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Matthias Eckoldt

VIRUS

Partikel, Paranoia, Pandemien

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2021 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Die Abbildungen im Innenteil des Buches wurden übernommen von: Alamy (S. 35), Bundesarchiv, Koblenz, Sig. 183-84387-0001 (S. 158), Peter Palm, Berlin (S. 188), The Science Museum / Science and Society Picture Library, London (S. 137), Science Photo Library/Picturedesk (S. 105), Wikicommons (S. 73, 228) sowie aus: Francis Crick, Ein irres Unternehmen, München 1988 (S. 164); Helmut Ruska, Virus, Darmstadt 1950 (S. 115).

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus: Minion Pro, Forma DJR Banner

Umschlaggestaltung: Benedikt Lechner

Umschlagmotiv: Shutterstock/creativeneko

Autorenillustration: © Claudia Meitert / carolineseidler.com

ISBN: 978-3-7110-0275-4

eISBN: 978-3-7110-5300-8

Für meine Mutter,
die so viele Virenerkrankungen behandelt hat.

»Im Grunde muss man davon ausgehen, dass sich die meisten Hypothesen, die man aufstellt und an denen man lange feilt und arbeitet, als falsch erweisen.«

Harald zur Hausen

»Wir können überhaupt nicht ausschließen, dass irgendwann einmal medizinisch resistente Viren entstehen, die einfach losmarschieren, und die Medizin ratlos dasteht und Jahre braucht, um eine Diagnose für die Krankheit zu entwickeln. So etwas halte ich für viel wahrscheinlicher, als dass eine Riesen-Explosion geschieht, die die Menschheit vernichtet.«

Niklas Luhmann

»In der Natur gibt es keine Probleme. Die Natur kennt nur Lösungen.«

André Lwoff

Inhalt

Vorwort: Am Anfang war das Virus

I. Wie alles begann

Infektionskrankheiten oder: üble Düfte und winzige Tierchen

Über die Urzeugung oder: Henne und Ei – aber wo ist der Hahn?

Erste Experimente oder: Gammelfleisch und Strafe Gottes

Eine neue Dimension oder: elende Biestchen unterm Flohglas

Widerlegung der Urzeugung oder: Hirngespinste und Mikroben

Nachweis von Infektionswegen oder: der lange Schatten der Miasmatiker

II. Noch immer kein Virus in Sicht

Die Pockenimpfung oder: eine Lady und ein Milchmädchen

Bakterien als Infektionskeime oder: die Sporen im Auge der Kuh

Das erste Virus oder: der unsichtbare Feind

Gelbfieber- und Tollwutvirus oder: Menschenversuche an sich selbst und an anderen

Bakterienfressende Viren oder: Bananenwhisky und Sisalschnaps

III. Der Durchbruch

Die Spanische Grippe oder: morgens krank, abends tot

Das Elektronenmikroskop oder: ein Streich der Nazis?

Viruskristalle oder: 5000 Liter Saft und ein Paradoxon

Anzucht von Viren oder: wie Impfstoffe ausgebrütet werden

Erste Taxonomie der Viren oder: Keule und Polsternagel

IV. Wie Viren codieren

Die Bedeutung der Nukleinsäure oder: wie man Viren zerlegt und wieder zusammensetzt

Der genetische Code oder: die DNA, ein eher langweiliges Molekül?

Die Definition der Viren oder: das Geheimnis der Lysogenie

V. Strategien von Viren und Wirten

Die Polioimpfungen oder: kein Patent für die Sonne

Retroviren oder: ein Schritt zurück und die Ordnung der Viren

Krebserzeugende Viren oder: zwei Gene übernehmen die Regie

HIV oder: viel Streit um viel Ruhm und viel Geld

VI. Corona und Co.

Die PCR oder: wie man Nummernschilder vom Mond aus sehen kann

Viren in der Biotechnologie oder: die Büchse der Pandora ist geöffnet

Pandemien seit dem Jahr 2000 oder: sechzig Tage Zwangsurlaub für Virologen

Die Krankheit X oder: ein Dank an die Viren

Dank

Anmerkungen

Sach- und Personenregister

Vorwort
Am Anfang war das Virus

So ein kleines Ding! Kleiner als ein Sandkorn – viel kleiner. Zehnmal kleiner? Nein! Hundertmal kleiner? Nein! Tausendmal kleiner? Nein, noch kleiner! 10 000-mal kleiner als ein Sandkorn. Kleiner als winzig! Mit keinem Lichtmikroskop der Welt zu sehen und von der Struktur her so simpel, dass sich trefflich darüber streiten lässt, ob es überhaupt den Kriterien des Lebens genügt. Um in den strengen Augen der Biologen als lebendig zu gelten, sollte ein »Lebe-Wesen« nämlich zumindest sechs Bedingungen erfüllen:

• Wachstum, im Sinn von Größenzunahme und Entwicklung;

• Fortpflanzung, also das Hervorbringen von Nachkommen;

• Stoffwechsel, die Fähigkeit, chemische Stoffe der Umgebung für die eigenen Zwecke, wie Energiegewinnung oder Substanzaufbau, zu nutzen;

• Bewegung, ein Phänomen, das nicht so einfach ist, wie es scheint, es wird gleich noch differenzierter diskutiert;

• Reizbarkeit, hier geht es nicht um Choleriker, sondern um die Möglichkeit, auf Umweltreize zu reagieren, sowie:

• Evolution, die Weitergabe der eigenen Merkmale an die Nachkommen (Vererbung), wobei es bei jedem Vererbungsvorgang zu Merkmalsänderungen kommen kann, die unter Umständen die Überlebenschancen der Nachkommen verbessern.

