Walter Kaufmann
Stimmen im Sturm
ISBN 978-3-96521-266-4 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
Vom Autor bearbeitete deutsche Ausgabe seines zuerst 1953 unter dem Titel „Voices in the Storm“ in englischer Sprache erschienenen Romans.
2020 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
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Es war schon kühl. Der herbstliche Nordwind trieb den Rauch der fernen Stahlwerke den fliehenden Wolken nach, strich vom Ruhrorter Hafen her über den Fluss, über das Brachland, fing sich im Wald über dem Tal. In den Wipfeln der Bäume wirbelten die Blätter und fielen taumelnd zu Boden. Das trockene Laub raschelte unter den Füßen der beiden, die auf dem Waldwege daherkamen. Da trug ihnen der Wind die Melodie eines wehmütigen Liedes entgegen. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum.
Lauschend blieben sie stehen. Das Mädchen sah auf den Jungen herab und begann leise mitzusummen.
Der Junge wandte sich ab und blickte in die Richtung, aus der der Gesang kam. Er war klein für seine sieben Jahre und wirkte schwächlich, doch seine glatte, von der Sonne gebräunte Haut verriet nichts von der Krankheit, die ihn lange Zeit zwischen vier Wänden festgehalten hatte. Seine Augen und sein Haar waren dunkel. Auch das Mädchen hatte dunkle Augen und dunkles Haar, man hätte es für seine zehn Jahre ältere Schwester halten können.
Das Spiel der Mundharmonika war verklungen, der Wind hatte sich gelegt. Ein Zittern erfasste das Laub der Bäume. Der Junge zeigte auf die Regenwolke tief über dem Wald. Da fielen auch schon die ersten Tropfen, und die beiden machten sich eilig auf den Weg zu der nahen Waldhütte. Kaum waren sie angelangt, ging eine Sturmflut nieder.
Sie standen im Eingang hinter einem Wasserschwall, der vom Dach der Hütte floss, und blickten zurück. Das feuchte Haar hing dem Jungen in die Stirn. Er fror. Behutsam legte ihm das Mädchen den Arm um die Schultern. Ganz nah, doch kaum lauter als zuvor, hörte er wieder die Melodie. Sie kam aus dem Innern der Hütte. Verstohlen blickte er sich um.
Drinnen saßen Männer auf der Holzbank und sahen zu ihm herüber. Matt hoben sich ihre Gesichter vom Dämmerlicht ab. Sie waren alle ärmlich gekleidet, und ihr Anblick war ihm unheimlich. Er schaute auf die schadhaften Stiefel und fleckigen Schiebermützen, auf die geflickten Jacken und abgetragenen Mäntel mit den ausgebauschten Taschen.
„Hilde, was sind das für Leute?“, flüsterte er.
Sie antwortete nicht. Er hörte Schritte hinter sich, sah auf einmal eine Hand auf Hildes Arm, rissige Fingernägel, nikotinbraune Knöchel, und als er erschrocken zu dem hochgewachsenen Mann aufblickte, gewahrte er ein schlechtrasiertes, hageres Gesicht, das sich Hilde zuwandte.
„Gerhart!“, rief Hilde. „Du? Was machst du hier?“
„Was man eben so macht, wenn man die Zeit totschlägt.“
Der Mann lächelte. Plötzlich unsicher geworden, strich er mit dem Finger über seine Unterlippe, über jene dunkle Stelle, die wie ein Brandmal aussah. Sein blondes Haar war lang und strähnig. Er trug einen dünnen Mantel, darunter eine Strickweste und ein kragenloses Hemd. Die Hosen waren vom rauen Leder der Stiefel fransig gerieben. „Hab dich lange nicht gesehen“, sagte er. „Zu lange nicht!“
Hilde nickte. Der Mann zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr über die Schultern, was sie mit einem Seitenblick auf den Jungen abzuwehren versuchte. Dieser musterte den Fremden argwöhnisch. Was hatte Hilde mit dem zu tun? Und überhaupt, was waren das für Leute, die alle aussahen wie Bettler?
Der junge Arbeiter in der Hütte hatte aufgehört zu spielen. Langsam ließ der Regen nach, und zwischen aufgerissenen Wolken stieß die Sonne hervor. Vom Dach rieselte es langsamer, bis nur noch einzelne Tropfen glitzernd herabfielen. Aus dem Unterholz stieg feiner Dunst auf. Eine Krähe flog krächzend von Baum zu Baum. Der Junge zog das Mädchen am Arm.
„Wie spät mag es sein?“, hörte er hinter sich fragen. „Spät oder früh“, antwortete jemand und lachte bitter auf. „Was hast du schon zu versäumen?“ – „Wie wär’s mit ’ner Kippe“, ließ sich ein anderer vernehmen. „Hat einer ’ne Kippe?“
Der Junge sah das Mädchen an. „Warum gehen wir nicht?“, fragte er. „Es hat doch aufgehört zu regnen.“
„Gleich, wir gehen ja gleich.“
Sie wollte den Mantel abstreifen, doch der Mann hielt sie zurück. „Ich begleite dich noch ein Stück – wenn du willst.“
„Natürlich will ich“, sagte sie. „Ich habe dich nicht gleich erkannt, weil ich dich hier nicht erwartet habe.“
Er strich sich über die Stirn, warf sein Haar zurück. In seine hellgrauen Augen stahl sich wieder ein Lächeln. „Oder hast du was dagegen, Daniel?“, fragte er den Jungen.
„Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ „Weil ich Hilde schon lange kenne.“ Daniel schwieg, und während er den beiden mal voraus-, mal hinterherlief, den feuchten Waldweg entlang am Wasserturm vorbei und weiter durch den Stadtwald bis hin zum Botanischen Garten, hörte er nur wenig von dem, was sie sprachen.
„Es hat sich zwischen uns doch nichts geändert in all den Wochen?“, hörte er den Mann fragen. „Wenn auch die Zeiten immer schlechter werden, ein paar Reparaturen fallen schon noch an, die bringen noch immer was zum Stempelgeld dazu. Mein Rennrad hab ich auch verkauft und das Geld für uns gespart – das wäre doch ein Anfang.“
„Ach, Gerhart“, sagte Hilde.
