Titel

Alan Carter

Doom Creek

Thriller

Aus dem australischen Englischen von Karen Witthuhn

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Widmung

Für Kath

PROLOG

Neuseeland ohne Raubtiere? Eine tolle Idee. Eine utopische Vision, ähnlich planungs- und ressourcenintensiv wie eine erneute Mondlandung. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – aber ist der Wille da? Wie viele Ratten, Hermeline, Wiesel, Possums, Wildkatzen würden sterben müssen? Wie viele Sterne leuchten am Himmel? Immerhin kann er einen kleinen Beitrag leisten, hier in diesem Winkel Edens, einmal die Woche, pünktlich wie die Maurer. Wenn er sich tief in den Urwald um die Pelorus Bridge hineinbegibt, Fallen überprüft und neu stellt und Kadaver zählt, um im Wettlauf mit der Zeit die winzige einheimische Neuseeland-Lappenfledermaus vor dem Aussterben zu bewahren – auch wenn sie das hässlichste Viech ist, das man je gesehen hat.

Bob schaut auf die Karte. Immer den rosa Markierungen nach, rechts sollten sich mehrere Fallen für Possums, Ratten und Hermeline befinden. Er war schon so oft hier, aber manchmal lassen ihn seine alten Augen und der Kopf im Stich: Alzheimer oder nur ein Trick des sich ständig verändernden Lichts? Gott, ist das schön hier. Gut, man hört die Touristenautos und den anderen Verkehr drüben über die Brücke rauschen und weiter entfernt die Motorsägen in der Kiefernplantage auf dem nächsten Hügel knattern. Aber wenn man die Ohren schließt und die Augen aufmacht, sieht man ein lichtgesprenkeltes Bruchtal mit grünem Moos und Rimu-Harzeiben, eine andere Welt. Außerdem kommt er raus aus dem Haus und an die frische Luft und kann Senilität und alte Sorgen abwehren, die sich manchmal anschleichen.

Nur dass die Luft gar nicht so frisch ist. Schon aus meterweiter Entfernung ist ein erdrosseltes Possum, eine zerquetschte Ratte oder ein totes Hermelin zu riechen. Heute stinkt es wirklich zum Himmel. Wie reifer Käse. Und er hört Fliegen summen, die Beute muss relativ frisch sein. Vor sich auf einer Lichtung sieht er an einem schwarzen Buchenstamm eine gelb leuchtende Wespenfangkiste und den blauen Trichter einer Possumfalle, aber nichts hängt heraus. Der Geruch muss aus einer der Holzkisten kommen, aus einer der Ratten- oder Hermelinfallen.

Bob stolpert. Er ist mit dem Fuß an einer knorrigen Kletterpflanze hängengeblieben, was die im letzten Jahr bei einem Sturz gerissene Achillessehne reizt. Alte Knochen wachsen nur schwer zusammen, Muskeln und Sehnen wollen nicht mehr heilen. Seine Nase bläht sich. Hermelin oder Ratte? Jedenfalls ein Riesengestank für so ein kleines Tier. Der Wind raschelt in den Blättern und Farnen, eine Wolke aus schwarzen Kolibris hebt ab und lässt sich auf den Zweigen eines Totara-Baums nieder. Ihm fällt auf, dass er die Luft angehalten hat, aber nicht wegen des Gestanks – sondern aus einem Urinstinkt heraus. Angst ist ihm unter die Haut gekrochen und hat sich festgesetzt wie ein zarter Pilz auf toter Rinde. Der smaragdgrüne Schimmer verdunkelt sich, als Wolken vor die Sonne ziehen. Bob erreicht die Lichtung und spürt das weiche Moos und knickende Zweige unter seinen Wanderstiefeln. Er umrundet den Totara-Baum.

Der Kadaver lehnt aufrecht an dem Baum, als würde er sich ausruhen, festgehalten von einem Seil, das um Hals und Baumstamm gespannt ist. Eine Hirschkuh, von Fliegen und Maden bevölkert. Dunkle, zähe Flüssigkeit ist ausgetreten – Maul und Vorderseite sind aufgerissen. Bob kämpft gegen die Übelkeit an, aber er sieht so etwas nicht zum ersten Mal.

