tun oder doch mit Mädchen, mit Brüsten, mit Schenkeln unter Röcken.
Vom Krieg hatten wir in unserem neutralen und verschonten Land nicht viel mitbekommen, wenn die Gefahr, der Feind könnte einmarschieren, auch täglich akut war. Darum standen die Männer an der Grenze und waren die Städte hauptsächlich von Müttern, Kindern und Greisen bewohnt, die Parkanlagen in Kartoffeläcker umgewandelt, die Fenster verdunkelt und die Schulstunden durch Fliegeralarm unterbrochen. Der Krieg wurde uns sozusagen vorenthalten, er bestand aus unseren Ängsten oder Erwartungen, je nachdem, doch kamen wir dadurch auch nicht richtig zum Leben. Wir erlebten den Krieg durch das Radio, durch die Lebensmittelrationierungskarten und durch die Flüchtlinge und internierten Truppen der kriegführenden Länder, die in Lagern untergebracht waren und von uns wie fremde Völker bestaunt wurden. Auch durch unverhoffte Erfahrungen mit dem Landleben, zumal die halbwüchsigen Stadtkinder in den Landdienst aufgeboten wurden, um auf den Bauernhöfen auszuhelfen. Ich war auch auf so einem Hof, ich liebte das Aufstehen zur Nachtzeit, um das Gras für das Vieh einzuholen, es geschah unter Sternen und bei Mondschein, und hinterher gab es geröstete Kartoffeln zum Milchkaffee. Beim Kartoffelernten war ein schelmisches Mädchen zugegen, in das ich mich gleich verliebte. Das Gackern der Hühner nicht zu vergessen, das einen angenehm hypnotisierte.
Warum die Reise? Warum Theologiestudent? Träumte mir, ins Leben wie in einen Orden eintreten zu können? Unter die Röcke wollte ich immerzu.
Und nach der Kalabrienfahrt mehr denn je. Orden. Oder Kriegsdienst. Oder unter die Röcke. Das Leben hatte ja noch keine Richtung. Darum fuhr ich nach meiner Rückkehr wie wild auf meinem Rad kreuz und quer durch die Stadt. Nur nicht absteigen. Abgestiegen bin ich einmal in der Abenddämmerung auf den Spuren eines blonden schmalen Mädchens, das allein unter den Bäumen dahinging. Das Mädchen war kurzgeschürzt, es trug nicht viel mehr als ein Fähnchen und hatte etwas Gedankenabwesendes und lächelte nur so in sich hinein, als ich es radschiebend einholte und ansprach. Es gab keine Antwort und zeigte nur dieses rätselhafte bis verruchte Lächeln, das ich nicht zu deuten wusste, und so gingen wir eine Weile stillschweigend nebeneinander her, bis ich es anfasste und an mich zu ziehen suchte, worauf es mich fauchend zurückstieß und danach weiterlächelte.
Die große Familienwohnung war damals bereits ausgeräumt, die Familie oder was von ihr übriggeblieben war, in bescheidenen Verhältnissen untergekommen, doch hatte ich noch die Schlüssel zu der nun leeren Wohnung. Dahin verbrachte ich das blonde Kind, wir gingen wie auf Zehenspitzen durch die hohen, teils getäfelten Räume, es war wie eine Schlossbesichtigung. Wir legten uns auf den Boden, doch kam nicht viel dabei heraus. Warum blieb es so teilnahmslos, wenn es denn alles mit sich geschehen ließ?
Die Wohnung konnte ich nicht mehr mit der langen Kindheit zusammenbringen, die darin stattgefunden hatte. Vater, Großmutter, Großtante und andere Angehörige verstorben oder verschwunden, und die Wohnung, der leere Rahmen der Kindheit, fremd – als Kind hat man ja keine Einschätzungsmöglichkeit über den Stand der Wohnungsinhaber und den Charakter der Wohnungseinrichtung, man schält sich allmählich aus den Einrichtungen, Tapeten, Möbeln, Teppichen und Utensilien nebst Bewohnern wie aus Eierschalen. Doch in der verlassenen, nun leeren Wohnung staunte ich, jetzt da sie ausgeweidet war, über ihre Größe.