„Das ist keine Antwort“, sagte er. „Ich will dich heiraten. Hab lange genug darüber nachgedacht. Zusammen würden wir es schon schaffen.“
„Sollten wir nicht besser ein andermal darüber reden?“ Sie deutete auf den Jungen.
„Wann denn?“ Er wurde ungeduldig. „Vielleicht sehen wir uns nie mehr wieder, wenn du jetzt nein sagst.“
„Ich sage nicht nein, ich sage nur: später.“
„Ich verstehe“, erwiderte er leise.
Mit Tränen in den Augen versuchte sie zu lächeln und gab ihm den Mantel zurück. „Ich komm heute Abend vorbei und bring dir was zu essen mit.“
Er warf den Mantel über die Schulter und schüttelte den Kopf. „Das brauchst du nicht. Ich komme schon durch. Mach’s gut, Hilde.“
„Du verstehst gar nichts, gar nichts verstehst du“, sagte sie.
„Ich weiß schon, was dich zurückhält, und ich mach dir keinen Vorwurf. Jeder muss zusehen, wo er bleibt.“
Der Botanische Garten lag jetzt hinter ihnen. Sie hatten die Hohenzollernstraße erreicht, die zur Prinzenstraße führte. Es war nicht mehr weit bis zu dem Haus, wo der Junge wohnte und sie in Stellung war. Die sinkende Septembersonne spiegelte sich in den Fenstern der umzäunten Villen auf der anderen Straßenseite. Autos rollten über den Asphalt, bogen ein in Auffahrten, die durch tiefe Gärten zu Garagen führten. Die Gaslaternen flackerten auf und warfen mattes Licht in den schwindenden Tag. Die weißen Emailleschilder der Wach- und Schließgesellschaft an den Gartentoren schimmerten hell im Dämmerlicht. Daneben stand: Betteln und Hausieren verboten!
„Geht schon zu. Weit habt ihr’s ja nicht mehr“, hörte der Junge den Mann sagen.
„Ist das alles?“, fragte Hilde leise.
Er antwortete: „Es ist vielleicht wirklich besser, du suchst dir einen, der mehr für dich tun kann als ich.“
Sie drehte sich langsam um und fasste die Hand des Jungen, und dann, noch leiser jetzt, als spräche sie zu sich selbst, sagte sie: „Er versteht mich nicht. Oder will mich nicht verstehen.“
Ich begreife mehr, als sie ahnt, dachte Gerhart Winkel. Ihr Zögern war eindeutig, wie eine Ablehnung. Was hatte er auch erwartet? Sie war nicht einmal achtzehn und hatte alles noch vor sich. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren, arbeitslos, auf Stempelgeld und Schwarzarbeit angewiesen, kam er sich alt wie Methusalem vor. Sie hatte ja recht. Es war selbstsüchtig, von Heiraten zu sprechen.
Er vermied es, durch die Straße nach Hause zu gehen, in der das Haus stand, diese pikfeine Villa der Rubens, für die Hilde arbeitete. Nur raus aus dieser Gegend, weg von hier! Er ging schneller. Er hatte Hunger, ihm war kalt. Nachdem er rechts in die Zieglerstraße abgebogen war, erreichte er in wenigen Minuten den Bahndamm in der Blumenthalstraße und folgte dann dem Bahndamm stadteinwärts. Ein Güterzug ratterte vorbei, die Lokomotive stampfte, der Wind blies ihm Rauch ins Gesicht. Er stellte sich in einen Torbogen. Der Rauch lag tief in der Straße, zog an der geschwärzten Mauer entlang, die den Damm von der Straße trennte. Er wartete nicht ab, bis sich der Rauch verzogen hatte, und ging weiter.
Vor Lerners Tabakladen blieb er stehen. Ein Päckchen Salem, wenigstens eine Zigarette jetzt. Er kramte in seinen Taschen, aber nicht einmal ein Groschen fand sich. Er überlegte, was geschehen würde, wenn er einen Ziegelstein durchs Fenster warf. Im Nu hätte er was zu rauchen, und wenn die Polente ihn schnappte, auch kein Problem! Die nächsten vierzehn Tage, vielleicht mehr, wären gesichert; ein Dach überm Kopf und was Warmes im Bauch, auch wenn’s nur Rübensuppe war. Er wäre nicht der erste, der das machte. Aber konnte er das Opa Lerner antun? Eine Salem, die würde der Alte ihm auch vorstrecken. Gerade wollte er den Laden betreten, da streckte sich ihm eine Hand mit einer offenen Schachtel Zigaretten entgegen.
„Stehst da wie ein Ochse vorm Berg“, hörte er eine Stimme sagen, die ihm bekannt vorkam. „Da, steck dir eine an!“
„Der Retter in der Not“, sagte Gerhart, als er den Mann erkannte. Die braune Uniform hatte Willi Kuntz gehörig verändert. Nichts erinnerte mehr an den Mann, der noch vor kurzem abgerissen wie er herumgelaufen war. „Geht wohl aufwärts mit dir?“, fragte er.
„Stimmt genau.“ Willi Kuntz strich ein Streichholz an. „Rauchen musste schon selbst.“ Er schlug Gerhart gönnerhaft auf die Schulter.
„Du scheinst es zu haben. Vor ein paar Wochen saßen wir noch in einem Boot.“
„Die Zeiten ändern sich.“
„Ich merk’s. Na dann, mach’s gut.“ Gerhart wandte sich zum Gehen.
Aber Kuntz hielt ihn am Arm fest. „Läuft wohl nicht mehr so in deiner Bastelbude, wie?“
„Hast du ein Fahrrad zu reparieren, oder warum fragst du?“
„Stehn eine Masse Fahrräder im Hof unseres Sturmlokals“, sagte Kuntz. „Sicher sind ein paar dabei, die mal ’ne Durchsicht brauchen. Könnte das klarmachen, vorausgesetzt …“
„Vorausgesetzt, was?“
„Glaubst wohl, ich rede nur so herum? So viel Arbeit könnt ich dir schon beschaffen, dass du wieder was zu rauchen hast. Komm mal vorbei, weißt ja, wo wir sitzen. Heut Abend bin ich da.“
„Ist ein Wort.“
Gerhart zwickte die Glut von seiner Zigarette, steckte den Rest sorgfältig weg, sah Kuntz kurz an und ging dann weiter, der Moltkestraße zu, wo er wohnte.