Hinter ihm Geraschel, etwas knackt. Farne werden beiseitegeschoben, eine Gestalt in Backwoods-Kleidung erscheint.

»Du?« Wo ein Wille ist, ist wirklich ein Weg. Klar. Das war immer so und wird so bleiben. Bob zeigt traurig auf die tote Hirschkuh. »Das arme Vieh ist in die Falle gegangen.«

»Schade drum.« Der Neuankömmling nickt.

Zähl die Sekunden. Ein verzweifeltes Schluchzen. »O Gott.« Dann ein Geräusch, irgendwo zwischen dumpfem Schlag und Husten. Kaum laut genug, um die Schmeißfliegen aufzuscheuchen.

1

Der Fluss ist an diesem Donnerstagmorgen in Bestform, er gluckert durch die Schlucht und fängt das Grün der umliegenden Kiefernplantagen ein. Gestern habe ich im tiefen Teil des Beckens sogar eine Forelle gesehen. Wahnsinn. Manchmal ist es so klar, dass man durch das Fenster aus dreihundert Metern Entfernung einen verdammten Fisch erkennen kann. Vor allem mit Zielfernrohr.

Ich ziele auf den Rücken des Mannes. Er merkt nicht, dass er beobachtet wird. Breite Schultern, ein leichtes Ziel. Mein Finger legt sich um den Abzug. Einmal zudrücken, und das wär's. Der Fluss würde ihn runter in die Sounds tragen und mit der Ebbe rausspülen. Sie kommen immer wieder, und ich muss sie immer wieder wegschicken. Sonst hört es nie auf.

»Du darfst ihn nicht erschießen, Nick.« Vanessa stupst mich mit der Hüfte an und stellt mir einen Becher Kaffee neben den Ellbogen. »Er hat eine Ressourcengenehmigung von der Stadt.«

»Verdammte Goldgräber. Warum können die sich nicht verpissen und uns in Ruhe lassen?«

»Zwei Tage die Woche von September bis April. Und dann muss der Fluss noch so niedrig stehen, dass er mit seinem Bagger reinkommt. An den meisten Wochenenden hat es geregnet.« Sie tätschelt mein Knie. »Das ist bloß ein albernes Hobby. Noch eine Woche, dann ist bis zum Frühling Schluss. Entspann dich, Schatz.«

Seit eine kanadische Firma in der Nähe des Pubs ein beträchtliches Vorkommen des gelben Zeugs gefunden hat, ist im Valley nach hundertfünfzig Jahren erneut das Goldfieber ausgebrochen. Männer, es sind fast immer Männer, aus allen Gesellschaftsschichten, aber mit dem gleichen gierigen Glitzern im Auge, klopfen regelmäßig an unsere Tür. Freundlich lächelnd erkundigen sie sich, ob es okay wäre, unseren Pfad zum Fluss zu benutzen, wo sie graben und schürfen wollen, ihre Pickups in unserer Auffahrt abzustellen, ihre Schürfausrüstung in unserem Schuppen zu lagern. Kumpel?

Nein, ist nicht okay. Ich sehe Beim Sterben ist jeder der Erste langsam durch die Augen der Hinterwäldler. Und dann verrutscht das Lächeln, und es wird klar, dass sie sowieso nie Freundschaft schließen wollten.

»Allesamt Opportunisten und Schmarotzer.«

»Fahr lieber zur Arbeit, Griesgram. Du verbeißt dich schon wieder.« Vanessa trinkt den letzten Schluck Kaffee und brüllt: »Paulie! Wir müssen los!«

Vanessa unterrichtet an der Havelock-Grundschule, ist jedoch heute an der Reihe damit, Paulie zu seiner Highschool zu bringen, zwanzig Kilometer in die entgegengesetzte Richtung. Alle müssen früh raus, aber Vanessa ist voller Enthusiasmus, und Paulie wirkt zufrieden.

»Lunch?«, fragt er und lugt nervös in seinen Schulranzen.