In Kalabrien wäre ich gerne mit Giulianos Banden in Kontakt gekommen, sagte ich dem Mädchen, um mich zu brüsten. Und als ich in das Mädchen einzudringen versuchte und von dessen Geistesabwesenheit verstört und gleichzeitig aufgereizt gewesen war und schließlich irgendwie hypnotisiert, wie von dem Gackern der Hühner im Landdienst, musste ich urplötzlich an das weiße, schweigende, schnurrbärtige Gesicht des Vaters denken und erhob mich. Nur weg und aufs Rad.
Ich bin dann des Öfteren nach dem Mädchen Ausschau halten gegangen, es arbeitete an der Theke eines Gastlokals hinter dem Bierhahn und erinnerte von ferne an ein Andachtsbild, es fehlte nur der Goldrahmen. Andächtig staunte ich, versteckt unter all den Gästen, das Bild von ferne an. O sole mio.
Von der herrschaftlichen Wohnung, in welcher meine ganze Kindheit stattgefunden hatte, erinnere ich mich nur noch an die Hausnummer: 29. Immer wenn ich die Zahl 29 vernehme, meldet sich eine Stimme in mir. Die Zahl 29 und immer noch keine Personalien.
Natürlich war es unsere Wohnung, nur war sie uns so gut wie enteignet und kein Aufenthaltsraum für Familiengeschehen, nein, ich kannte keine Familie und keine Eltern, die sich als Pfähle für die Kletterpflanzen, die die heranwachsenden Kinder waren, geeignet hätten. Die Familie wohnte in der großen, beinah herrschaftlichen Wohnung, die kein Ende nahm, verschämt auf kleinstem Raume hinter gewissermaßen verriegelter, nämlich abgeschirmter Tür zusammengepfercht zusammen, zusammen mit dem bettlägerigen kranken Vater, aus bester Familie, wenn auch Ausländer und eben schwerkrank und darum kein Schutz und Schirm. Alles war da und war doch nur Fassade, wenn nicht Lüge, und darum am besten verschweigenswert. Ob daher meine Not mit den Personalien herrührt? Weil sie an keine Realität anzubinden waren? Das alles war zum Davonlaufen, und das tat ich denn auch bei jeder Gelegenheit. Nur hinaus und auf die Straße, zuhause war ja kein Platz und kein Bleiben, da war einfach keine Ordnung, in welcher sich so etwas wie Personalien hätten herausbilden können. Zurück von meinen vielen Fluchten schlich ich ins Bett und drehte den Kopf weg und machte mich ans Träumen. Ich musste mir sehr viel Traumstoff, Einbildung verschaffen, um die Leere, die grauenhafte Vakanz ausfüllen zu können und mich notmäßig zu situieren, nur draußen war ich in einem annehmbaren Leben, einem herbeigewünschten, eingebildeten. Ob von daher die schreckliche Nachtangst herstammt, die mich bis weit ins Mannesalter peinigte und in Schrecken versetzte?
Während die Damen und Herren Pensionäre in den vielen Zimmern behaglich logierten und sich zu den ausgiebigen Mahlzeiten in unserem großen Esszimmer mit dem pflanzenstrotzenden Alkoven und dem schwarzen Flügel versammelten und sich an den Speisen gütlich taten, lebten die Familienmitglieder, die von Rechts wegen die Wohnungsinhaber waren, gewissermaßen unsichtbar, möglichst im Verborgenen.
Nach außen hin lebten wir die großbürgerliche Fassade, in Wirklichkeit die Lüge, es war ja nichts hinter der Fassade als Leere.
