Titel

Hanno Rauterberg

Die Kunst der Zukunft

Über den Traum von der kreativen Maschine

Suhrkamp

EINLEITUNG
Von der belebenden Macht eines Traums

Eine alte, schöne, sehr seltsame Geschichte: Sie erzählt von dem Bildhauer Pygmalion, der eine Skulptur aus Elfenbein schnitzt, eine lebensgroße Frauengestalt, und er »betrachtet sein Werk mit inniger Liebe«, berichtet Ovid.[1]  Doch bleibt es nicht beim Betrachten, Pygmalion umarmt und küsst seine Figur, beschenkt und kleidet sie, bis sich die tote Materie schließlich erwärmt. Was eben noch Schein war, »Kunst umhüllet mit Kunst«, wird atmendes Sein, die Frau beginnt zu leben. Und für Pygmalion erfüllt sich die alte Hoffnung des Menschen: dass die Welt ihn so innig lieben möge, wie er die Welt liebt.

Bis heute hat der antike Mythos nichts von seiner Macht verloren. Nicht nur Künstler, auch Techniker träumen nun davon, ihren kalten Objekten einen subjektiven Geist einzuhauchen. Sie möchten beseelen, was keine Seele hat, allen voran den Computer. Längst hat diese Maschine sämtliche Lebenssphären durchdrungen und ist den Menschen so nahegerückt, dass viele ihr Smartphone öfter streicheln als ihre Liebsten. Sie sind ihren Geräten auf pygmalionartige Weise verfallen. Und geht es nach dem Mythos, kann es nicht mehr lange dauern und die digitale Technik beginnt zu atmen und zeigt ihrerseits menschliches Verlangen.

Spricht man in der Wissenschaft vom Pygmalion-Effekt, ist damit die Kraft der Erwartung gemeint: In einem Experiment amerikanischer Forscher konnten Schüler ihren Intelligenzquotienten ungemein steigern, und das einzig deshalb, weil ihnen Psychologen eingeflüstert hatten, sie, die Psychologen, trauten den Schülern einen ungewöhnlichen Leistungsschub zu und wüssten um ihre ansteigende Intelligenz. Mit ähnlichen Verheißungen werden heute Kühlschränke, Zahnbürsten oder auch Automobile bedacht, die man mit digitaler Technik ausstattet und von denen es heißt, sie würden von künstlicher Intelligenz gesteuert und angetrieben, ja belebt. Banale Alltagsdinge sollen menscheln, ihnen wird Intellekt zugesprochen und also die Fähigkeit, der Welt mit Verstand und geschärftem Erkenntnisvermögen zu begegnen. Die tote Materie möge erwachen, sie soll den Menschen kennen und ihm ebenbürtig werden.

Künstliche Intelligenz ist zu einer zentralen Leitidee der Gegenwart geworden. Sie steht für eine andere Form des Fortschritts. Zwar geht es nach wie vor ums Geschäft, um die Entwicklung neuer Produkte, mit denen sich die Datenwirtschaft beschleunigen und die Rendite der großen Tech-Konzerne weiter steigern lassen. Doch ist die Verwandlung der symbolischen Ordnung kaum zu übersehen. Die neuen Produkte, die smarten Toaster, smarten Häuser, smarten Städte, sind etwas grundlegend anderes als Dampfmaschinen oder der gute alte Otto-Motor. Die Technik von einst mechanisierte das Dasein, und nicht selten machte sie den Menschen zum Rädchen im Getriebe. Hingegen agiert die digitale Technik in einem wolkigen Nichts und zieht weite Teile der Gegenwart eben dort hinein: in eine Sphäre der Unfasslichkeit. Die Maschinen der Digitalmoderne rußen nicht, knattern und stampfen nicht, sie bieten kein leibliches Gegenüber, sondern allenfalls eine Benutzeroberfläche. Die Wirklichkeit dieser Apparate ist eine apparierende Wirklichkeit, reduziert auf Erscheinungen, die sich jederzeit auflösen können und wie von Zauberhand über die Kontinente schweben, um möglicherweise andernorts verwandelt wiederaufzutauchen.

Nein, man muss die digitale Technik nicht mystifizieren und kann sie doch wundersam finden. Es gehört zu ihrer Metaphysik, dass sie allgegenwärtig und nirgends anwesend ist. Wie ein Myzel durchzieht sie die Gegenwart bis in die hintersten Zipfel, wer aber könnte behaupten, er kenne die Algorithmen, die sein Dasein leiten, und habe sie sogar verstanden? Wo einst Maschinenkörper waren, sind nun Maschinengeister.

Deshalb fragt dieser Essay nicht nach der Technik als Technik, er fragt nach ihrer Bedeutung. Er will erkunden, wie sie das Denken und Fühlen, wie sie das Selbst- und Weltverhältnis der Menschen neu bestimmt und ein anderes, ein postautonomes Individuum heraufbeschwört. Erst in den Pygmalion-Effekten der digitalen Maschine zeigt sich der Epochenwandel der Gegenwart in seiner ganzen Tiefe und gelegentlich auch in seiner Absurdität.

Dieser Wandel ist oft beschrieben und ausgemalt worden, mal im hohen Ton der Missionare, mal mit der Inbrunst der Untergangspropheten. Beide Lesarten haben etwas für sich, die Chancen einer globalen Umformatierung lassen sich aus guten Gründen bestaunen, zugleich sind die Gefahren nicht zu leugnen. Künstliche Intelligenz ist sowohl das eine wie das andere, schreibt der amerikanische Literaturagent John Brockman: »Sie ist die Wiederkehr des Messias und die Apokalypse in einem.«[2]  Was jedoch in der Zuspitzung stets zu kurz kommt, ist der Sinn für die Dialektik der digitalen Technik. Just darin aber, in ihrer Fähigkeit, noch die erstaunlichsten Gegensätze kurzzuschalten und auf produktive Weise zu kreuzen, liegt das tiefere Geheimnis für den Erfolg der künstlichen Intelligenz. Sie will das Unvereinbare vereinen und bringt damit die Ordnung der Moderne, die immer eine Ordnung der klaren Unterschiede war, machtvoll ins Wanken.

Besonders deutlich zeigt sich die Dialektik des Digitalen auf dem Feld der Kunst. Hier treffen die Gegensätze lustvoll aufeinander, mathematisches Kalkül und haltlose Spekulation. Hier öffnet sich ein ungeahnter Raum für die Projektionen der neuen Epoche, für ihre pygmalionhafte Sehnsucht. Und so ist dieser Essay vor allem diesen Wunschbildern und ihren Rückwirkungen auf die Wirklichkeit gewidmet. Er will das Gedankenmodell der kreativen Maschine durchleuchten und stellt es in einen tiefen historischen Horizont. Erst hier, in einer ideengeschichtlichen Perspektive, offenbart sich, warum das Projekt einer automatisierten Kunst so verlockend und zukunftshell leuchtet.