»Nee, ich hatte heute keine Lust, Schatz. Versuch, den anderen Kindern was abzubetteln.«

»Mum!«

»Scherz. Du. Rein ins Auto. Jetzt.« Sie beugt sich vor, küsst mich, schiebt mir ihre Zunge in den Mund. »Hab einen schönen Tag.«

Ich verspreche, mir Mühe zu geben. Pauli hat sein Schinkenbrot und eine Banane gefunden. Er hebt den Daumen und geht zum Wagen.

Durch das Fenster sehe ich, dass der Goldgräber einen Neoprenanzug angezogen und den Bagger angeworfen hat. Ein Geräusch wie ein frisierter Rasenmäher dröhnt durch die Schlucht und übertönt den Fluss und das Vogelgezwitscher. Eine Wolke aus grauem Schlamm erblüht aus der Höllenmaschine und trübt das glasklare Wasser.

Auf der Fahrt über die Wakamarina Valley Road komme ich an immer neuen Abholzungsgebieten vorbei. Yin und Yang, wie so oft: eben noch das Paradies, eine Ecke weiter Mordor. Neulich habe ich einen Artikel gelesen, in dem Neuseeland mit einer wunderschönen Frau verglichen wurde, die von Krebs zerfressen wird. Der Vergleich leuchtet mir nicht ganz ein, Krebs ist immer schlimm, ob man wunderschön ist oder nicht. Vielleicht soll das heißen, dass Schönheit gefährlich trügerisch ist, und wenn man die Symptome erkennt, ist es zu spät. Die vor einer Generation als Steuersparmodell gepflanzten Bäume sind jetzt so groß, dass sie gefällt werden können. Und das überall im oberen Teil der Südinsel – mehrere Millionen Tonnen Oberboden warten nur darauf, in den kommenden Winterregenstürmen weggeschwemmt zu werden – eine Umweltkatastrophe mit Ansage. Manchmal glaubt man, sich an die Zerstörung zu gewöhnen, dann wieder merkt man, dass das nicht geht. Und die hundertprozentig sauberen Flüsse, von denen man Touristen vorschwärmt, wimmeln nur so vor E. coli und anderen Bakterien. Sogar in unserem eigenen glitzernden Wakamarina liegt tief unter den Steinen Quecksilber aus den alten Goldgräbertagen. Lauter tickende Zeitbomben.

Vielleicht hätten wir letztes Jahr das Angebot des Russen in seinem Hubschrauber annehmen sollen. Zu einem guten Preis verkaufen, solange das noch ging. Aber wir hatten uns in diesen Flecken Erde verliebt, waren in Sicherheit und glücklich, unsere Feinde waren besiegt. Wie ich gehört habe, hat Andrei stattdessen eine andere Immobilie weiter unten im Tal gekauft, eine altes Jagd-Ferien-Haus, für das nur ein Dummkopf oder ein Oligarch mit dubiosen Mafiaverbindungen Geld hinlegen würde. Ein Jahr später ist das Ding wieder auf dem Markt. Der arme Andrei sitzt in Sibirien im Knast und wartet auf den Korruptionsprozess, den die Behörden ihm angehängt haben. Vielleicht hätte er sich die Bemerkungen über den Präsidenten auf Twitter sparen sollen.

Am Trout Hotel habe ich wieder Netz, mein Handy klingelt. Constable Latifa Rapata will wissen, wo ich mich rumtreibe. »Bin in zehn Minuten da«, sage ich. »Ist denn was?«

»Ein Typ ist hier und will einen Fillum drehen, Sarge.«

»Film?«

»Ja, er ist …« Sie wird sehr leise. »Pākehā. Angezogen, als komme er aus Auckland oder Wellington oder so.«

»Und dafür brauchst du mich?«

»Was weiß ich denn über Fillume? Bis gleich.«

Als ich auf dem Revier – eine holzverschalte Baracke mit zwei Schreibtischen, einem Fotokopierer und einer großen Muschelschale aus Fiberglas auf dem Dach, die zeigen soll, dass wir Teil der Community sind – ankomme, wartet der Typ schon auf mich. Er sieht tatsächlich nach Großstadt aus: Hipsterbart, enger Anzug, Herrentasche, glänzende spitze Schuhe. Latifa schielt hinter seinem Rücken, klemmt ihre Vorderzähne über die Unterlippe und vollführt ein paar seltsame Tanzschritte.