21. Juli 2011, Paris
Von dem Aufenthalt in San Quirico d'Orcia, Nähe Montepulciano, mitten in der Toskana mit den herrlichen verzogenen Silhouetten der auf Hügelkuppen wie traumbraune Erinnerungen schwebenden Städtchen und dem in der Sommerhitze wunderbar ockrig grünen Landschaftshügelland sind mir eigentlich nur die Schwalben in schönster Erinnerung, der Schwalbenrausch – von damals; sie sind nicht einfach luftschlüpfrig, sondern geradezu glitschig in ihrer wilden Geschwindigkeit und dem weiß glitzernden Bauch, und die Sichel der Flügel bestimmt auch den kurvenreichen Flug, ich kann es nicht sagen. Ansonsten sah ich alles nur durch eine Art Watte oder Milchglas, unberührt, Freund Rothschild meinte, ich sei in einer Krise, ich traf ihn in Baden, wo ich auch mit Valentin zusammenkam.
Ich habe meinen negativen Eindruck von Valentin geändert, sehe sein Unternehmen der vielen Hauserwerbungen quer durch die Deutschschweiz als eine vielstöckige Interessens- und Liebhaberbefriedigung, in welchem auch eine tiefe Naturbeziehung und eine Leidenschaft für architektonische Ästhetik wurzelt, eine Art künstlerisches Tummeln, insgesamt ein Multipack von Neigungen, Befriedigungen derselben und Aktivitäten, vom Handwerklichen bis zum Geschäftlichen, von der Naturschwärmerei und -kenntnis bis zum Poetischen und so fort, eine Mischung von nutzbringender Aktivität, Gelderwerb und vielfachem Unternehmertum, und das alles duftet irgendwo nach kindlicher Spielfreudigkeit und entsprechendem Entdeckertum. Wir verbrachten einige Stunden zusammen im Restaurant ›Terrasse‹ in Zürich, sehr entspannt. Er hat eine Art Beruf erfunden, wenn man näher hinsieht. Und nun schwärmt er von Plänen wie Familiengründung und Weltreisen, und dies mit bald sechzig Jahren. Ich habe in der Tat sehr eigenartige und eigenwillige Kinder.
Alle drei Kinder erfolgreich, Boris in Los Angeles mit seiner Fotoagentur, in der Lebensführung den Luxus streifend. Valérie ist Englischlehrerin an einem Gymnasium unterrichtend und mit Leonid, dem Physiker, in einer wissenschaftlichen Elite aufgehoben. Valérie ist die kultivierte und kulturliebende Persönlichkeit meiner drei großen Kinder. Und Igor, Odiles Augenstern und mein Altersglück, hat mit zweiundzwanzig bereits ein Studium abgeschlossen und ist zurzeit bei der Marine.
Im Zusammenhang mit den Kindern fiel mir ein, dass bei uns zuhause nicht nur nie von Geld gesprochen worden ist, sondern Geld nie sichtbar war. Zwar drückte man uns Kindern vermutlich Geld in die Hand, wenn wir schnell über die Straße in die Migros oder sonst einen Laden geschickt wurden, und ebenso höchstwahrscheinlich, wenn wir Geld zwecks Schulunternehmungen benötigten, doch Rechnungen bezahlen, Steuererklärungen ausfüllen, Einzahlungsscheine, Einkassieren der Pensionärsgelder, Geldverkehr im materiellen, im haptischen Sinne ist mir nicht erinnerlich. Wie reich waren wir? Wie arm? Es gab immer reichlich zu essen, und an Bekleidung wurde nicht gespart. Ich erinnere mich an irgendwelche Bestellungen von Anzügen; wie wurden die Dienstmädchen bezahlt? Geld trat einfach nicht in Erscheinung, und dennoch muss es ja so etwas wie eine Buchhaltung gegeben haben bei all den Mietern und zahlenden Gästen, bei dem ganzen aufwendigen Betrieb. Geld als Lohn der Arbeit und Zahlungsmittel lernte ich erst wirklich kennen, als ich als Schüler arbeiten ging, z. B. auf die Bahnpost nachts und an Feiertagen, um Taschen- und Feriengeld zu verdienen und eine frühe Unabhängigkeit zu gewinnen. Vom Vater rührt die Vorstellung her, dass die Arbeit