Wilhelm Schmid
Heimat finden
Vom Leben in einer ungewissen Welt
Suhrkamp Verlag
»Es ist schwer, den Anfang zu machen.«
»Ist es nicht schön, wenn alles noch so offen ist?«
»Nein, es ist ein Stochern im Nebel, alles noch so ungewiss. Schön ist es erst im Rückblick, wenn alles seinen Platz gefunden hat.«
»Aber ist es dann noch spannend?«
Mein kleines Dorf wollte ich nie verlassen und tat es dann doch, die Pubertät hatte meine Meinung geändert. Ich wollte die große weite Welt erobern, egal wie und warum. In der Stadt war ich erst einmal einsam. Ich verstand das Leben nicht, das so anders war als das ländliche, das ich kannte. Einen verlässlichen Rahmen und zeitlichen Rhythmus bot mir die Arbeit, die ich als Schriftsetzerlehrling zu tun hatte. Aber wo in dieser Welt, die mir fremd vorkam, war Vertrautheit zu finden? In einer Künstlergruppe, der ich mich anschloss, fühlte ich mich auf Anhieb wohl und besser verstanden als je zuvor. Fern der Heimat gab es eine andere Art von Heimat, von der ich nicht einmal gewusst hatte, wie sehr sie mir fehlte.
Heimat war damals kein Gegenstand des Nachdenkens. Das hat sich geändert, auch für mich.* Menschen suchen vermehrt nach Heimat in einer Welt, die ungewiss erscheint, und in einem Leben, das sich schneller ändert, als es verstanden werden kann. Mehr als je zuvor sehen sich selbst diejenigen mit Heimatlosigkeit konfrontiert, die eigentlich wohlbeheimatet sind. Die unheimliche Erfahrung, dass jede Gewissheit über Nacht wegbrechen kann, streute noch dazu 2020 das Coronavirus Sars-CoV-2 über den gesamten Planeten. Aus aller Welt wollten alle mit einem Mal nachhause. Heimat wird zum flüchtigen Gut in der Epoche des Globalwerdens von Menschen und Dingen, das zur Ausbreitung des Virus beigetragen hat. Im permanenten Hin und Her zwischen den Welten werden die Menschen selbst flüchtig und beginnen sich zu fragen: Wo bin ich wirklich daheim? Wo war ich es? Wo wird Heimat künftig möglich sein?
Heimatlosigkeit entsteht durch die Erschütterung, dass etwas nicht mehr so ist, wie es vertraut war, nicht nur in Bezug auf das Leben an einem Ort, sondern auch auf das Lebensverständnis, die Weltsicht, die Verbundenheit mit Anderen. Die Welt, die gewiss erschien, wird ungewiss, wenn Beziehungen zerbrechen, Grenzen fallen, neue Techniken verunsichern, Arbeitsplätze in Frage stehen. Parallel zu aufbrechenden Ungewissheiten wächst das Bedürfnis nach einer verlässlichen, eingespielten Wirklichkeit, auf die gebaut und vertraut werden kann. Heimat ist ein Wort dafür. Einmal fraglich geworden, ist das Leben in unverbrüchlichen Beziehungen an einem festen Ort, in gewohnter Ordnung und fragloser Rollenverteilung jedoch nicht einfach wiederherstellbar. Und diese Erfahrung machen nicht nur Einzelne hier und da.
Für alle bleibt kein Stein mehr auf dem anderen im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Disruption, des Bruchs und Umbruchs in allen Bereichen, in der Virtualisierung des Lebens, in den Beziehungen zwischen Geschlechtern und Kulturen, in Wissenschaft und Technik, in der Politik und Weltpolitik, im Verhältnis zur Natur. Rund um den Planeten wecken klimatische Veränderungen existenzielle Ängste, weltweit scheint es keinerlei Verlässlichkeit mehr zu geben. Es ist nicht das erste Mal, dass die Welt aus den Fugen gerät, aber es ist jedes Mal zutiefst beunruhigend für die, die das in ihrer Zeit erleben. Wie tief dieses Mal der Bruch reicht, wird daran deutlich, wie rasch selbst das Neueste veraltet. Wer Heimat sucht, will in einer festen Wirklichkeit verankert sein, statt sich in uferlosen Möglichkeiten zu verlieren. Nun aber fließt alles, auch die Flussufer zerfließen. Wo in einer Welt, die so unbeständig, ungewiss, ungemütlich erscheint, kann noch Beständigkeit, Gewissheit, Geborgenheit sein?