»Mr Devon Cornish; Sarge. Er ist Fillumregisseur aus Wellington.«

»Eigentlich Produzent.« Er hält mir seine Visitenkarte hin.

»Wie können wir helfen?« Ich weiche Latifas spöttischem Blick aus, mit dem sie hinter der Trennwand verschwindet.

»Wie ich Ihrer Kollegin erklärt habe, will ich nur Bescheid sagen, dass wir nächste Woche ein paar Tage lang hier in der Gegend drehen werden.«

»Und?«

»Und es geht um einen Spielfilm, der in der Zeit des Goldrauschs spielt. Wissen Sie, dass es damals hier einige Morde gegeben hat?«

»Die Doom-Creek-Morde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Fünf Goldsucher wurden für ein paar Kröten im hinteren Hügelland von Banditen überfallen. Ja, ich habe darüber gelesen.«

»Ganz genau – der Film heißt Doom Creek, und raten Sie mal, wer mitspielt.«

»Sie machen mich neugierig.« Er spuckt einen Namen aus, und ich bin nicht schlauer als vorher.

»Greg aus Shortland Street

Ich schüttele den Kopf, nein, ich bin kein Fan neuseeländischer Seifenopern. »Ich weiß immer noch nicht, warum Sie mir das sagen. Sie brauchen keine Drehgenehmigung von mir. Sie müssen sich an den Landeigentümer oder die staatlichen Behörden oder sonst wen wenden.«

»Wir könnten in einer Sache Ihre Hilfe gebrauchen und haben das bereits mit Ihrer District Commander in Nelson besprochen.«

Marianne Keegan – nach Fords Pensionierung frisch befördert. Danke fürs Abwälzen, Marianne. »Ja?«

»Wir hoffen, dass Sie uns mit dem Verkehr helfen könnten.«

Latifa-artiges Schnauben.

»Verkehr?«

»Wir müssen moderne Autos aus dem Bild raushalten – Sie erinnern sich an Braveheart und den weißen Wagen – und da oben fahren einige rum. Wir haben Helfer, die die Leute umleiten werden, aber falls jemand Ärger macht, wäre es gut, Sie dabeizuhaben.«

»Wir haben hier ebenfalls unsere Aufgaben, Mr Cornish. Das hat keine Priorität.«

Er zieht ein Blatt Papier aus seiner Männertasche und gibt es mir. Ein Brief von Commander Marianne, die ihm mitteilt, dass sie für seinen blöden Film gern meine Hilfe zur Verfügung stellt.

»Sie wohnen doch oben im Wakamarina Valley, nicht wahr, Sergeant?«

»Wer sagt das?«

Ein verlegenes Husten von jenseits der Trennwand.

»Wir drehen ganz in der Nähe von Ihnen, in Butchers Flat. Das sollte Ihnen ein paar Tage lang den Arbeitsweg verkürzen.« Er steht auf und hält mir die Hand hin. »Bis nächsten Dienstag, acht Uhr morgens.« Schultert seine Tasche. »Pünktlich.«

Am späten Vormittag habe ich die Nase voll davon, mich von Latifa »Best Boy« und »Key Grip« nennen zu lassen, und gehe auf einen Kaffee und Pie zum Bäcker, während sie sich auf den Weg zum SH6 macht, um Temposünder einzufangen. Der Herbst ist eine wunderschöne Jahreszeit. Das Wetter ist oft klar und sonnig, was man vor dem Winter besser nach Kräften genießt. Die Touristen sind weg, im Ort wird es ruhiger, was weniger Arbeit für die Polizei, aber auch schleppendere Geschäfte für die Läden und Cafés und die Touristenboote draußen auf den Marlborough Sounds bedeutet. Devon Cornish hat sich eine gute Jahreszeit für seinen Film ausgesucht, es sind weniger Leute im Weg, es gibt genug Übernachtungsmöglichkeiten für Cast und Crew, und es besteht in den nächsten Wochen Aussicht auf ruhiges Wetter. Ich bestelle meinen Kaffee und suche mir einen Tisch aus, dann rufe ich DC Keegan im Nelson HQ an.