Der faule Geruch der nahen Gaswerke drang durch das Fenster, das er zu schließen vergessen hatte. Es war nass-kalt in seinem Zimmer im dritten Stock des Logierhauses. Gerhart zwängte sich zwischen eisernem Bett, Stuhl und Schrank zum Fenster durch und warf es zu. Einen Augenblick starrte er in den Hof, auf den Schuppen, der ihm als Werkstatt diente. Das Vorhängeschloss müsste ich ölen und die Kette einfetten – ach was, dachte er, wozu? Er wandte sich ab, gab dem Stuhl einen Stoß, dass er umfiel, stieg drüber hinweg zur Tür und schaltete das Licht an. Er blickte in den zerbrochenen Spiegel, wobei er sich mit der Hand über sein borstiges Kinn fuhr. Und so einer will heiraten, sagte er sich und lachte auf.
Mit einem Ruck öffnete er den Schrank, riss die Jacke vom Bügel, das einzige Kleidungsstück, das dort hing, und warf sie aufs Bett. Die Sprungfedern quietschten, als er sich setzte, er sank ein wie in eine Hängematte. Mit einer Rasierklinge trennte er den Saum auf und zog die Geldscheine unter dem Futter heryor: vierzig Mark! Mein Rennrad, dachte er, vier mal vierzig Mark war es wert gewesen. Wie lange hatte es an der Wand in der Werkstatt gehangen und Rost angesetzt? Gut und gern zwei Jahre, seit dem Tag, als er sich mit Rolf Windau, dem Vorsitzenden des Radfahrbundes, angelegt hatte. Und was hatte ihm der Ärger eingebracht? Zwischen Baum und Borke war er gelandet, konnte keine Rennen mehr fahren und keine Reklame für die Schlinke-Werke. Zu allem Übel hatte die Werkleitung ihn auch noch auf die Straße gesetzt – arbeitslos! Schluss, aus, Feierabend!
Er stopfte das Geld in die Manteltasche. Dabei entdeckte er die Zigarettenkippe, die er sich aufgehoben hatte. Auf der Suche nach Streichhölzern fand er nur einen Kanten hartes Brot im Spind, ein paar leere Tüten und ein halb volles Sirupglas. Er empfand Widerwillen. Das Zeug hatte er heute nicht nötig. Vierzig Mark! Das war ein Haufen Geld. Er schlug die Spindtür zu, dass es dröhnte, verließ schnell das Zimmer und stieg mit langen Schritten die Treppe hinunter. Heftig ließ er die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und ging in die Richtung zum Tunnel, der unter dem Bahndamm zum Hindenburgplatz führte.
„Das Gedeck“, sagte er zu der Kellnerin in der „Ackerfähre“, „Blumenkohlsuppe, Schweinebraten, Apfelmus – und vorher noch ein Bier und eine Schachtel Salem.“
Die Frau sah ihn misstrauisch an. Männer wie dieser bestellten gewöhnlich nur Eintopf und legten das Geld gleich auf den Tisch.
„Nur keine Bange. Ich bleib Ihnen schon nichts schuldig.“
Sie zuckte mit den Schultern, eilte zur Theke, raunte dem Wirt was zu und kam mit dem Bier und den Zigaretten wieder.
„Rauchwaren werden immer gleich bezahlt. Die rechne ich gesondert ab.“ Die Kellnerin verbarg ihr Erstaunen nicht, als er bedächtig einen Geldschein auf den Tisch legte. „Nichts für ungut“, sagte sie. „Aber so will’s der Chef.“
Er strich das Wechselgeld ein, öffnete die Zigarettenschachtel und ließ sich Feuer geben. Das Bier trank er in einem Zug aus. Doch schon das nächste Glas wollte ihm nicht mehr schmecken. Da saß er nun allein in dieser halb leeren Kneipe und vertrank das Geld, das er für sich und Hilde gespart hatte. Die Flügeltür der Kneipe wurde aufgestoßen, welke Herbstblätter wehten über die Schwelle. Er blickte auf und erkannte seinen Zimmernachbar aus dem Logierhaus. Mit einer Kopfbewegung winkte er ihn zu sich heran. „Komm her, ich kauf dir ein Bier.“
„Sieh mal an“, sagte Otto Rachwitz. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Noch ein Bier“, sagte Gerhart zu der Kellnerin, die jetzt die Suppe servierte, und schob Rachwitz die Zigaretten hin, dabei bereute er schon, den Mann eingeladen zu haben. Der hatte es viel weniger nötig als die meisten, die er kannte, verstand es immer, ein paar Mark zu ergattern, und war knauserig.
„Sogar Schweinebraten“, sagte Rachwitz neidisch. „Würde ich mir auch leisten, wenn ich Geld hätte. Na, dann prost!“ Er trank, nahm eine Zigarette und breitete, wie um seine Schuld wettzumachen, den neuesten Klatsch aus. Gerhart ließ das Gerede über sich ergehen, war sogar froh über die Ablenkung.
„Kennst doch Rabenalt, den Schankkellner aus der Blinden Kuh?“
„Zur Genüge“, sagte Gerhart.
„Der ist tot.“
Gerhart ließ für einen Augenblick Messer und Gabel sinken und sah Rachwitz an. Knut Rabenalt, das war der Kerl, dem er seine Entlassung aus den Schlinke-Werken verdankte, der ihn verpfiffen hatte, damals, als er noch zum Radfahrbund gehörte. Hatte der nicht mitangehört, wie Rolf Windau ihm wegen der Reklamefahrten für die Schlinke-Werke Vorhaltungen machte? Ein Arbeiter gibt sich nicht für so was her, hatte ihm Windau erklärt und sogar gedroht, ihn nicht mehr für Wettrennen zu nominieren – entweder, oder … Da war er sich mit Windau in die Wolle geraten, das Reklamefahren aber hatte er aufgegeben. Nicht lange danach war er bei der nächsten Entlassungswelle auf die Straße geflogen. Kein Zweifel, daran war Knut Rabenalt schuld, dieser miese Spitzel!