Seit im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Titel Moderne eine Befreiung von alten Ordnungen ins Werk gesetzt wurde, beschleunigt sich der Prozess. Begleitet wird er ausgerechnet in der Geburtsheimat der Moderne, dem westlichen Kulturraum, von einem schwierigen Verhältnis zur Heimat. Aus der einstigen Verpflichtung, sie zu bewahren, wurde die moderne Norm, sich von ihr zu befreien. Um sie dann zu vermissen. Systematisch produziert die heimatferne Moderne ein Gefühl von Heimatlosigkeit, das aber schwer auszuhalten ist, sodass auf jeden Modernisierungsschub ein Heimat-Hype antwortet. Der fortschreitenden Globalisierung wird mit einer neuen Lokalisierung zu begegnen versucht, einer Rückbesinnung auf überschaubare Orte. Die Neuerungswut hoffen viele mit Traditionalisierung ausbalancieren zu können, mit der Pflege überlieferter Gebräuche vor Ort. Auf die Digitalisierung antwortet eine neuerliche Analogisierung, eine Wiederentdeckung des anfassbaren, realen Lebens.
Aber selbst das politische Versprechen, die Heimat gegen ihre Infragestellung zu schützen, kommt gegen die moderne Dynamik nicht an, die sie gefährdet. Gefährdet wird sie etwa von wirtschaftlichen Zwängen, die erfordern, die Heimat zu verlassen, um dorthin zu gehen, wo Arbeitsplätze sind. Gefährdet wird sie andernorts davon, dass Menschen sie zurücklassen müssen, um sich von unerträglichen Macht- und Lebensverhältnissen zu befreien. In der Kultur der Moderne selbst wird sie noch dazu von den Möglichkeiten der Freiheit gefährdet, denen kaum zu widerstehen ist: Immerzu lockt etwas Anderes, Attraktiveres, das ein Bleiben und Verweilen untergräbt. Eine ständige Unruhe treibt Menschen an, sich ins Unbestimmte vorzuwagen und jede bestimmte Wirklichkeit für neue Möglichkeiten aufzugeben.
Was kommt, wenn die Heimat geht, ist die Sehnsucht nach ihr. Das ist die Not der Zeit, in der nichts mehr feststeht. Die Heimat verspricht Wärme in einer kälter werdenden sozialen Welt. Sie weckt die Hoffnung auf Vertrautheit und Geborgenheit anstelle von Fremdheit und Verlorenheit, auf eine Fülle von Sinn anstelle von Sinnlosigkeit. Sehr viel Selbstvertrauen geht mit der Selbstverständlichkeit einer Heimat einher, in der ich meinen Platz kenne und einfach nur da sein kann: »Hier bin ich richtig.« Umstandslos kann ich mich an den Tisch setzen, nicht nur zuhause, sondern auch bei vertrauten Menschen sonst wo. Ich muss keine Energie aufwenden, um mich erst neu zu orientieren, Leute kennenzulernen und die Sprache zu verstehen. Die Heimat passt zu mir und ich zu ihr, in ihr finde ich mich zurecht, sie ermöglicht mir das Leben und sogar ein anderes, gesteigertes, erfülltes Leben, zumindest für eine Weile, am besten für immer, mit großer Gewissheit, Beständigkeit und Verlässlichkeit.