»Morgen, Nick. Schön, dich zu hören.«

Sie hat die Macht, mich zu entlassen, und kennt die meisten meiner Geheimnisse, im Bett und außerhalb. All das schwingt in ihrer leicht spöttischen, nach Liverpool klingenden Stimme mit. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.

»Bei mir im Büro ist heute Morgen ein Filmproduzent aufgetaucht.«

»Oh, Devon. Ich kenne ihn aus Wellington. Freund von einem Freund. Ein echter Tausendsassa.«

»Eine Vorwarnung wäre nett gewesen.«

»Hast du meine Mail nicht bekommen? Verdammt. Der Server spinnt seit ein paar Tagen.«

Das ist keine Lüge. Es ist ein Geschenk, nicht ständig Arbeitsschutzrundschreiben und Nachfragen nach Statistiken und Dienstplänen zu bekommen.

»Schülerlotse zu spielen, ist eine Verschwendung meiner Fähigkeiten und meines Stundenlohns. Auch hier gibt es Verbrechen, weißt du.«

»Constable Rapata wird bestimmt damit fertig. Dein Gesicht ist in deinem Tal da bekannt. Sie werden dir aus der Hand fressen. Außerdem kannst du ausschlafen und früh Feierabend machen. Win-win?«

Sie hat Hintergedanken, davon bin ich überzeugt, habe aber keine Lust, herauszufinden, welche. Wahrscheinlich irgendwelche alten Seilschaften, Gefälligkeiten, Arschkriechereien. »Wenn irgendwas Dringenderes auftaucht, bin ich da weg.«

»Natürlich, Nick. Du bist der Boss.« Stimmen im Hintergrund, das Mundstück wird zugehalten. »Und komm nächstes Mal vorbei, wenn du in der Stadt bist. Wäre schön, sich mal wieder zu sehen.«

Lieber nicht, denke ich. Der Umzug von Wellington nach Nelson hat ihrer Ehe den Todesstoß versetzt. Das kann ich mir für meine nicht leisten.

Mein Kaffee kommt, ich lehne mich zurück und genieße die Aussicht. Die Tourismusbroschüren preisen Havelock als Grünschalenmuschelhauptstadt der Welt. Alle Restaurants hier bieten Muscheln an. Eines, The Mussel Pot, hat sich auf Variationen des Themas spezialisiert und sich als unübersehbares Wahrzeichen ein Dutzend große Fiberglasmuscheln aufs Dach gesetzt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist noch eine Muschelstatue aufgetaucht, zwei Meter hoch und auf einem motorgetriebenen Surfbrett stehend. Warum? Keine Ahnung. Ich glaube, wir haben den thematischen Wendepunkt fast erreicht, wir sind am Muschelhöhepunkt. Hinter mir an der Theke werden Stimmen laut.

»Was ist das?«

»Ein Becher.«

»Styropor? Habt ihr kein Porzellan?«

»Das spart den Abwasch.«

Amerikanische Akzente gehen mir grundsätzlich auf die Nerven. Vielleicht liegt es an den Sitcoms, die wir alle aus dem Fernsehen kennen, mit Gebrüll und Gelächter aus der Konserve. Bei lauten, aggressiven Amis werde ich richtig sauer. Sogar wenn sie, wie jetzt, vielleicht recht haben könnten.

»Die sind nicht recycelbar. Das landet alles auf der Müllkippe. Auf eurem Schild steht ›Organischer Fair Trade Kaffee‹, und dann serviert ihr den in diesem Scheißding? Wo ist da die gottverdammte Logik?«

»Kein Grund, ausfallend zu werden.« Und nach einer Pause, »Sir.«

Ein lautes Klomp auf der Theke. »Wer ist hier der Chef?«

»Ich, Kumpel. Nicht Sie.«

Zeit, mal hinzugehen. Janeen hinter der Theke, kaum größer als Frodo, macht sich kampfbereit. Ich gehe lächelnd dazwischen und klopfe gegen die Vitrine. »Gib mir bitte noch einen Dattelscone, ja, Janeen?«