Das sieht ein wenig nach einer anthropozentrischen Definition aus, denn zuerst fällt auf, wie spielend der Mensch diese Kriterien erfüllt. Aber was ist mit den Pflanzen? Sie bewegen sich nicht, sondern bleiben ihr Leben lang dort stehen, wo sie ihre ersten Wurzeln geschlagen haben. Das schon, verlautet es von den Freunden der definitorischen Klarheit, aber sie bewegen sich doch. Langsam zwar, aber dennoch merklich, wenn man sich den Drang und die Hinwendung zum Licht anschaut. Hier könnte man wiederum einwenden, dass es sich um Wachstum und nicht um Bewegung handelt, aber sei’s drum. Das Kriterium der Evolution scheint als Bedingung ebenfalls streitbar, da sich auch Minerale evolutiv verhalten und weiterentwickeln.1

Doch es gibt auch eine Alternative zu dieser Lebensdefinition, die einzelne Merkmale addiert. In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts schlug der chilenische Biologe Humberto Maturana (*1928) vor, das Lebendige eher von der Struktur her zu betrachten. Er suchte nach einem einzigen Kriterium, das für alle biologischen Wesen zutraf, und gab diesem das geheimnisvolle Label »Autopoiesis«. Das Wort bedeutet so viel wie »Selbsterschaffung« und trägt der grundsätzlichen Eigenschaft des Lebens Rechnung. Leben entsteht nur aus Leben, und jeder lebendige Organismus kann seine eigenen Strukturen nur selbst aufbauen. Weder die Umwelt noch ein anderes System kann hier Vorschriften machen. Denn alles, was lebt, ist für seine innere Organisation selbst verantwortlich, das heißt, es geht mit äußeren Reizen immer zu seinen eigenen Bedingungen um, und nicht etwa zu denen der Umwelt.

Wendet man nun diese beiden Versuche, das Eigentümliche des Lebens zu fassen, auf Viren an, kommt man zu ganz unterschiedlichen Resultaten. Mit der summarischen Lebensdefinition als Richtschnur springen die Viren deutlich unter der Latte durch, da sie sich weder selbst vermehren können noch über einen eigenen Stoffwechsel verfügen und darüber hinaus kaum Anstalten machen, auf ihre Umwelt zu reagieren. Damit müssten Viren aus dem erlesenen Kreis des Lebendigen verbannt werden, und Biologen bräuchten beziehungsweise dürften sich nicht mit ihnen beschäftigen.

Die Idee der Autopoiesis führt hingegen zu einem anderen Ergebnis. Sicher, Viren können sich nicht selbst fortpflanzen, ihnen gelingt es nicht, sich zu teilen wie die Zellen noch sich zu paaren wie die meisten Tiere, und auch nicht, sich durch Bestäubung zu vermehren wie viele Pflanzen. Sie brauchen dafür eine Zelle, deren Befehlszentrum sie kapern können. Einmal eingedrungen, geben sie Befehle zur Produktion ihrer Nachkommen, die sich mitunter beim Verlassen des Wirtes auch noch mit einem Stück von dessen Zellwand ummanteln. So praktizieren die Viren vielleicht keine materielle, wohl aber eine informationelle Selbsterschaffung. Alle Viren tragen die Informationen darüber, wie ihre Strukturen aufzubauen sind, in sich. Sie besitzen die oberste Verfügungsgewalt über ihre innere Organisation. Allerdings brauchen sie zur Umsetzung ihrer Selbsterzeugung ein anderes biologisches Wesen. Damit aber sind die Viren im Reich des Lebens beileibe nicht allein. Benötigen nicht auch Apfelbäume andere, völlig artfremde Organismen wie Bienen, um sich fortzupflanzen? Und wer wollte ihnen die Lebendigkeit absprechen?

Vor dem Hintergrund der Autopoiesis-Idee sind Viren also quicklebendig. Wenn man bedenkt, dass sie sogar andere Lebewesen zwingen können, ihre Reproduktion zu betreiben, könnte man bei übertriebenem Interesse an Polemik sogar von einer höheren Lebensstufe sprechen. In jedem Fall aber verhalten sich Viren enorm clever und sind beispiellos erfolgreich. Ihre Individuenzahl auf der Erde kann man ohne Übertreibung als astronomisch bezeichnen. Mehr noch, diese Attributierung muss nach Faktenlage sogar als Untertreibung gewertet werden. Denn durch unser Universum fliegen etwa 1025 Sterne. Eine 1 mit 25 Nullen. Unvorstellbar, aber nicht unaussprechbar, auch wenn die Bezeichnung aus verständlichen Gründen selten gebraucht wird: Zehn Quadrillionen Sterne, mit denen die Viren auf der Erde den Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Auf unserem Planeten leben – sagen wir es ruhig einmal – 1033 Viren. Um von 1025 auf 1033 zu kommen, muss man die Zahl mit 100 Millionen multiplizieren. Es gibt also 100 Millionen Mal mehr Viren auf der Erde als Sterne im All. Erstaunlicherweise hat auch diese Zahl einen Namen: eine Quintilliarde! Auf einen Menschen kommen 10 Milliarden Billionen Viren. Und eine einzige Art kann bereits so viel Ungemach verursachen!

Es ist wirklich unfair, die Lebendigkeit der Viren zu bestreiten. Nicht wegen ihrer schieren Menge und auch nicht nur wegen ihrer unübersehbaren Cleverness im Umgang mit biologischen Systemen, sondern vor allem, weil immer mehr Anzeichen dafür sprechen, dass die Viren bei der Entstehung des Lebens tatkräftig mitgewirkt haben. Viren könnten sogar die ersten Organismen überhaupt gewesen sein und damit den unteren, noch unverzweigten Teil vom Stammbaum des Lebens bilden.