„Rabenalt ist tot?“, fragte er ungerührt.
„Mausetot!“, bestätigte Rachwitz. „Es sollen welche gewesen sein, die er mal verpfiffen hat und die dann rausgeschmissen wurden. Nun ist er ein Held geworden. Kannst dich selbst überzeugen. Die Nazis haben ihn in ihrem Sturmlokal am Nürenweg aufgebahrt. Ist das etwa kein Bier wert?“
„Zahlen!“, sagte Gerhart zu der Kellnerin und hatte es plötzlich eilig.
Otto Rachwitz sah ihn verwundert an. Gerhart zahlte und verließ, ohne Rachwitz die Hand zu reichen, schnell das Lokal.
Vom Hindenburgplatz bog er in die Hausstraße ein, war kurz darauf beim Bahndamm und wenige Minuten später am Sturmlokal. Neben der Laterne vor dem Haus hatte sich eine Gruppe Arbeiter zusammengefunden, von denen er einige kannte – Lutz Sorgenfrey, Sigi Schäfer, Hans Hellmig, alles ehemalige Schlinke-Arbeiter. Auch Wilhelm Bottrop war da, der Meister aus Halle IV, Vaters langjähriger Freund, der nach Vaters tödlichem Unfall die Grabrede gehalten hatte. Gerhart ging zu den Männern hin. Er brauchte keine Fragen zu stellen, blickte nur zum Eingang des Sturmlokals, der hell erleuchtet war und von zwei SA-Männern bewacht wurde, die jeden beobachteten, der die Treppe hinaufging.
„Die machen viel Staat mit dem Dreckskerl“, hörte er den kleinen Alfons Negwey sagen, den Kassierer vom Radfahrbund, der zur selben Zeit wie er aus den Schlinke-Werken entlassen worden war.
„Wart’s ab. Das läuft erst an“, warnte Lutz Sorgenfrey.
„Hauptsache, es spricht sich rum, dass es nur eine Keilerei und überhaupt nicht politisch war“, sagte Wilhelm Bottrop. „Sonst schaffen die wirklich noch, es Rolf Windau in die Schuhe zu schieben.“
„Den haben die eigenen Leute auf dem Gewissen, keiner von uns. Da kannst du Gift drauf nehmen“, meinte Sorgenfrey.
„Sieh dich vor!“, sagte Wilhelm Bottrop.
Gerhart ging zur Hausmauer, zündete sich im Windschatten eine Zigarette an. Neben ihm fragte ein junger Bursche den SA-Posten, was im Sturmlokal los sei.
„Einer von Hitlers Kämpfern ist dort aufgebahrt“, antwortete der Posten laut. „Den hat die Kommune ermordet.“
„Das behauptet ihr!“, rief jemand über die Straße. „Wenn dieser Lump ein Kämpfer war, dann prost Mahlzeit!“
Gerhart wandte sich schnell um und sah einen Mann im Dunkeln verschwinden. Die Posten zogen die Sturmriemen fest unters Kinn. Gerhart wartete. Nichts weiter geschah. Langsam, die Zigarette im Mundwinkel, ging er zwischen den Posten die Treppe hoch.
„Respekt vor dem Toten!“, brüllte einer ihn an. „Die Zigarette aus!“
Gerhart ließ die Zigarette fallen. Durch den Gang gelangte er in einen Raum, der im Halbdunkel lag. An der Hinterwand waren Fahnen gespannt, die von Scheinwerfern angestrahlt wurden. Scharf hoben sich die Hakenkreuze in den weißen Kreisen ab. In der Mitte des Raums stand in Schulterhöhe ein offener Sarg, in dem zwischen Blumen eine Gestalt in Braunhemd und brauner Mütze gebettet war. Das breite Gesicht leuchtete wächsern. Der Tod hatte Rabenalt eine gewisse Würde verliehen, nun noch betont durch das Scheinwerferlicht. Die Blumen, die Kränze am Boden und die beiden regungslosen SA-Posten neben dem Sarg. Teufel noch eins, dachte Gerhart, wer den nicht gekannt hat, wird nicht unbeeindruckt bleiben! Tote reden nicht. Und dieser Spitzel gibt immerhin eine brauchbare Leiche ab. Er ging um den Sarg herum und wieder auf den Gang zurück. Dort stand ein mit einer Hakenkreuzfahne bedeckter Tisch, auf dem Listen lagen. Dahinter saß jetzt Willi Kuntz.
„Tretet ein in die Reihen der Rächer!“, rief er den Vorbeigehenden zu. „Alles für Deutschland! Tretet ein …“ Als er Gerhart erkannte, stockte er. „Sieh mal an!“ Er schob ihm eine Liste zu. „Trag dich ein.“ Dann nahm er ihn beiseite und sagte: „Das mit den Fahrrädern geht klar.“
„Wirklich?“ Gerhart deutete mit dem Kopf nach dem Toten. „Das war ein Prachtkerl, als er noch lebte!“
„Wie meinst du das, Mann?“, fragte Kuntz.
Gerhart zog die Zigarettenschachtel aus seiner Manteltasche und fingerte eine Zigarette heraus. „Die schulde ich dir noch, jetzt sind wir quitt.“
„Ach, so ist das!“, rief Kuntz.
„Genau“, sagte Gerhart. „So ist das.“
Die Pappeln stachen nackt in den grauen Novemberhimmel, kahl lag der Garten da, und die Sicht war frei auf das unbebaute Grundstück neben dem Haus der Rubens. Aus einem Ofenrohr, das aus der Erde herausragte, stieg dünner Rauch auf, doch keine Menschenseele war zu sehen. Daniel lief aus dem Haus in den Garten und kletterte über den Zaun. Vorbei an Büchsen, Flaschen, rostigen Töpfen, über Draht und Steine näherte er sich vorsichtig dem Rohr und spähte durch einen Spalt der Holzverschalung, die eine mannstiefe, kammergroße Ausschachtung verdeckte. Er zählte sechs Jungen, die auf Kisten vor einem Holzfeuer hockten. Als ein Stein sich unter seinen Füßen löste und auf die Verschalung fiel, kroch einer der Jungen blitzschnell durch einen Schacht nach draußen und stemmte sich hoch.