mit Neigung oder Begabung und innersten Interessen zu tun hat und nicht in erster Linie mit Geldverdienen. Vater ging ja auch nicht zur Arbeit, sondern arbeitete zuhause selbstständig. Dass Geld aus dieser Leistung hervorging, blieb unersichtlich. Und dennoch kam Geld herein, sonst wären weder Auto noch Hausdiener gewesen und keine langen Ferien auf dem Lande. Das fehlende Geld kam mir zu Bewusstsein, als Vater und Großmutter tot und die Pension ein Schrumpf- und Lotterbetrieb geworden war und wir vor Schulden dem Konkurs entgegenschlidderten und ich das sinkende Schiff zu retten suchte, indem ich als Gymnasiast die ganzen Möbel verkaufte und mit den Vermietern verhandelte, um die Pfändung zu vermeiden. Danach gab es eine Art Kleinfamilie in kleinen Verhältnissen, nur dass ich bald auszog und eigener Wege ging, wenn ich auch die Mutter zu unterstützen suchte. Die ja dann in höherem Alter eine Anstellung annahm, zuerst als Advokatensekretärin, als Bürokraft in einer Großgarage und schließlich als Aufsichtsperson im Berner Historischen Museum, wo ich bereits Assistent war. Damals lebten Mutter und Schwester an der Kramgasse in der Altstadt in einem Zunfthaus; und ich wurde zu üppigen, von Mutter gekochten und hergerichteten Mahlzeiten eingeladen.
Ich denke, der von uns Kindern empfangene Eindruck einer Art Höhergestelltseins rührt auch von der Verdunkelung der Einkommenssphäre her und der Vorstellung, dass es alles einfach gab und beinah bis zum Überfluss, obwohl man nicht wirklich sah, worauf das Wohlergehen fußte. Wir hatten beschlossen, uns als privilegiert zu betrachten. Bis die Fassade einstürzte.
26. September 2011, Paris
Habe eben den Limonow von Carrère zu Ende gelesen, ich konnte mich wenigstens von der Hälfte an nicht mehr vom Lesen abhalten, so vielfältig interessant und packend ist die Geschichte. Natürlich ist die Abenteurergestalt des Helden, des lebenden russischen Schriftstellers mit Pseudonym Limonow, in Wahrheit Eduard Savenko, in Russland ein Star und lebender Mythos, mehr als nur hinreißend, großartig und dubios in einem; zum andern ist das russische Sittenbild im Übergang zwischen Sowjetunion und Putin'schem galoppierenden Kapitalismus und mafiosem Freibeutersystem hochinteressant, um von den anderen Schauplätzen: New York und Paris und Kriegsjugoslawien, ganz zu schweigen. Das Buch ist ein toller Packen heutiger Geschichte, schillernd zwischen den einstigen Machtzentren Amerika und Russland. Zu Anfang fand ich die ganze Aberzählerei etwas dünn, wenn auch hyperunterhaltsam. Danach schlich sich immer mehr Respekt ein angesichts des Lesevergnügens. Das ist ja alles sehr, sehr gut gemacht, wenn auch sprachlich schnellzugmäßig, will sagen eintönig – nun: Handlung noch und noch, in verschiedene Schauplätze und Lebensabschnitte unterteilt. Ich komme darauf zu sprechen, weil ich meine eigene Sache und natürlich den damit zusammenhängenden kleinen Leserkreis, die begrenzte Verbreitung, mit Carrères Erfolgsbuch, das auf Platz 1 der Bestsellerliste figuriert, vergleiche.
Anfang Dezember 2011, Paris
Zurück von Klagenfurt, Sankt Veit, München, Berlin und dem inständigen Eindruck, dass in Deutschland mein Schriftstelleransehen kulminiert ist. Am liebsten wäre es mir, wenn ich das aufkeimende neue Interesse an mir mit einer Spätentdeckung erklären könnte. Natürlich spielt auch das erreichte Alter eine Rolle. Absegnung, Rehabilitierung. Oder ist es so, dass die Zeit mich endlich eingeholt hätte? Wertbeständigkeit, Zuwachs von Spätanerkennung. Andere sind vergessen, verschwunden.