Eine spannende Hypothese sagt dazu Folgendes: Vor etwa 3,9 Milliarden Jahren enthielt die Luft auf der Erde noch keinen Sauerstoff. Oberirdisch standen die Zeichen damit nicht sehr günstig für den Startschuss der biologischen Evolution. Anders in den Tiefen der Ozeane, besonders dort, wo der Meeresboden in der frühen Erdentwicklung immer wieder aufriss und glühendes Magma austrat. Dadurch konnte sich das Wasser in der Nähe solcher Stellen auf bis zu 400 Grad Celsius erhitzen – möglich ist das aufgrund des enormen Drucks, der in diesen Tiefen herrscht. Ein Paradies für chemische Reaktionen. In diesem ozeanischen Hexenkessel könnten dann Biomoleküle entstanden sein und daraus schließlich auch erste kurze RNA-Sequenzen. Damit war die Grundlage für die Existenz von Viren geschaffen, da sich mit dieser Nukleinsäure nicht nur genetische Informationen speichern lässt, sie konnte damals vermutlich sogar die Funktion von Enzymen ausüben – etwas, was heute Proteinen (Eiweißen) vorbehalten ist. So gelang es den Viren möglicherweise nach und nach, komplexere biologische Strukturen auszubilden, sodass sie schließlich auch über eine Art Stoffwechsel und in gewissem Maße über die Fähigkeit zur Fortpflanzung verfügten. In den letzten Jahren gefundene sogenannte Riesen- oder Gigaviren, die selbst noch andere Viren in sich tragen können, geben zu dieser Vermutung Anlass. Diese Urform des Lebens war jedoch nicht sonderlich effektiv. Die einzelnen Prozesse dauerten wahrscheinlich sehr lange. Allerdings war damals Zeit im Überfluss vorhanden. Es gab keine äußeren Bedrohungen – jedenfalls nicht von anderem Leben. Ein paar Hundert Millionen Jahre könnten die Viren allein auf der Welt gewesen sein, bis schließlich die ersten Einzeller auftauchten. Mit ihrem – an den Viren gemessen – hochkomplexen Aufbau, der innovativen Art der Energiegewinnung und der Möglichkeit zu teils rasanter Fortpflanzung wurden sie rasch zu den Platzhirschen und machten die Viren zu evolutionären Verlierern. Doch deren Ende war damit noch nicht besiegelt. Die Viren fanden eine evolutionäre Nische als Parasiten der Zellen, die offensichtlich viel erfolgversprechender war als ihre vormalig autonome Lebensweise. Mit der Zeit konnten sich die Viren denn auch eine weitere Reduktion ihrer Strukturen erlauben, denn alles Wichtige erledigten die Zellen, während sie sich darauf beschränkten, sich als reine biologische Informationseinheit vervielfachen zu lassen. Wenn diese Hypothese stimmt, dann wären nicht die Viren den zellulär organisierten Lebewesen in die Quere gekommen, sondern gerade andersherum.

So oder so ähnlich könnten die biologischen Anfänge ausgesehen haben. Eigentlich ein guter Startpunkt für ein Buch über die Geschichte der Viren. Doch es gibt da noch eine andere spannende Geschichte zu erzählen, jene nämlich vom Ringen um Erkenntnisgewinn über die merkwürdige Natur der Viren. Sie handelt von Menschen, die sich auch von Irrwegen und Rückschlägen nicht davon abbringen ließen, in den Mikrokosmos des Lebens vorzudringen. Ohne sie wüssten wir von Viren nach wie vor nichts. Deshalb dienen die wissenschaftlich-medizinischen Eckpunkte als Leitfaden für das Buch. Im historischen Kontext wird entwickelt, was Forscher – oft unter Einsatz des eigenen Lebens (und das von anderen) – über Viren in Erfahrung gebracht haben. Erstaunlich sind ihr Wagemut und ihre Hartnäckigkeit vor allem vor dem Hintergrund, dass es die Forscher über lange Zeit lediglich mit dem Konzept »Virus« zu tun hatten, nicht aber mit dem Partikel selbst. So kann man hier von geradezu mystisch anmutenden, sich dennoch erstaunlich hartnäckig haltenden Spekulationen über die Urzeugung von Krankheitserregern lesen; ebenso von ethisch fragwürdigen Experimenten mit den allerersten Impfstoffen, von zermürbenden Misserfolgen bei der Suche nach den Viren, die partout ihre Gestalt nicht zeigen wollten, von dramatischen Fehleinschätzungen während der – bislang – größten Viruspandemie 1918–1920, aber auch von epochalen Erfolgen der Virenforschung im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs. Von reiner Verzweiflung angesichts der Unberechenbarkeit bakterienfressender Viren sowie von im wahrsten Sinne rauschhaften Sternstunden der Wissenschaft bei der Erfindung der PCR-Technik für den Virennachweis und von ruhmversessener Umdeklarierung nobelpreiswürdiger Laborproben des AIDS-Erregers. Nicht zuletzt wird es auch um einen historischen Moment des Erschauderns in der Wissenschaftlergemeinde gehen, als man mithilfe von Viren die Büchse der Pandora in der Gentechnologie öffnete. Und damit: Willkommen in der Gegenwart, in der die elaborierten Analyseverfahren deutlich machen, dass beim Thema Viren gerade erst die Spitze des Eisbergs in den Blick kommt. So zeigt die wechselvolle Geschichte der Virenforschung auch, warum sich menschliche Neugier besser Demut zum Ratgeber nehmen sollte, anstatt sich immer wieder in Allmachtsfantasien hineinzusteigern.

I.
WIE ALLES BEGANN

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Infektionskrankheiten oder: üble Düfte und winzige Tierchen

Hippokrates (um 460 bis etwa 370 v. Chr.), der als Stammvater der Medizin gehandelt wird und jenem Eid seinen Namen gab, auf den sich Ärzte noch heute berufen, soll einmal von den Athenern angefleht worden sein, sie von der in ihrer Stadt grassierenden Pest zu befreien. Er kam, so geht die Legende, und schaute sich in Athen um. Überall litten und starben Menschen an dieser Krankheit. Das öffentliche Leben fand kaum noch statt. Einzig in den Schmieden wurde eifrig weiter gehämmert. Konnte das ein Zufall sein? Für den erfahrenen Arzt gab es keine Zufälle. Also erklärte er Hitze, Feuer und Rauch zu den Heilmitteln gegen die Pest, ließ die Wohnstätten ausräuchern und auf Plätzen und Straßen gewaltige Brände entfachen. Nach und nach soll die Seuche aus der Stadt verschwunden sein.