„Was spionierst du hier herum?“
„Eine dufte Höhle habt ihr da“, sagte Daniel. „Und gut getarnt ist sie auch.“
Das beeindruckte den Jungen wenig. „Nicht gut genug, wie’s aussieht.“ Er war vier Jahre älter als Daniel, hatte dunkles Haar und über dem linken Auge eine kleine, noch nicht verheilte Narbe, die die Braue spaltete und bis zum Augenlid reichte.
„Wie ist das passiert?“, fragte Daniel.
Der Junge antwortete nicht und begann Daniel auszuhorchen. Wo er herkäme, wollte er wissen, und wo, wenn Daniel schon vier Monate in der Villa wohne, er in all den Wochen gesteckt habe. „Der reinste Stubenhocker.“
„Überhaupt nicht“, sagte Daniel.
„Ich war krank.“
„Ach so“, lenkte der Junge ein, „das ist was anderes.“ Als Daniel ihn fragte, ob er sich die Höhle mal ansehen dürfe, sagte er: „Na, komm schon mit.“
Der Widerschein des Feuers erhellte die Gesichter der Jungen nur schwach. Sie waren alle älter als er. Abwartend hockte er sich auf die Stufe unter dem Schacht. Schweigend wurde er gemustert, bis der älteste, der gerade eine an einem Draht aufgespießte Kartoffel briet, sagte: „Wenn du hier mitmachen willst, musst du erst mal zeigen, was du kannst. Wie schnell bist du über sechzig Meter?“
„Weiß ich nicht“, antwortete Daniel.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Hier weiß jeder seine Zeiten“, sagte er und zählte auf, wie viel Sekunden die anderen für die Strecke brauchten, der Jürgen, Hans, Kurt, Erich und Werner. „Werner ist mein Bruder. Ich heiße Franz und halte die Truppe hier zusammen. Wie heißt du?“
„Daniel Ruben.“
„Na schön. Neun Komma fünf müsstest du schon drauf haben, sonst spielt sich hier nichts ab.“
„Hab ich.“
„Das überprüfen wir noch mit ’ner Stoppuhr“, sagte Franz Kolb. „Jetzt verschwinde mal und warte oben auf uns.“
Daniel kroch durch den Schacht nach draußen und setzte sich auf einen Autoreifen. „Was machen wir mit dem?“, hörte er unten jemand fragen, doch die Antwort ging unter in unverständlichem Gemurmel. Endlos lang schienen ihm die Minuten, bis die Jungen schließlich aus der Höhle stiegen.
„Also“, sagte Franz Kolb, „fürs Erste mal folgendes: Du versteckst dich im Umkreis von Hohenzollern- und Kaiser-Wilhelm-Straße. Wir zählen bis vierzig, dann scheren wir aus und suchen dich. Privathäuser sind natürlich nicht drin, nur Stellen, wo jeder hin kann. Kapiert?“
Daniel nickte.
„Finden wir dich binnen einer Stunde nicht, dann kannst du morgen wiederkommen und bringst ein paar Kartoffeln mit. Finden wir dich doch, dann ist erst mal Schluss. Dann kann dir nur noch die Stoppuhr helfen.“
„In Ordnung“, sagte Daniel.
„Achtung, fertig, los!“, rief Franz Kolb und begann langsam zu zählen.
Daniel rannte auf den Holzzaun am anderen Ende des Grundstücks zu, zog sich an einem Pfosten hoch, seine dünnen Arme spannten sich, er sah noch, wie die anderen warteten, dann sprang er in die Straße. Dabei riss er sich das Knie auf, Blut sickerte hervor, er achtete nicht darauf und lief davon, so schnell er konnte.
Ecke Prinzen- und Hohenzollernstraße blickte er sich um, sah zwei der Jungen hinter ihm herstürmen, rannte weiter, links um die Ecke und dann durch eine schmale Gasse hinter der Prinzenstraße. Keuchend erreichte er die Kaiser-Wilhelm-Straße. Noch war er nicht an der Ecke Moltkestraße, da sah er seine Verfolger wieder. Er rannte an einem Zaun entlang, der viel zu hoch war, erreichte ein Tor, rüttelte an der Klinke. Das Tor gab nach, ließ sich aufstoßen, aber nur ein schmales Stück. Die Kette klirrte. Er zwängte sich durch den Spalt, sah von drinnen die zwei Jungen vorbeistürmen, wartete atemlos, bis ihre Schritte verhallten, dann drückte er das Tor ins Schloss. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Geschafft!
Im Hof flog eine Spatzenschar von einem Stapel Kisten auf, flatterte an der Fabrikmauer entlang und landete auf einem Pferdewagen. Daniel sah sich um. GETRÄNKEKOMBINAT BAUER & CO. stand in großen, verblichenen Buchstaben an der Mauer. Das Gebäude war zerfallen, fast alle Fenster waren zerbrochen, hinter den gezackten Löchern war es dunkel.
Ein gutes Versteck! sagte er sich, doch als er mit einem Brett die Spinngewebe wegriss und in den Raum spähte, der zur ebenen Erde lag, prallte er zurück. Über verdreckte Tröge voller Orangen- und Zitronenschalen krabbelte Ungeziefer. Er hörte ein Rascheln und Kratzen, sah, wie eine Ratte an einem Trog hochkletterte, sich am oberen Rand festklammerte und dann verschwand.
Er ließ das Brett fallen, stieg langsam eine Eisentreppe hinauf, die im Zickzack an der Außenmauer bis zum dritten Stock führte, und gelangte von da in einen Lagerraum mit Regalen voller leerer Flaschen. Nach großer Anstrengung gelang es ihm, eine Falltür zu öffnen. Staub wirbelte auf. Er sah in eine Werkstatt, aus der ein Geruch von Sägemehl und Spänen aufstieg. An den Wänden lagen hoch aufgeschichtet Bretter, an einer Seite stand eine Hobelbank. Daniel fischte eine Murmel aus der Hosentasche und warf sie hinunter. Er hörte die Murmel rollen, doch sonst keinen Laut.