Schöne Zusammenkünfte mit Willinghöfer und Marie-Luise Scherer, mit Hörning, mit Simons, Henning kurz zu Besuch. Bekanntschaft mit dem Verleger von Matthes & Seitz (Dr. Rötzer). Sehr schön war der Aufenthalt in Klagenfurt und Sankt Veit zusammen mit Stefan Gmünder, nicht nur der interessanten Bekanntschaften wegen, sondern landschaftlich gemütvoll; Griffen, Handkes Herkunft, ganz in der Nähe. Ich las Handkes dazugehörige Kindheit, die wiederum wie eine Heldenlegende tönt, furiose Anfänge eines Auserwählten, eine Art literarisches Alexander-der-Große-Epos samt Welteroberungsgelüsten, in der neulich erschienenen Biographie.
In München saßen wir die halbe Zeit im Hotel Torbräu, wo alle Schriftsteller untergebracht waren, in Bar und Restaurant, wenn wir nicht zur Uni oder zu Maria Gazzetti in ihr wunderhübsch ausgestattetes Lyrikkabinett unterwegs waren oder ins Restaurant.
München hat diese schönen, luftigen, imperialen, klassizistischen Straßen wie Ludwig und Leopold und die schönen barocken Kirchen und Gärten und gehört in meiner Biographie in die hochgemuten Anfänge nach Krieg und Jahr null. Und in die Liebe. Oder es bedeutet einfach Jugend, JUGEND. Und jetzt das Alter. Und nächste Woche müsste ich nach Bern zur sehr reduzierten Schwester und wegen der schrecklichen Regelungen für den Nachlass.
22. Dezember 2011, Paris
Canto
Bei Odile ist mir – vor dem in der Fernsehkiste ablaufenden Film Casablanca mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart die Bemerkung »Ich bin ein Kriegskind« ausgeschlüpft.
23. Dezember 2011, Paris
Ich denke, der Umstand, dass mir bei der Maria-Geschichte immer die Puste oder der Stoff ausgeht, hängt damit zusammen, dass ich damals mit dieser Maria aus einer tiefen Bedürftigkeit heraus eine Liebesgeschichte anzetteln wollte und dass mir der Anfang gelang. Es kam zur Simulierung einer Liebesbegegnung, und dann brach die Realität ein. Maria, ein armes Mädchen aus einer anderen Welt, mit der ich nichts anfangen konnte und wollte, und so blieb alles stecken, das heißt, die Geschichte tritt auf der Stelle, es gibt keine Geschichte. Darin besteht die Illusion oder Ohrfeige im Weltall, wie ich es nannte. Doch machte das den Schmerz nicht geringer.
O Maria. Ich meine nicht die Muttergottes, sondern die andere, die aus Rom. Es war lange nach meiner Kalabrienreise. Ich war nicht mehr Schulabgänger, sondern Student mit Abschluss. Ich wühlte mich durch den Leib der Ewigen Stadt. Und Maria arbeitete nicht in einem Bierlokal, sondern in einer Nachtbar, sie war ein Engel. Sie war ein Engel, sie hat mich aus dem KZ gerettet. Im Kino war ich in so einem Lager gewesen, vor Entsetzen erstarrt, und nun stand ich draußen und schaute ungläubig in das Menschentreiben, die gutangezogenen Leute, die sich im Gehen unterhielten, als ob nichts wäre, darunter Frauen, die ihre Beine auswarfen und ihre Wucht überwachten. Und darunter eine in einem roten Regenmantel aus dem damals neuartigen Lackmaterial, sie trug das Haar hochgesteckt, wie es gerade Mode war. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte, sie anzusprechen und dazu zu überreden, mit mir im Taxi in das Hotel zu fahren, ich sprach ja noch nicht wirklich Italienisch. Sie war kein Straßenmädchen, wie hatte ich sie nur überzeugen können. Im Hotel sagte ich nicht, ich heiße Rittersporn Amadeus Eusebius oder so ähnlich, ihre Schönheit verschlug mir die Sprache, ich berührte ihre Lippen, ich kostete den leichten Glockenton ihrer Stimme, ich verehrte sie gleich wie eine Braut. Meine Braut, dachte ich. Wir blieben die ganze Nacht beieinander, es war meine Brautnacht, wenn auch unvollzogen, ich war so weg von ihrem Glanz und der Sanftmut wie der Mann in dem Film von Mauro Bolognini, Il bell'Antonio, der vor lauter Anbetung, im Film war es wohl Liebe, nicht zum Akt schritt. Und so blieb es bei der unstillbaren Zärtlichkeit voller Liebesverlangen, und anderntags sagte sie, sie heiße Maria. Als wir das Hotel verließen, führte sie mich geradeswegs zu einem Fotoautomaten, sie wollte, dass wir unsere Passbildchen austauschten. Danach musste sie zum Friseur und ich in den römischen Morgen mit ihrem Bild in der Brusttasche.