Ob die Anordnungen des Hippokrates tatsächlich das Ende der Seuche besiegelten, weiß man nicht. Es ist noch nicht einmal klar, ob überhaupt und, wenn ja, wie viel Wahres diese Episode enthält. So wie man ohnehin wenig über Hippokrates weiß, eigentlich gar nichts. Einig sind sich die Historiker nur darin, dass er den nach ihm benannten Eid weder erfunden noch selber geschworen hat. Gleichwohl zeigt die vermeintliche Begegnung des Arztes mit der Seuche in Athen die entscheidende Methodik der Medizin. Sie beruht auf Beobachtungen sowie aus Erfahrung gewonnenen Vorannahmen, in deren Licht das Gesehene interpretiert wird. Hippokrates setzte auf Feuer und Rauch, aber angesichts seiner Beobachtungen hätte er den Athenern ebenso gut die harte körperliche Arbeit der Schmiede verordnen können, um die Pest zu bekämpfen.

Hätte er nicht! Denn er war ein sogenannter Miasmatiker, wahrscheinlich sogar Initiator dieser Lehre, nach der Infektionskrankheiten durch Verunreinigungen der Luft entstehen. Das Wort »Miasma« stammt aus dem Altgriechischen und wird mit »übler Dunst« übersetzt. Eines der dem Hippokrates zugeschriebenen Bücher trägt denn auch gleich im Titel den Hinweis auf das Miasma: Es heißt Über die Winde. Demnach verursachen krank machende Dämpfe Infektionen und – im großen Stil – Seuchen, indem sie das Gleichgewicht der Körpersäfte durcheinanderbringen. Vor diesem Hintergrund ordnete Hippokrates die Maßnahmen in Athen an. Die üblen Gerüche, die seinen Glaubenssätzen zufolge zur Pest geführt hatten, sollten durch Rauch und Feuer aus der Stadt getrieben werden.

Bedenkt man die hygienischen Bedingungen in Antike und Mittelalter, liegt diese Theorie nahe und trifft in Teilen auch den Kern, da viele Krankheiten tatsächlich über Schmutz und Fäkalien weitergegeben werden. Das wären dann gewissermaßen die gefürchteten giftigen Ausdünstungen. Äußerst suspekt waren dem Miasmatiker auch Sümpfe. Dort befürchtete er die durch Fäulnisprozesse verursachte Freisetzung übler Dämpfe. Die Überzeugung, dass Miasmen für die Übertragung infektiöser Krankheiten verantwortlich sind, hielt sich bis tief in die Neuzeit.

Aber es gab noch eine andere Auffassung von der Ausbreitung der Seuchen. Auch dabei spielten feuchte Orte eine Rolle. Dort sollten nach der Idee des contagium animatum, des »belebten Ansteckungsstoffes«, winzige Tierchen entstehen. So klein, dass man sie mit bloßem Auge gar nicht sehen könne. Sie »gelangten mit der Luft durch Mund und Nase in den Organismus und erzeugten schwere Krankheiten«.2 Der Terminus contagium animatum wurde erstmals von dem Universalgelehrten Marcus Terentius Varro (116 – 27 v. Chr.) verwendet. Obwohl auch der römische Arzt Claudius Galenus (129–199) als Taktgeber der abendländischen Medizin die Idee des Ansteckungsweges über belebte Stoffe aufnahm, führte sie lange Zeit ein Schattendasein. Schuld daran war sicherlich die von Varro behauptete Natur der infektiösen Tierchen, der sogenannten Kontagien. Wie sollte man ihre Existenz und Wirksamkeit nachweisen, wenn man sie mit bloßem Auge gar nicht sehen konnte? Zwar stand die Sache mit den Miasmen im Prinzip nicht besser, aber zumindest waren die üblen Dünste dem Geruchssinn zugänglich. Andererseits hätte aber auch die Beobachtung von Ansteckungswegen eine Entscheidung zugunsten der Kontagientheorie bringen können. Denn bei der Pest sprang die Krankheit offensichtlich von einem Menschen zum anderen über. Doch das allein galt den Miasmatikern nicht als Beweis. Sie verwiesen darauf, dass die Kranken ebenfalls üble Dünste von sich gäben, die dann wiederum andere infizierten.

Letztlich konnte die Kontroverse zwischen Miasmatikern und jenen, die an Kontagien, also kleinste Organismen, als Krankheitserreger, glaubten, nicht entschieden werden, solange noch eine weitere Vorstellung Geister und Gemüter erhitzte. Dabei ging es um die sogenannte Urzeugung. Sie propagierte die spontane Entstehung von Leben aus unbelebter Materie. Auf Grundlage dieser Konzeption konnte man beides behaupten: dass kleine krank machende Organismen plötzlich an verschiedenen Orten beziehungsweise in oder auf den Körpern bereits Erkrankter entstehen, aber auch, dass Seuchen durch das Aufsteigen von üblem Dunst hervorgerufen werden, in oder von dem die Krankheiten spontan erzeugt werden. Bevor etwas Licht ins Dunkel des Infektionsgeschehens fallen konnte, musste zuerst die Idee der Urzeugung grundlegend verhandelt werden. Das dauerte allerdings bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Über die Urzeugung oder: Henne und Ei – aber wo ist der Hahn?

Man nehme ein unreines Hemd, vorzugsweise von einer Frau, und werfe es zusammen mit etwas Weizen in ein Fass. Dann überlasse man diese beiden Zutaten sich selbst. Für etwa drei Wochen. Was entsteht in diesem Experiment?