Die nahe Rathausuhr schlug an. Noch dreißig Minuten, dachte er, ging zum Fenster, blickte hinaus, machte die Turmspitze der Luther-Kirche aus und hinter dem Bahndamm das Häusermeer der Innenstadt von Duisburg. In der Ferne sah er qualmende Schornsteine unter einer Glocke von Dunst und Rauch, die sich bis weit über den Innenhafen erstreckte.
Plötzlich erschrak er. Das Zauntor zitterte, wurde aufgestoßen. Ein schwarzes Haarbüschel tauchte auf, schmale Schultern folgten, dann stand, lauernd wie eine Wildkatze, ein barfüßiger Junge im Hof. Daniel beruhigte sich – das war keiner von seinen Verfolgern.
Der Junge trug eine geflickte lange Hose, unten umgeschlagen und um die Hüfte durch eine Schnur gehalten, hatte dünne Arme und ein schmales, blasses Gesicht. Sein Haar hing ihm struppig in die Stirn und reichte bis über den Kragen des Flanellhemds.
Rasch um sich blickend, überquerte er den Hof, lief die Mauer entlang und war bald aus Daniels Blickfeld verschwunden. Kurz darauf hörte er das Knarren einer Tür. Lautlos schlich er zur Falltür. Der fremde Junge stand abschätzend vor einem Holzstapel, auf den er dann behänd hinaufturnte. Vorsichtig ließ er einige Bretter hinuntergleiten, sprang hinterher, schrie auf und hüpfte auf einem Fuß. Er war auf die Murmel gesprungen.
„Die gehört mir“, rief Daniel, als der Junge sie einstecken wollte. Sofort versteckte sich dieser hinter einem Bretterstapel. „Aber du kannst sie behalten, brauchst keine Angst zu haben.“
Behutsam lugte der andere aus dem Versteck hervor und entdeckte über sich die Falltür. Als er nur Daniel erblickte, richtete er sich auf.
„Wag dich hier runter“, sagte er, „und ich verprügle dich nach Strich und Faden.“
„Klaust du das Holz?“
„Was geht dich das an?“
Daniel schwieg und sah zu, wie der Junge sich abmühte, die Bretter neben der Tür aufzuschichten, wobei er ab und zu vorsichtig hinauslugte. Da wurde ihm auch ohne Antwort klar, dass er das Holz tatsächlich stehlen wollte.
„Wenn du mir sagst, wofür du das Holz brauchst, mach ich mit da unten.“
„Ich schaff das auch so“, rief der Junge, doch als Daniel herunterstieg und mit anpackte, wehrte er ihm nicht. „Mein Vater braucht die Bretter für ’nen Schuppen, der muss noch fertig werden, bevor’s Winter wird“, erklärte er. „Und hier liegen sie doch nur rum.“
Daniel ahnte, dass der Vater des Jungen zu arm war, sich die Bretter zu kaufen, so heruntergekommen, wie der aussah. Er dachte an Robin Hood, der den Bedrängten in der Not beigestanden hatte. Es war in Ordnung, den Armen zu helfen, und Verbotenes zu tun reizte ihn.
Fast eine halbe Stunde lang schleppte er die Bretter vom zweiten Stock in den Hof. Als die Rathausuhr mit fünf Schlägen die volle Stunde verkündete, war längst vergessen, was ihn eigentlich hergeführt hatte.
Der Junge hieß Georg. Als er hörte, dass Daniel in der Prinzenstraße wohnte, blieb er plötzlich stehen und maß ihn von Kopf bis Fuß. „Ich brauch dich nicht mehr“, sagte er barsch. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn herumfahren. Unter dem Tor sah er Stiefel, die er zu kennen schien und lief hin. Daniel ging ihm nach.
„Wer ist da noch drin?“, hörte er von draußen fragen.
„’n Junge, ungefährlich.“
„Hast du die Bretter beisammen?“
„Ja, Vater.“
„Gut, schieb fünf raus. Den Rest holen wir später.“
Georg schob ein Brett nach dem andern unter dem Tor hindurch, kräftige Hände packten sie und zogen sie auf die Straße.
Der Junge wandte sich zu Daniel. „Schade, dass du so ’n feiner Pinkel bist, sonst wäre mit dir was anzufangen.“ Er riss das Tor so weit auf, wie die Kette es erlaubte, und zwängte sich hinaus. „Halt dicht“, sagte er, winkte kurz und verschwand.
Daniel folgte ihm und sah gerade noch, wie Georg und sein Vater, einen Handwagen schiebend, im Dämmerlicht verschwanden. Langsam ging er nach Hause. Er hatte das Gefühl, ein großes Abenteuer bestanden zu haben.
Gerhart Winkel stieß das Fenster des engen Badezimmers auf, ihm war übel von dem Uringestank. Wieder hatte einer die rostige Wanne missbraucht. Er hielt den Atem an, bis sich der Geruch etwas verflüchtigt hatte, dann drehte er den Hahn auf. Die Leitung war eingefroren. Fluchend zog er eine Zeitung aus der Tasche, drehte das Papier zusammen, zündete es an und strich mit der Flamme das Rohr entlang.
Ein Scheppern an der Tür unterbrach ihn, gleich darauf hörte er Frau Urbachs kreischende Stimme: „Was ist da los? Da brennt doch was!“
„Richtig“, sagte Gerhart halblaut, „ich bin dabei, diese Bruchbude abzubrennen.“
„Glauben Sie bloß nicht, ich hab das nicht gehört“, rief die Hauswirtin. „Machen Sie sofort auf!“
Er entriegelte die Tür, leichter Rauch strömte in den Korridor, die Frau schnappte nach Luft, ihr Busen wogte.
„Sie sind ein unmöglicher Mensch“, sagte sie etwas beruhigter, als sie sah, dass außer der Zeitung nichts brannte. Sie blinzelte in den Rauch, starrte dann auf Gerharts nackte Brust. „Was soll das? So geht das doch nicht.“
Noch einmal hielt Gerhart die Flamme ans Rohr und warf dann den angebrannten Papierrest aus dem Fenster. Ein dünner Wasserstrahl sickerte in die Wanne.