Und wieder dachte ich an meinen Vater, den kaum gekannten. Ich dachte auch an den kleinen Jungen, der ich gewesen war, als er starb. Es war mitten im Krieg. Mir scheint, wir wussten um die aufgehäuften Leichen und den aus den Menschenverbrennungsanlagen aufsteigenden Rauch. Wir wussten von den in gestreiften Schlafanzügen schlotternden Hungerskeletten und den totenkopfähnlichen Gesichtern der Gefangenen mit den riesigen Augenhöhlen. Doch von der dem Tod vorausgehenden planmäßigen Entmenschung konnten wir nichts wissen, das sah ich erst im Film.
Ich rief bei Maria an, um sie für Sekunden zu hören, die Stimme zu hören. Die Tage wälzten sich wie eine bleierne Masse über meine Unruhe, zurück blieben die Zweifel. Vor allem nachts ging ich wie ein Ausgestoßener durch die abweisenden Straßen, ruhelos umgetrieben.
Ich zögere, die Maria-Geschichte anzurühren. Vermutlich endigte diese am Morgen nach der ersten und einzigen Hotelnacht. Sie endigte, doch verseuchte sie mich mit einem versengenden Traumgift.
24. Dezember 2011, Paris
Es muss in dem Berner Haus mit der verdüsternden Atmosphäre ein Unglück begonnen haben, das lebenslang nicht zu beheben sein wird. Und das mit meinem Liebesverhalten determinierend zu tun hat. Das Loch der Einsamkeit steckt in dem Kindheitshaus.
29. Dezember 2011, Paris
Erstens ist zu vermerken, dass ich von Freund Höhlu träumte, einem unerwarteten Wiedersehen voller Überraschungsfreude, nur dass er mitten in den festlichen Vorbereitungen, wie ich dachte, auf einmal mit einer Maschinenpistole, vielleicht sogar einer Kalaschnikow daherkam und mich löcherte, niederschoss, warum nur?, ging es mir durch den Kopf, bevor ich verstarb, doch starb ich merkwürdigerweise überhaupt nicht, sondern erhob mich unversehrt, was soll der Spaß?, dachte ich. Er hat wohl mit blinder Munition geschossen.
Außerdem ging mir neulich durch den Kopf, dass ich als Knirps meinen Schutzengel gesehen hatte. Sicher ist, dass ich schwer krank war, in Erinnerung ist mir die Bezeichnung giechte Anfälle, was immer das bedeutet, mir scheint, ich war am Sterben oder bereits tot und wurde dadurch gerettet oder ins Leben zurückgeholt, dass meine Großmutter mich in die mit kaltem Wasser gefüllte Badewanne tauchte, wenn nicht warf; ich kam also wieder zu mir, der Arzt traf ein, ich lag als Rekonvaleszent zu Bett, ein Bleichling, ist anzunehmen, ich allein im großen Bett. Und da sah ich mehrere Tage meinen Schutzengel über dem Bett schweben, er schwebte mit ausgebreiteten Flügeln über mir in dem Schlafgemach, und ich sah zu ihm auf, er war größer als ein Mensch und hielt seine großen Schwingen über mir ausgebreitet.