Noch ein kleiner Hinweis: Durch den Geruch des Weizens verändert sich das Hemd und wird zu einer Haut, die das Getreidekorn überzieht. Was also entsteht? Natürlich Mäuse! Und zwar »nicht junge oder saugende Mäuslein, auch nicht nackende oder unzeitige, sondern völliglich geformte Mäuse«.3

Der weit gereiste Universalwissenschaftler und praktizierende flämische Arzt Johannes Baptista van Helmont (1580–1644) ersann diesen Versuch zum Nachweis der Möglichkeit einer Urzeugung, auch Abiogenese genannt. Sein Experiment wird sicherlich wiederholt erfolgreich verlaufen sein, allein der Weizenkörner wegen. Doch die Sache hatte einen ernsten Hintergrund. Hinter der Theorie stand die spätestens seit der Antike brennende Frage, wie das Leben entstanden sein könnte. Die Beobachtung lehrte seit alters, dass alle Lebewesen nach ihrem Tod über kurz oder lang zu Staub zerfallen. Aus Leben wird also tote Materie. Im Umkehrschluss müsste dann aber auch Leben aus toter Materie entstehen können. Ansonsten kommt man nie aus dem Henne-Ei-Paradoxon heraus. Wenn das Ei zuerst da war, gab es niemanden, der es ausbrüten konnte, war aber die Henne zuerst da, kann sie nicht aus einem Ei geschlüpft sein. Da scheint die Urzeugung doch eine elegante und höchst willkommene Lösung, durch die dem Unbelebten der Lebensgeist eingehaucht wird. Ist die Henne einmal auf der Welt, kann sie Eier legen, und die beobachtbare Ordnung der Welt ist gewährleistet – mal abgesehen vom nächsten Problem, nämlich wie der Hahn entstanden ist. Vermutlich wird auch hier die Urzeugung segensreich gewirkt haben, wären doch anderenfalls die Eier unbefruchtet, es könnten sich keine Küken aus dem Ei pellen und weder andere Hennen noch Hähne entstehen.

Für eine Urzeugung im großen Stil braucht es etwas mehr als ein verschwitztes Frauenhemd und Weizen. Hier müssen die Elemente ran: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Das wussten schon die Vorsokratiker. Auf deren Ideen aufbauend formt Aristoteles (384–322 v. Chr.) die Idee der Abiogenese – wie so vieles andere auch – zu einer fast zweitausend Jahre lang dominierenden Theorie. Er verbindet sie jedoch nicht mit der Entstehung des Lebens als solchem, sondern setzt sie zur Klassifizierung der Arten ein. So sieht der Empiriker unter dem Himmel von Zeus folgende (Zeugungs-)Arten: die Säugetiere, die lebendige Nachkommen zur Welt bringen, jene Geschöpfe, die ihre Jungen über den Weg des Eierlegens in die Welt setzen, und verschiedenes, zumeist eher kleines Getier, das unmittelbar durch Urzeugung entsteht. Zwar beschreibt Aristoteles die Larvenstadien der Insekten sehr genau, er ist sich zugleich jedoch sicher, dass die Raupen der Schmetterlinge »aus den grünen Blättern entstehen, und am meisten aus jenen des Kohls«.4 Auch einigen Fischarten, wie beispielsweise dem Aal, schreibt Aristoteles Spontanzeugung aus Unbelebtem zu. Er entstehe im Sand, so wie auch die Regenwürmer. Die Bienen werden im Kuhmist spontan gezeugt, und »alle Arten der Schalentiere entstehen von selbst im Schlamm«.

Judentum, Christentum und Koran nehmen die Vorstellung der Urzeugung dankbar auf. Hier wie dort entsteht Adam, wie die Regenwürmer bei Aristoteles, aus Erde, während Eva der Rippe des ersten Menschen entstammt. Dieser Schöpfungsakt trägt zwar wesentliche Züge der Urzeugung, indem unbelebte in belebte Materie verwandelt wird, aber sie bekommt einen Autor. Anders als bei Aristoteles und seinen Vorgängern, denen es um den Akt der spontanen und unbeeinflussten Entstehung ging, führt hier der Herr selbst den Taktstock. Diese Nuancierung hält sich das gesamte Mittelalter über und kommt explizit in den Überlegungen des deutschen Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) zum Ausdruck. Der Mann, der die Gesetze der Planetenbewegungen fand, sieht das ganze All von einem Geist beseelt, der mit überschüssiger Materie nach Gutdünken verfährt. In einem Brief an den Entdecker der Sonnenflecken, Johann Fabricius (1587–1617), schreibt Kepler im Oktober 1605: »So verwandelt [der Geist] den Schweiß der Frauen und Hunde in Läuse und Flöhe, den Tau in Heuschrecken und Raupen, den Leim in Aale, die Erde in Pflanzen, das Aas in Würmer, den Kot in Käfer.«5

Erste Experimente oder: Gammelfleisch und Strafe Gottes

Kepler – nicht nur Naturforscher, sondern zugleich evangelischer Theologe – bringt das Verständnis des christlichen Mittelalters auf den Punkt: Gott spricht durch Urzeugung zu den Menschen. Er kann mit den in der Bibel beschriebenen Heuschreckeninvasionen ganze Landstriche veröden und überhaupt nach Belieben Plagen der Menschheit ersinnen. Läuse, Flöhe, Würmer. Und vor allem Krankheiten. Die Theologen interpretieren Seuchen gern als Strafe Gottes, und Dichter wie Giovanni Boccaccio (1313–1375) nehmen diese Sichtweise auf: »Da brach in der herrlichen Stadt Florenz, die jede andere in Italien an Schönheit übertrifft, eine tödliche Pest aus … Durch den gerechten Zorn Gottes wegen unserer lasterhaften Handlungen zu unserer Besserung über die Sterblichen verhängt.«6 Insbesondere Pestepidemien gelten als Beleg für das ebenso strenge wie wachsame Auge Gottes, der sich das sündige Verhalten seiner Schäflein eine gewisse Zeit anschaut, bevor er sie dann grausam bestraft. Dann sind auch die Geißler unterwegs und züchtigen sich selbst bis aufs Blut, um Buße zu tun und gleichsam direkt Anteil am Leid des ans Kreuz geschlagenen Jesus zu nehmen.