„Schlecht geht’s, aber es geht. Und nun lassen Sie mich in Ruhe. Ich will mich waschen.“
Mit beiden Händen raffte Frau Urbach den schlampigen Morgenrock über ihrem Busen zusammen und tat beleidigt.
„Ich lass Sie in Ruhe, wenn ich meine Miete hab!“
„Die kriegen Sie heute.“
„Das will ich hoffen. Oder Sie suchen sich ein anderes Zimmer. Ich bin nicht von der Heilsarmee.“
Gerhart schloss ihr die Tür vor der Nase, wusch sich und ging dann in sein Zimmer zurück. Kurze Zeit später verließ er das Haus.
Es war kalt, und der Wind ging ihm durch Mark und Bein. Er schritt schnell aus. Zu Fuß war der Weg bis zum Arbeitsamt quer durch die Stadt zum Innenhafen unter einer Stunde nicht zu schaffen. Doch er war die Strecke in den letzten Jahren so oft gegangen, dass sie ihm immer kürzer vorkam. Auch mit verbundenen Augen hätte er hingefunden, am Hauptbahnhof vorbei, durch die Königstraße, dann Mercator-Haus, Tonhalle, Amtsgericht, das Kuhtor und in die Münzstraße, die durch die Altstadt zum Schwanentor führte. Wie oft würde er diesen Weg noch gehen müssen, fragte er sich.
Obwohl er an etlichen Geschäften vorbeikam, für deren Besitzer er früher Lieferräder repariert hatte, hielt er sich nirgends auf. Geld schuldete ihm keiner, und Hoffnung auf neue Aufträge machte er sich nicht. Er war längst einer von vielen geworden, die Gelegenheitsarbeiten annahmen. Seine Werkstatt lag so gut wie still, seit Wochen schon, und hatte ihm kaum die Kosten für die Ersatzteile eingebracht.
Im Arbeitsamt, besonders vor dem Auszahlungsschalter, war das Gedränge groß. Es dauerte lange, bis er sein Stempelgeld hatte. Das Gerücht kam auf, dass im Holzhafen Männer gebraucht würden, auch die Zinkwerke in Hochfeld waren im Gespräch. Er zwängte sich in den Raum am Ende des Korridors. Niemand sagte etwas. Wohin er auch blickte, überall nur verschlossene Gesichter.
Endlich entstand Bewegung. Durch eine Seitentür kam ein beleibter Mann, der einen Kamelhaarmantel trug und einen breitkrempigen Hut. Er stieg auf einen Stuhl und legte die Hände an den Mund. „Mal herhören!“, rief er. „Ist alles nur Gerede, das mit dem Holzhafen und den Zinkwerken. Braucht sich keiner die Schuhsohlen abzulaufen. Das Beste ist, ihr verschwindet für heute.“
Ein Murren ging durch die Reihen der Arbeitslosen. Einige blickten grimmig drein, doch die meisten waren mutlos und verzweifelt. Der Mann im Kamelhaarmantel sprang vom Stuhl. Jemand rief: „Brich dir den Hals!“ Der Mann sah sich böse um, dann verschwand er durch die Tür und warf sie krachend hinter sich zu.
Allmählich leerte sich der Raum. Gerhart fand Platz an einem Tisch, müde setzte er sich. Er wollte warten, bis mittags die Suppenküche aufmachte. Ein Teller heiße Suppe! Hinter ihm spielten ein paar Arbeiter Skat. Sie klatschten die Karten auf den Tisch, als ginge es um hohe Einsätze. Gerhart sah, wie der Gewinner ein paar Streichhölzer vom Tisch in seine Hand fegte. Der Mann klopfte ein As auf das Holz. „Gerettet!“, rief er lachend. „Meine Mieze muss heute nicht auf den Strich!“
Gerhart achtete jetzt auf die Worte, mit denen ein junger Arbeiter neben ihm auf einen älteren Mann einredete: „Was hängst du dich da rein, Papa Müller? Du bist doch Bauarbeiter, bist Polier gewesen und kein Metallarbeiter.“ Der junge Arbeiter sah kränklich aus, seine Augen glänzten fiebrig unter dem Schirm seiner Ledermütze. „Stimmt“, erwiderte der Alte und strich sich mit dem Handrücken über seinen buschigen blonden Schnurrbart. „Aber das spielt doch keine Rolle. Wie können die Schlinke-Arbeiter was unternehmen, wenn sie fürchten müssen, dass die Arbeitslosen ihnen in den Rücken fallen. Die Flugblätter sind wichtig, und jemand muss sie verteilen.“ Der Alte sprach ruhig und bedächtig, doch auf dem blassen Gesicht des jungen Arbeiters standen rote Flecken. „Glaubst du, ich lass dich allein gehen?“
Bei der Erwähnung der Schlinke-Werke war Gerhart neugierig geworden. „Was ist denn dort los?“, fragte er.
Der Alte musterte ihn. „Gehörst du auch dazu?“
„Das war mal. Ist so lange her, dass es schon nicht mehr wahr ist.“
„Kenne ich“, sagte er Alte. Er hielt inne, schien etwas zu überlegen, ehe er fortfuhr. „Es brodelt in dem Betrieb. Wär ein Jammer, wenn das wieder verpufft, nur aus Angst vor uns Arbeitslosen. Wir müssen was machen.“ Er zog ein Flugblatt aus seiner Manteltasche und reichte es Gerhart. „Lies das, dann weißt du Bescheid. Dürfte dich interessieren, wo du doch da gearbeitet hast. Die verteilen wir heute am Westtor, um vier, zum Schichtwechsel.“
Er stand auf, nahm seinen grünen Lodenhut von der Bank, reichte Gerhart die Hand und verließ langsam den Raum. Der junge Arbeiter folgte ihm. Gerhart blickte den beiden nach, bis sie im Korridor verschwanden.
In der Schlange vor der Suppenküche musste er lange warten. Völlig durchgefroren hielt er schließlich den heißen Teller in den Händen. Er aß langsam.
Die Suppe tat ihm gut. Als er merkte, dass die alte Frau die Suppe aus dem Kessel schöpfte, ohne einen Blick auf die Männer zu werfen, stellte er sich noch einmal an. Auch der zweite Teller sättigte ihn nicht. Aber er fror nicht mehr.