Der Versuch, sich erneut auf Heimat zu besinnen, ist eine Antwort auf die Sehnsucht nach ihr. Heimat kann als Basislager des Lebens verstanden werden, von dem aus Erkundungen ins Ungewisse möglich sind. Die Welt ist groß und unübersichtlich, jeder Mensch braucht eine kleine Ecke, welcher Art auch immer, die er überblickt, die ihm vertraut ist, in die er sich zurückziehen und ganz bei sich sein kann. Niemand kann in völliger Fremdheit leben, jeder bedarf irgendeiner Heimat, besser aber mehrerer Heimaten (oder auf Englisch heimats), um nicht vor dem Nichts zu stehen, wenn eine verlorengeht. Und wo ist noch Heimat möglich? Eigentlich überall, wo die Welt in Ordnung ist – und selbst dort, wo sie es nicht ist, sofern ein Mensch sich mit dieser Welt vertraut macht und sich darin einrichtet, etwa mit einer inneren Heimat auch in äußerer Heimatlosigkeit. Sogar die Ungewissheit kann zu einem Element der Vertrautheit und insofern zur Heimat werden. Restlos aufzuheben ist sie ohnehin nie.
Im Grunde herrscht kein Mangel an Heimat. Anders als es zunächst den Anschein hat, gibt es viele Möglichkeiten, Heimat zu finden, in abgeschwächter Form ein Zuhause. Aus Haupt- und Nebenheimaten kann sie zusammengesetzt werden wie ein Mosaik, dessen Teile im Laufe des Lebens immer wieder neu zu sortieren sind. Dazu zählen Räume, denen ein Mensch sich zugehörig fühlt und die am ehesten die Gewissheit bieten, die er von einer Heimat erwartet: Vorzugsweise die Wohnung, dann das Dorf, die Stadt, die Region, das Land. Von großer Bedeutung, schicksalhaft von Eltern und dem Zufall festgelegt, ist der Ort der Geburt, die Landschaft der Kindheit und Jugend. Heimat ist dort, wo die eigene Geschichte ihren Lauf nimmt. Diesem Anfang wohnt ein Zauber inne, der das ganze Leben vorhält. Oft erfährt ein Mensch, was ihm die Heimat bedeutet, wenn er sie verlässt. Nie erkennt er den Wert der vertrauten Nähe besser als in der fremden Ferne, auch wenn es ihm sonst an nichts fehlt.
Heimat ist jedoch viel mehr als ein Ort. Sie entsteht auch durch die Beziehung zu sich selbst und Anderen, zu einer Familie, einem Freundeskreis und einer Gruppe, ebenso im Ambiente einer Sprache, einer geistigen Verbundenheit, im Rahmen vertrauter Werte und bevorzugter Künste, insbesondere in Musikrichtungen, Lebensstilen und Moden, Meinungen und Denk-Gewissheiten, Gewohnheiten, Eigenheiten, Tätigkeiten, Phantasien und Erinnerungen. In neuen Formen lebt sie etwa in digitalen Welten wieder auf, und vor allem in der portablen Handyheimat, die für viele so unverzichtbar ist, dass sie das Gerät ständig mit sich tragen. Über das Ich hinaus wollen die meisten Menschen noch dazu in einem größeren Ganzen, einer Gemeinschaft, einer Kultur, in der Natur, im Kosmos, in Gott geborgen sein.
Das Wesentliche, das allen Heimaten eigen ist, dürfte die Bedeutung sein, die ein Mensch allem und jedem geben kann. Was nichts bedeutet, kann keine Heimat sein. Nur das, was wichtig ist und wertvoll erscheint, stellt eine Basis für das Entstehen von Vertrautheit und Geborgenheit dar. Heimat ist das, was nicht egal ist. Sorge wäre jedoch dafür zu tragen, dass der Begriff von Heimat nicht so eng gefasst wird, dass der Wunsch nach einer »Deheimatisierung« entsteht (Bilgin Ayata, 2019). Eine Heimaterweiterung ist nötig, auch wenn das wie eine Hyperheimatisierung erscheint: Alles kann Heimat sein. Statt das Leben auf eine einzige Haupt- und Herzensheimat zu reduzieren, käme es darauf an, auch andere soziale, mentale, räumliche und temporäre Heimaten zu gründen und zu pflegen. Die mögliche Vielfalt wird in der Diskussion über »die Heimat« oft aus den Augen verloren.