Mitte des 14. Jahrhunderts breitete sich von Asien her eine die ganze Welt erfassende Pandemie aus, die allein in Europa 75 Millionen Menschenleben forderte – zu einer Zeit, in der sich die Weltbevölkerung auf gerade einmal 350 Millionen Häupter belief. Vielerorts wussten die Christen, was zu tun war, um dem Schwarzen Tod zu begegnen, und wählten einen für sie weniger schmerzhaften Weg als das Geißeln. Denn schuld an allen Übeln, da wurden sie sich rasch einig, waren im Zweifelsfall die Juden – an Gottes Zorn zumal. Als beliebte Variante zur Rechtfertigung der Pogrome dieser Zeit kursierte rasch die Paranoia von der jüdischen Weltverschwörung, nach der die Semiten durch die gezielte Vergiftung der Brunnen die Pest über die Länder der Welt brachten. So wurden die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung »Gott zu Lobe und zu Ehren und der Christenheit zur Seligkeit«7 exekutiert. In einem gut dokumentierten Fall in Straßburg versicherte man im Februar 1349 den Juden, dass sie ins Exil geschickt würden. Vor den Toren der Stadt nahm man ihnen jedoch all ihre Habseligkeiten ab und pferchte sie in ein Holzhaus, das zugesperrt und in Brand gesetzt wurde. Das geraubte Geld teilten die Christenmenschen dann gerecht unter den Zünften der Stadt auf.8

Einen Brückenschlag vom 14. ins 21. Jahrhundert ermöglicht der evangelikale Prediger Ralph Drollinger. Seit 2017 gab er Bibelstunden im Weißen Haus unter Donald Trump. Er kam zu dem Schluss, dass diejenigen Personen, die eigentlich durch die Corona-Pandemie zurechtgewiesen werden sollten, für Gottes Zorn auf die gesamte US-amerikanische Nation verantwortlich seien. Obwohl Drollinger sich derselben Denkfigur bediente wie manche Christen im 14. Jahrhundert, unterschied sich seine Schlussfolgerung doch ein wenig, denn er machte nicht die Juden für die Corona-Krise verantwortlich. Die Schuldigen sind für ihn vielmehr Schwule, Lesben und Umweltschützer, von denen Erstere die Leidenschaft in den Schmutz zögen und sich Letztere des Glaubens an die falsche »religion of environmentalism« befleißigten, also dem »Götzen Umweltschutz« huldigten.9

Jenseits theologischer und machtpolitischer Zusammenhänge interessierte das Thema Urzeugung vor allem die Ärzte und Naturforscher. Für sie machte es einen entscheidenden Unterschied, ob sich Leben – und damit Krankheit – spontan bilden kann oder ob es in jedem Fall eine zumindest prinzipiell nachverfolgbare Kette von Ursachen gibt. In ersterem Fall hieß es, sich ins Schicksal fügen, in letzterem aber könnte man die wahren Auslöser erforschen und bekämpfen.

Ein erster Ansatz dazu kommt von Girolamo Fracastoro (1477–1553). Als typischer Renaissancemensch beschäftigte sich der Venezianer sowohl mit der Medizin, der Philosophie, der Sternenkunde als auch der Geologie. Und er dichtete. Aus seiner Feder floss ein Poem über die von den Seefahrern aus Übersee heimgebrachte »garstige« Geschlechtskrankheit: »Jener Same ward gesät / Einer Krankheit, die – gar seltsam – ferne Zeiten nie gesehen / Aber heute ganz Europa / Asien, das ferne Libyen / hat durchwütet.«10 Fracastoro taufte die Plage in seinem Gedicht auf den Namen »Syphilis«. Sie wird auch in seinem späten Hauptwerk eine Rolle spielen. Bereits der Titel macht klar, was er als Ursache vieler Krankheiten annimmt, er lautet: De contagione et contagiosis morbis eorumque curatione – »Über Ansteckung, ansteckende Krankheiten und ihre Heilung«.11 Außer über die Syphilis schreibt der mit Leidenschaft praktizierende Arzt über Typhus, Pest, Tuberkulose, Tollwut und Lepra. All diese Krankheiten seien durch winzige, dem Auge nicht sichtbare Erreger verursacht und von Mensch zu Mensch übertragbar. Entweder direkt durch Berührung oder auch indirekt über kontaminierte Kleidung. Fracastoros Ansichten konnten sich in der Medizin nicht durchsetzen. Allzu direkt richteten sie sich gegen den herrschenden Glaubenssatz, wonach üble Dämpfe für die Entstehung epidemischer Krankheiten verantwortlich waren. Außerdem war die Idee der Urzeugung noch zu populär, um gezielte Interventionen gegen zudem noch unsichtbare Krankheitserreger in Angriff zu nehmen. Wozu auch? Letztlich lag das Schicksal ohnehin in Gottes Hand.

Wie sich Mäuse unter normalen Umständen vermehren, dürfte auch für Baptista van Helmont kein Geheimnis gewesen sein. Nicht von ungefähr erwähnt er die nackten, saugenden Jungen.12 So galt die Urzeugung zu seiner Zeit offensichtlich als eine Möglichkeit der Entstehung neuer Individuen. Anders als Aristoteles, der die Abiogenese für bestimmte Arten wohl eher als alternativlos dachte, hielt van Helmont offensichtlich beide Möglichkeiten für denkbar. Wie sollte unter solch unklaren Anfangsbedingungen Ordnung in das Reich der Natur gebracht werden?

Ein Machtwort musste her. Es kam von einem Zeitgenossen van Helmonts, dem englischen Arzt und Anatomen William Harvey (1578–1657). Mit ihm bricht die Zeit der Schlussstriche in diesem immer mehr der Rationalität verpflichteten Jahrhundert an. Harvey fällt bei seinen Tierexperimenten etwas auf, das im krassen Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung steht. Wenn er die Aorta eines seiner Versuchstiere durchtrennt, schießen ihm mit jedem der dem gemarterten Tier noch verbleibenden Herzschläge große Mengen Blutes entgegen. Nach der seit fast anderthalb Jahrtausenden geltenden Theorie von Claudius Galenus bildet die Leber das Blut. Wie aber können solch gewaltige Mengen in jeder einzelnen Sekunde produziert werden? Und vor allem, wie schafft es der Körper, diese Blutmassen zu verbrauchen, ohne dass – zumindest hin und wieder einmal – die Beine anschwellen und der Kopf platzt? All diese Probleme sind mit einem Schlag gelöst, als sich Harvey von der Idee der permanenten Neuschöpfung des Blutes löst. Er wagt 1628 den Bruch mit dem bis dahin unbezweifelten Lehrsatz und stellt fest: »Das Blut bewegt sich bei den Lebewesen in einem Kreise.«13