Bald machte er sich auf den Weg. Mehr noch als das Flugblatt ging ihm der Alte durch den Kopf. Was hatte ein ehemaliger Maurerpolier mit den Schlinke-Arbeitern zu schaffen? Vielleicht sah er sich mal an, wie die beiden mit den Flugblättern klarkamen. Die Schlinke-Werke lagen zwar in Hochfeld, weit weg von Düssern, aber was zog ihn schon nach Hause! Da es noch lange hin war bis vier, ließ er sich Zeit. Ecke Münz- und Beekstraße kam er an einer Passage zwischen zwei Warenhäusern vorbei, wo sich eine Menschenmenge drängte. Alle starrten nach oben. Er sah, wie ein Mann prüfend den Fuß auf ein Seil setzte, das zwischen die Dächer der beiden Warenhäuser gespannt war. Eine Frau schrie auf die Menschenmenge ein: „Warten Sie, meine Damen und Herren! Gleich ist’s soweit. Jeder Leistung gebührt ihr Lohn!“ Nur wenige griffen in die Tasche, und es dauerte eine geraume Weile, bevor die Frau dem Mann auf dem Dach ein Zeichen gab. Der Mann nahm eine Stange auf, hielt sie waagerecht und balancierte vorsichtig über das Seil. Zweimal schwankte er, ein Raunen ging durch die Menge, doch schließlich gelangte der Mann heil aufs andere Dach, wo er die Stange in die Rinne fallen ließ und wieder aufrecht stand, hoch über den Köpfen der Menge. Die Frau klaubte die Münzen von der Straße auf, zählte sie von einer Hand in die andere. „Drei Mark siebzig!“
Gerhart ging weiter. Bald bog er hinter dem Marientor in die Straße ein, die über die Kanalbrücke zur Werthauser führte, der kilometerlangen Hauptstraße, die zwischen der Deutschen Maschinen-Fabrik und den Schlinke-Werken quer durch Hochfeld bis zum Rhein reichte. Erst als er von weitem die Fabriksirenen hörte, ging er schneller. Vier Uhr. Am Westtor angelangt, sah er gerade die letzten Arbeiter der Tagschicht über den weiten Platz auf die Kreuzung zu eilen. Der Wind fegte ihm Flugblätter vor die Füße. Aber es war keiner zu sehen, der sie verteilte. Er entdeckte die Männer, die er suchte, erst, als er sich zwischen eine Gruppe Arbeiter schob, die abseits vom Tor laut diskutierten.
„Wer seid ihr überhaupt? Schert euch weg mit euren verdammten Zetteln!“, brüllte einer den Alten an. Der aber hielt sein Bündel fest umklammert und antwortete mit ruhiger Stimme: „Lest doch erst mal, was drauf steht.“
„Das Maul sollte man euch stopfen mit dem Zeug“, drohte ein anderer, der eine schäbige Aktentasche in der Hand schwang. „Verzieht euch, bevor wir euch Beine machen.“
„Keinen Schritt ohne meine Tasche!“, rief der junge Arbeiter mit der Ledermütze und rückte noch dichter an die Seite des Alten. Seine Wangen glühten, er war außer sich, seine Stimme überschlug sich. „Geben Sie sofort die Tasche her!“
Der andere warf ihm die Tasche vor die Füße. „Weiß der Teufel, wer ihr seid. Zur Belegschaft gehört ihr jedenfalls nicht. Also haut ab und verteilt euren Mist anderswo.“
Gerhart biss sich auf die Lippen. Es war gekommen, wie er’s geahnt hatte, und drohte zusehends schlimmer zu werden. Er bückte sich, nahm die Tasche auf, wischte mit dem Ärmel darüber weg und gab sie dem jungen Arbeiter. Dann drehte er sich zu den anderen um und sagte: „Ist schon ein starkes Stück, wie ihr mit den beiden hier umspringt.“
Der Wortführer betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. „Und wie kommst du dazu, hier ’ne Lippe zu riskieren?“
„Hab lang genug da drüben gearbeitet“, sagte Gerhart. „Das gibt mir wohl das Recht, ein bisschen mitzumischen – oder?“
„Tatsächlich“, sagte einer. „Halle vier, bei Wilhelm Bottrop. Der war Dreher hier, den kenn ich.“
„War mal!“, sagte der Wortführer, doch als er Gerhart nochmals musterte, verstummte er, gab den anderen ein Zeichen, drehte sich um und ging. Bald standen die drei allein vor dem Tor. Noch immer erregt, dankte der junge Arbeiter für den unerwarteten Beistand, aber Gerhart winkte ab.
„Wundert mich bloß, dass nur ihr zwei das macht“, sagte er, „ganz ohne Rückendeckung.“
Der alte Mann zeigte auf die Kreuzung. „An der Sedanstraße stehen noch andere von uns – und am Nordtor auch.“
„Na, dann“, sagte Gerhart. „Vielleicht sind die besser gefahren.“
„Lief ja alles bis jetzt“, sagte der junge Arbeiter. „Meine Tasche ist leer.“
„Hauptsache, es nützt was“, sagte Gerhart.
„Nichts tun hilft auch nichts“, meinte der Alte. „Das hat sich ja gezeigt, als du aufgekreuzt bist. War schön von dir.“ Er gab Gerhart die Hand. „Ich heiße Müller, Adolf Müller – bloß das hör ich nicht so gern. Klingt nicht mehr, der Name.“
„Versteh ich“, sagte Gerhart.
Der alte Mann lächelte. „Vielleicht sehn wir uns noch mal, auf dem Arbeitsamt oder in Düssern.“
„Woher weißt du, dass ich aus Düssern bin?“
„Komme von da. Und dass du bei Frau Urbach wohnst, weiß ich auch. Stimmt doch?“
Gerhart nickte.
„Na also. Wir haben sogar den gleichen Weg.“
Gerhart blickte dem Alten ins Gesicht, der lächelte jetzt ganz anders, und Gerhart begriff die Zweideutigkeit seiner Worte. „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“, sagte er. „Erhoff dir nicht zu viel.“
„Tu ich nicht“, antwortete der Alte, „aber den gleichen Weg haben wir doch.“