Die Heimat braucht einen neuen Twist, einen Dreh, eine tänzerische Wendung, die sie davor bewahrt, in Unbeweglichkeit zurückzufallen. Lange war sie ein Fall fürs Museum, aber das Verschwinden dieser alten Heimat zu beklagen, bringt sie nicht zurück. Die Heimat hat eine große Zukunft vor sich, aber nicht mit dem Modell der Vergangenheit. Sie stand für das Gleichbleiben einer Identität. Beständig kann sie aber nur sein, wenn sie auch Veränderung zu integrieren vermag. Eine Heimat, die nichts integrieren kann, ist in ihrer Existenz bedroht, da keine Weiterentwicklung in ihr mehr möglich ist. Von der Veränderung, die sie ausschließen will, wird sie überrollt.
Die erneuerte Heimat steht daher für die Arbeit an einer Integrität, die relativ beständig und zugleich veränderlich ist, offen für Andere und Anderes. Eine so verstandene Heimat erleichtert auch die Integration derer, die auf der Suche nach einer neuen Heimat sind. Vor Ort treffen sie auf Menschen, von denen einige um ihre Identität bangen, da ihre Heimat mit Fremden nicht dieselbe bleibt. Andere aber sehen in ihnen eine Bereicherung der Heimat. Grenzen ziehen höchstens die verfügbaren Ressourcen, denn es wäre sinnlos, eine Heimat so zu überfordern, dass sie für niemanden mehr Heimat sein kann.
Sich um Heimat zu kümmern, ist Sache jedes Einzelnen. Nur er (oder sie oder divers) kann wissen, was für ihn solche Bedeutung hat. Im Zweifelsfall ist es eine Frage der Definition. Wer Festigkeit will, sollte sich festlegen und attraktivere Alternativen außer Acht lassen. Wer Vertrautheit will, sollte Fremdes immer wieder in Bekanntes verwandeln. Heimatpflege ist ein Carework, eine Sorgearbeit, mit der ein Ich sich nicht nur passiv am Gegebenen erfreut, sondern aktiv um sein Heimatmosaik bemüht. Auch so ist ein farbenfrohes Leben möglich.
Wo und wie Heimat unter modernen Bedingungen des Lebens gefunden, geschaffen und gepflegt werden kann, ist das Thema dieses Buches, das selbst ein Mosaik aus lose verbundenen Episoden und Aspekten mit vielen Farben und Facetten ist. Die Zusammenschau all dessen, was Heimat sein kann, soll dazu anregen, sich erstmals oder von Neuem Gedanken über die Bedeutung der Heimat für das eigene Leben zu machen: »Brauche ich Heimat? Wo sind meine Heimaten? Was kann ich dafür tun, mich zu beheimaten? Worin sehe ich meine Kernheimat, was halte ich für peripher?«
Auch für mich selbst will ich Antworten auf diese Fragen finden, insofern ist es zugleich ein persönliches Buch. Das Leben so zu gestalten, dass bei aller Erfahrung von Fremdheit und Befremdung Vertrautheit und Geborgenheit entstehen kann, ist ein Element der Lebenskunst. Und der Kunst des Liebens, die ihre eigenen Arten der Beheimatung kennt. Daher widme ich dieses Buch meiner Frau Astrid, mit der ich seit vielen Jahren überall dort Heimat finde, wo wir gerade sind. Ich hätte sie nie kennengelernt, wäre ich nicht aus meinem kleinen Dorf in die Welt hinausgezogen. Einige Momentaufnahmen aus unseren Gesprächen, die das Werden des Buches über lange Zeit hinweg begleiteten, sind hier und da wiedergegeben. Sie haben das Buch bereits eingeleitet, und sie werden es auch abschließen.