1651 legt der Wegbereiter der neuzeitlichen Medizin nach und räumt mit einem weiteren Dogma auf, das wieder einmal von Aristoteles und Galen stammt. Dabei geht es nun um die geschlechtliche Zeugung, genauer um die Entstehung des Embryos. Seit der Antike gilt als unumstößlich, dass der Fötus im Samen bereits nahezu komplett vorgeformt ist und dann bis zur Geburt vom weiblichen Menstrualblut genährt wird. Harvey prüft diese Theorie an Hühnerembryos und seziert darüber hinaus die Gebärmutter trächtiger Hirschkühe. Seine Beobachtungen führen ihn zu einem neuen Lehrsatz: ex ovo omnia. Alles entsteht aus dem Ei!14

Alles? Eigentlich sprach Harvey nur von Hühnern, Rotwild und erst im Analogieschluss vom Menschen. Doch als der italienische Arzt Francesco Redi (1626–1697) die Schriften von Harvey las, nahm er das omnia sehr ernst. Was, wenn auch das Kleingetier nicht durch Urzeugung aus Schlamm entsteht, sondern ebenfalls aus befruchteten Eiern? Um diese Frage zu klären, führt Redi ein nicht gerade appetitliches Forschungsobjekt in die experimentelle Wissenschaft ein. Er nimmt sich acht Flaschen, in die er jeweils ein Stück Fleisch legt. Vier der Gefäße verschließt Redi, die anderen bleiben offen. Dann beobachtet er minutiös, was geschieht. Schon bald passieren Fliegen die offenen Flaschenhälse und setzen sich auf das vergammelnde Fleisch. Nach wenigen Tagen sieht Redi dort bereits Maden herumkriechen. In der Vergleichsgruppe mit den versiegelten Flaschen verfault das Fleisch zwar ebenfalls, allerdings entstehen dort keine Maden. Offensichtlich bilden sich die Maden nicht spontan aus Fleisch, sondern haben ihren sehr lebendigen Ursprung in den Fliegen: Ein schlagendes Argument gegen die Urzeugung.

Redi entkräftet mit einem weiteren Versuch gleich im Vorhinein einen möglichen Einspruch gegen sein Experiment. Denn schließlich wäre es ja möglich, dass die Urzeugung zumindest ein wenig Luft benötigte, um sich vollziehen zu können. Also verändert Redi seinen Versuchsaufbau ein bisschen. Vier Flaschen bleiben offen, die restlichen werden anstatt mit einem Korken nur mit einem Fliegengitter verschlossen. Obwohl Redi also die Luftzufuhr gewährleistet, kriechen nach einiger Zeit wiederum nur auf dem Fleisch in den offenen Flaschen Maden herum. Die vom Fliegengitter abgeschirmten Proben gammeln dagegen ohne Getier vor sich hin. So kann Redi zwar einen Beweis für die natürliche Herkunft der Maden erbringen, das Konzept der Urzeugung aber war damit noch lange nicht vom Tisch.

Eine neue Dimension oder: elende Biestchen unterm Flohglas

Ausgerechnet ein neues Instrument, mit dem die Klärung der Herkunft und Entwicklung von Kleinstgetier und Krankheitserregern hätte glücken können, rettete die Legende von der Spontanentstehung des Lebendigen aus toter Materie. Technologien sind halt manchmal nur so schlau wie ihre Benutzer. Einen Beleg dafür liefert Antoni van Leeuwenhoek (1693–1723). Der Niederländer hatte nicht nur nicht Biologie studiert, sondern überhaupt keine Universität je von innen gesehen. Die Buchhalterlehre, zu der ihn seine Mutter drängte, weil sie ihn in einer Beamtenlaufbahn gut versorgt sehen wollte, brach er ab. Stattdessen wurde er Tuchhändler und ließ sich, gerade 22-jährig, mit eigenem Haus und Geschäft in seiner Geburtsstadt Delft nieder. Obwohl er auch den Rest seines Lebens, immerhin weitere siebzig Jahre, dort blieb, muss van Leeuwenhoek äußerst umtriebig gewesen sein. Er fungierte als Kammerherr im städtischen Gericht, als Eichmeister für alkoholische Getränke, schließlich als Oberstadtdirektor. Eine tiefe Freundschaft verband ihn mit dem gleichaltrigen Maler Jan Vermeer (1632–1675), dessen Nachlass er später verwaltete. Bei einem Besuch des städtischen Jahrmarkts fand van Leeuwenhoek eines Tages seine eigentliche Bestimmung. Am Stand des Brillenschleifers entdeckte er ein sogenanntes Flohglas. Eine Linse, mit der man die Welt um einen herum stark vergrößern konnte. Sogar die kleinen Plagegeister auf der Haut nahmen so Gestalt an und mussten für den Spitznamen der geschliffenen Gläser herhalten. Van Leeuwenhoek jedenfalls begeisterten sie nachhaltig. Sogleich soll er den Händler bekniet haben, ihn in der Kunst ihrer Herstellung zu unterweisen. Der Linsenschleifer tat ihm schließlich den Gefallen, woraufhin van Leeuwenhoek nun jede freie Minute mit dem Schmelzen und Polieren von Gläsern zubrachte und sich dabei sehr geschickt anstellte. Außerdem konstruierte er eine Schraubvorrichtung, mit der er die Gegenstände seiner Forscherbegierde punktgenau vor der Linse fixieren konnte. In dieser Art entstanden über die Jahre mehr als 500 Mikroskope. Sein Meisterstück lieferte der Niederländer mit einer Linse, die eine 270-fache Vergrößerung aufwies. Eine beachtliche Leistung, denn gewöhnliche Lichtmikroskope unserer Tage schaffen kaum mehr als den Faktor 1000. Dabei arbeitete van Leeuwenhoek noch gar nicht mit Objektiv und Okular, sondern nur mit einer einzigen Linse. So gesehen war sein Mikroskop eigentlich nicht mehr als ein besseres Vergrößerungsglas.