Sie funkelt mich wütend an. »Gleich, ich muss mich noch um dieses … diesen Gast kümmern.«

Was der Ami nicht ahnt, Janeen wäre fähig, seinen Kopf durch die Glasvitrine zu rammen, bevor er weiß, wie ihm geschieht. Ich habe es miterlebt und musste sie verhaften. Sie hat Bewährung und kann sich mit drei Hosenscheißern zu Hause keinen Fehltritt leisten. Ich wende mich dem Kunden zu. Er ist nicht sehr groß, hat aber ein gefährliches Glitzern im Auge, das man üblicherweise mit Religion, Drogen oder Alkohol verknüpft.

»Schöner Tag.«

»Hau ab, Freundchen. Deine Uniform ist mir scheißegal.«

Oh-oh. »Ich glaube, wir sollten uns ein bisschen beruhigen, Kumpel. Ein Styroporbecher ist so eine Aufregung wirklich nicht wert.«

Er wendet sich mir direkt zu. »Wie ich gesagt habe, hau ab.«

»Verlassen Sie den Laden, Sir. Gehen Sie.«

»Und vergessen Sie Ihren Kaffee nicht«, sagt Janeen. »Der ist zum Mitnehmen. Wenn der Becher leer ist, werfen Sie ihn in einen Mülleimer. Wir mögen hier keine Schmutzfinken.«

Ich drehe mich zu ihr um. »Halt den Mund.«

Und in dem Moment versetzt mir das Arschloch einen Schlag in den Magen. Ich bekomme keine Luft mehr, der Tag ist versaut. Ich gehe zu Boden und weiß nicht, was ich zuerst tun soll, kotzen oder nach Luft schnappen. Er beugt sich über mich. »Bleib mir aus dem Weg.« Dann gießt er mir seinen organischen Fair Trade Kaffee auf die Brust und geht. Zum Glück hat der Kaffee während der Streitigkeiten etwas Zeit zum Abkühlen gehabt.

»Wer war das?«

Ich habe wieder Luft in der Lunge. Janeen tupft meine Uniform mit einem Spülschwamm ab, aber das macht es nur schlimmer. »Du hättest ihn mir überlassen sollen, Nick. Dich da raushalten sollen.«

Ich stehe auf, hinke zur Tür und schaue mich auf der Straße um. »In welche Richtung ist er gegangen?«

Ein paar Gäste hören kurz auf, ihre Pies und Sausage Rolls zu kauen, und zeigen gen Westen in Richtung Nelson.

»Willste ihn verhaften oder was?« Janeen gibt mir den Schwamm.

»Hatte er ein Auto?« Ich bin immer noch benommen und kurzatmig. Und ob der Absurdität des Ganzen verblüfft. Wegen eines Styroporbechers zu Boden gegangen? Im Ernst?

»Motorrad. Harley«, sagt ein junger Typ, den ich schon häufig mit überhöhter Geschwindigkeit erwischt habe. Er schluckt runter, was er gerade gekaut hat. »Schwarz. Neu. Teuer.«

Ich rufe Latifa an und gebe ihr die Beschreibung durch, dann benachrichtigen wir unsere Kollegen in Nelson auf der anderen Seite des Whangamoa Saddle, damit sie sich auf den Weg machen und nach ihm Ausschau halten.

»Keine Sorge«, sagt Latifa. »Wenn er in die Berge fährt, haben wir ihn.«

»Gibt vorher jede Menge Abzweigungen.«

»Die meisten enden im Nichts.« Sie legt auf. Ich verlasse die Bäckerei, um meinen Wagen zu holen.

»Warte«, sagt Janeen. »Du hast deinen Kaffee nicht ausgetrunken.«

»Ein andermal.«

»Willst du noch den Dattelscone, den du bestellt hast?«

»Nein, danke.«

Wir treffen unsere tasmanischen Kollegen auf halbem Weg, in Rai Valley – einst ein Kuhdorf, jetzt ist auch die Kuh weg. Offensichtlich ist der Motorradfahrer irgendwo zwischen Havelock und hier von der Straße abgebogen. Ich bin bereits Umwege über Seitenstraßen und runter zum Hafen gefahren. Niemand hat ihn gesehen.