Der Hobbyforscher widmet sich leidenschaftlich jener Welt, die dem menschlichen Auge ansonsten verschlossen bleibt. Alles Mögliche landet auf seinen Objektträgern. Von Bienenstacheln und Käferbeinen über Läuse, deren Augen er gesehen haben will, bis hin zu Mücken, deren Rüssel er eingehend betrachtet. Van Leeuwenhoek kann sich nicht sattsehen. Seine Beobachtungen werden zu Beginn einzig von der Faszination der kleinsten Dimensionen angetrieben. Ein tieferes Interesse an der Erforschung der Natur entwickelt sich erst, als er einen Tropfen von einem Heuaufguss mikroskopiert. Er traut seinen Augen nicht. So wenig van Leeuwenhoek von der kleinen Menge klarer Flüssigkeit erwartet hatte, so stark wird er von seinem Fund überrascht. Auf der anderen Seite der Linse wimmelt es von Tierchen, die sich wieselflink bewegen. Immer wieder schaut er in sein Mikroskop, aus Angst, diese Wunderwelt könne nur in seiner Fantasie existieren. Doch die putzmunteren »Dierkens«, wie er sie in seiner Landessprache nennt, sind noch da. Nur ein Mann kann ihm jetzt helfen.

Van Leeuwenhoek eilt zu seinem Freund Reinier de Graaf (1641–1673). Der studierte Mediziner hatte sich als Entdecker der Eibläschen im Uterus einen, heute im Graaf-Follikel verewigten, Namen gemacht und war sogar Mitglied der Londoner Royal Society. Allerdings zeigt er sich ebenso ratlos wie fasziniert angesichts des fröhlichen Treibens unter dem Mikroskop. Für ihn steht fest: Van Leeuwenhoek hat eine epochale Entdeckung gemacht. Gern würde er sich selbst der Sache annehmen, doch de Graaf belastet gerade eine Urheberstreitigkeit mit dem Anatomen Jan Swammerdan (1637–1680). Es geht dabei um eine Technik zur Darstellung von Blutgefäßen. Der Plagiatsvorwurf gegen de Graaf zerrt wohl derart an seinen Nerven, dass er schließlich freiwillig aus dem Leben scheidet. Vor seinem Suizid findet er jedoch noch Gelegenheit, der Royal Society die Beobachtungen van Leeuwenhoeks zu empfehlen. Und das war gut so, denn die hochgelehrten Herren zeigten sich von den Berichten des Autodidakten aus Delft ebenfalls reichlich überfordert. In linkischem Stil beschrieb er, was er in seinem Mikroskop gesehen hatte: »Elende Biestchen, die munter laufen, da sie mit unglaublich dünnen Füßchen ausgestattet sind. Sie machen halt, stehen gleichsam auf einem Punkt, drehen sich dann mit einer Schnelligkeit, wie wir sie an einem Kreisel sehen, und der Rahmen, in dem sie sich bewegen, ist nicht größer als ein Sandkorn.«15

Der unermüdliche van Leeuwenhoek untersuchte alles, was ihm unterkam. Ein Tropfen aus dem Teich, etwas Regenwasser und sogar ein aufgelöstes Pfefferkorn – all diese Flüssigkeiten enthielten »eine unglaubliche Menge verschiedenartigster winziger Dierkens«.

Im wissenschaftlichen Olymp zu London mag man nicht glauben, was man da liest. Die renommiertesten Wissenschaftler der Zeit spotten über die Berichte aus den Niederlanden. Hätte ihnen die Empfehlung de Graafs nicht vorgelegen, wer weiß, ob van Leeuwenhoeks Schilderungen nicht als fantastische Ausgeburten eines überspannten Geistes abgetan worden wären. So aber beauftragt man zwei Mitglieder der Gesellschaft, das leistungskräftigste Mikroskop zu besorgen, das aufzutreiben ist, und die Versuche zu wiederholen. Nun sehen auch die Mitglieder der Royal Society das Gewusel, das in einem einzigen Wassertropfen herrscht. Daraufhin ermuntern sie van Leeuwenhoek, ihnen weiter zu berichten, und tragen ihm sogar die Mitgliedschaft in ihrem erlesenen Kreis an.

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Zeichnungen von Mikroorganismen durch Antoni van Leeuwenhoek

So erhält der nicht studierte Autodidakt die Meriten des Ausnahmewissenschaftlers. Allerdings ruht er sich nicht auf den frischen Lorbeeren aus, sondern mikroskopiert weiter, fertigt Zeichnungen an und schreibt. Der Höhepunkt aus heutiger Sicht ist dabei sicherlich seine Untersuchung des Zahnbelags, bei der er mehrere Arten von Bakterien entdeckt. Wobei »entdecken« dann doch zu viel der Ehre ist, denn van Leeuwenhoek beschreibt zwar die »Dierkens, die ihre Körperchen in graziösen Windungen, fast wie Schlänglein bewegen«16, aber er hatte keinerlei Vorstellung davon, dass es sich hierbei womöglich um Krankheitserreger handeln könnte. Auch Aufbau und Struktur dieser Mikroorganismen konnte er nicht aufklären. Und das Ertüfteln von Experimenten lag ihm fern. Van Leeuwenhoek lebte letztlich jene Faszination in vollen Zügen aus, die er einst auf dem Jahrmarkt erfahren hatte. Davon legt sein lebendiger Bericht Zeugnis ab: »Sie zeigten die lebhafteste und schnellste Bewegung und bewegten sich durch das Wasser oder den Speichel, wie ein Raubfisch durch das Wasser schiesst; sie waren wenn auch überall, so doch wenig zahlreich. Die zweite Art drehte sich oft im Kreise herum nach Art eines Kreisels. Diese waren in grösserer Zahl vorhanden. Bald schienen sie länglich rund, bald vollkommen rund zu sein; sie waren so winzig klein und ausserdem bewegten sie sich so schnell vorwärts, dass sie durcheinander geriethen: sie boten ein ähnliches Bild wie eine grosse Zahl durcheinander tanzender Mücken oder Fliegen.«17

Arcana naturae detecta18