»Wo steckt er?«, frage ich unsinnigerweise.

»Mit einem neuen Motorrad wird er kaum über Schotterpisten brettern wollen«, sagt Latifa, und die Jungs aus Nelson nicken zustimmend. »Wahrscheinlich können wir uns also auf asphaltierte Straßen beschränken.«

Wir teilen uns auf und kehren zu unseren Fahrzeugen zurück. »Keine Alleingänge. Wer ihn sieht, macht Meldung und wartet auf Verstärkung.«

»Meinen Sie, der Spezialtrupp sollte anrücken?«, fragt ein Constable aus Nelson namens Blakiston.

Die bewaffnete Spezialeinheit? Ich überlege kurz. »Er ist mit Sicherheit ein Kämpfer, aber Schlagstöcke und Taser sollten ausreichen. Bisschen Pfefferspray.«

Latifa sieht aus, als würde sie sich darauf freuen.

Die Nelson-Jungs decken die Gegend zwischen Rai Valley und der Pelorus Bridge ab, wir übernehmen den Rest zwischen hier und Havelock.

»Er könnte längst umgedreht haben und in Richtung Osten unterwegs sein«, sage ich düster. »Ich hab's verbockt. Ich hätte mich nicht so von ihm überrumpeln lassen dürfen.«

»Reg dich ab, Sarge. Das war nicht deine Schuld, du bist auch nicht mehr der Jüngste.« Latifa liest eine Nachricht, die gerade auf ihrem Handy eingegangen ist. Da ihre Miene weich wird, stammt sie wohl von ihrem Verlobten, dem rasenden Daniel – netter Junge, aber die Hölle auf Rädern. »Wir kriegen ihn, wenn nicht jetzt, dann später.«

Latifa übernimmt die zehn Kilometer zwischen Havelock und Canvastown, ich den Rest. Wir verabreden, uns auf halbem Weg am Trout Hotel zu treffen. Zwei Stunden auf kleinen Straßen und mit Tür-zu-Tür-Befragungen später ist es weit nach Mittag, und ich bereue, den Scone beim Bäcker gelassen zu haben. Unter der Woche ist es im Trout erwartungsgemäß ruhig. Wobei am Wochenende auch nicht gerade viel los ist.

»Das Übliche, Nick?«, fragt der Wirt, als wäre ich erst gestern dagewesen, nicht vor zwei Monaten.

»Bin im Dienst. Ginger Beer wäre gut. Gibt's was zu essen?«

Er deutet auf die Speisetafel an der Wand. »Aber die Küche ist zu.«

Ich sehe auf die Uhr. »Um halb zwei?« Er zuckt die Achseln. »Dann eine Tüte Chips. Salt 'n' Vinegar.«

»Gute Wahl.« Er sieht meine Kollegin an. »Latifa?«

»Das Gleiche, danke.«

Ich frage ihn, ob er einen Ami auf einer großen neuen Harley gesehen hat.

»Brandon? Ja, der wird oben im alten Jagdhaus sein. Hab ihn vor ein paar Stunden gesehen.«

»Ich dachte, das Jagdhaus wäre wieder auf dem Markt?«

»Nicht mehr.« Er tippt sich an die Nase. »Ich bin immer auf dem neuesten Stand.«

Wir stürmen zur Tür raus. »Dein Wagen?«, frage ich. Dort liegt das Gewehr.

Hinter uns wird gerufen. »Sechzehn Dollar für die Getränke und die Chips. Ich schreib's auf deinen Zettel, Nick.«

Das Jagdhaus liegt ein Stück weiter oben, gegenüber einer Weide, auf der ein paar Pferde grasen. Es hat nie ein »Zu verkaufen«-Schild davorgestanden, das hätte sich nicht gelohnt. Wer hier wohnen wollen würde, kommt nicht zufällig vorbei. Das Tor ist neu. Groß, solide und geschlossen. Die Kollegen aus Nelson sind auf dem Weg. Geschätzte Ankunftszeit in fünf Minuten.

»Drüberklettern?«, fragt Latifa.

»Da ist ein Klingelknopf.« Ich drücke.

Nichts. Ich drücke noch mal.

»Ja?«

Ich zucke zusammen. Hat er sich von hinten angeschlichen? Ich mache mich für einen erneuten Schlag in den Magen bereit. »Hier oben. Im Baum links.« Jetzt sehe ich es. Eine Kamera und ein kleiner Lautsprecher.

»Polizei«, sagt Latifa. »Machen Sie auf, wir wollen mit Ihnen reden.«

»Worüber?«

»Tätlicher Angriff.«

»Verschwindet.«

»Machen Sie auf, oder wir kommen mit der bewaffneten Spezialeinheit zurück, rammen ihr Tor ein und nehmen Sie fest.«

»Das ist ein Privatgrundstück.«

»Wir bringen einen richterlichen Beschluss mit.«

»Ja, macht das.«

Latifa ist es nicht gewohnt, so abzublitzen.

Die Nelson-Jungs treffen ein. Blakiston bewundert das hohe Tor. »Tawa. Gutes hartes Holz, mit Stahl verstärkt. Beeindruckend.«

Latifa sieht mich an. »Was ist dieser Brandon für ein Typ?«

»Irgendein Yankee, dem leicht die Sicherung durchbrennt.«

Der Baum sagt, »Das hab ich gehört.«

»Ich weiß nicht, für wen Sie sich halten, aber Sie schaufeln sich gerade Ihr eigenes Grab.« Latifa schüttelt einen tadelnden Finger. »Sie haben einen Polizisten angegriffen, und Sie müssen uns jetzt entweder reinlassen oder selber rauskommen und mit uns reden. Wir gehen nicht weg.«

Ein Kichern, ein Klicken, dann schwingen die Torflügel langsam auf. Ich weise die Nelson-Jungs an, hierzubleiben und sich bereitzuhalten. Latifa und ich steigen in den Wagen und fahren die steile Auffahrt hoch. Nach einem kurzen Stück kommt etwas, das wie ein Torwächterhäuschen aussieht, umgeben von makellos gepflegtem Rasen und einer Mischung aus einheimischen und importierten Büschen und Bäumen. Schließlich erreichen wir oben auf dem Hügel das Jagdhaus, ein sechseckiges Gebäude aus Kiefernholz mit bodenlangen Fenstern, vielen Antennen auf dem Dach und einigen Nebengebäuden. Die umliegenden Hügel sind vor Kurzem bis auf den Erdboden abgeholzt worden. Der Gegensatz zwischen manikürter Luxuswelt und Kahlschlag könnte krasser nicht sein.

»Rancho-Spinner«, murmelt Latifa.

Wir steigen ein paar Treppenstufen auf eine lange, breite Veranda hoch, die Haustür geht auf, heraus tritt der Mann, der mich in der Bäckerei zu Boden geprügelt hat. Er hebt eine Hand. »Nicht näher.«

Latifa schüttelt den Kopf. »Ich glaube, Sie kapieren nicht, Mister. Wir sind hier, um Sie festzunehmen. Drehen Sie sich um und stellen Sie sich mit den Händen hinter dem Rücken an die Wand.«

»Ihr macht einen Riesenfehler.«

Ich ziehe den Schlagstock. »Tun Sie, was sie gesagt hat.«

Latifa hat den Taser vom Gürtel genommen. »Drei Sekunden.«

Er lächelt, hebt die Hände und dreht sich um. »Wie heißt du, Schwester? Du gefällst mir.«

Latifa legt ihm Handschellen an, tritt seine Füße auseinander, drückt ihn auf die Knie runter. »Wie lautet Ihr Name? Brandon wie?«

Er atmet tief ein. »Du riechst gut.«

Sie greift zum Pfefferspray und sprüht ihm die Ladung ins Gesicht. »Was riechst du jetzt, Arschloch?«

Mit tränenden Augen und brennendem Gesicht liegt er auf der Veranda und lächelt immer noch. Gluckst regelrecht. »Ich sehe, wir werden uns sehr gut verstehen, Schwester.«