Titel

Luuk van Middelaar

Das europäische Pandämonium

Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke

Suhrkamp

Widmung

Ich wollte, dass man Die Pest auf mehreren Ebenen lesen kann.
Dennoch handelt der Roman ganz offenkundig vom europäischen
Widerstand gegen den Nazismus. Der Beweis dafür ist, dass dieser an keiner Stelle beim Namen genannte Feind von allen erkannt wurde,
und zwar in allen Ländern Europas. […] In gewissem Sinne ist
Die Pest mehr als eine Chronik des Widerstands. Aber sie ist ganz
sicher nicht weniger.

Albert Camus an Roland Barthes (1955)

Prolog: Panik

Ja, einige waren so schwärmerisch begeistert, dass sie mit ihren mündlichen Weissagungen durch die Straßen liefen und behaupteten, sie seien gesandt, um der Stadt zu predigen, und vor allem rief einer, wie Jona zu Ninive, in den Straßen aus: »Noch vierzig Tage, und London wird zerstört werden.«

Daniel Defoe, Die Pest in London1

Immer lauter ertönt eine verzweifelte Klage. In den letzten Winterwochen des Jahres 2020 verbreitet sich das Virus heimtückisch über den unachtsamen Kontinent und zwingt Zehntausende in einen Kampf auf Leben und Tod. Die meisten europäischen Staaten riegeln ihre Grenzen ab, Millionen Haushalte verschließen ihre Türen, während die Fernsehnachrichten Tag für Tag die Toten zählen und Ärztinnen und Krankenpfleger wie in den Krieg ziehende Soldaten ehren. Kolonnen von Militärlastwagen mit Särgen in der Lombardei, verlassene Altenheime in Madrid, mobile Krematorien in Wuhan: Fragmente entsetzlicher Szenen nähren die Angst vor Berührung und Ansteckung. In Europa ereignet sich eine Katastrophe, doch eine gemeinsame Antwort bleibt aus. Europa handelt nicht.

Besonders heftig ist die Klage in Italien, das früh vom Virus heimgesucht wird. Hilferufe bleiben unbeantwortet, bittere Vorwürfe folgen. »Wenn wir in dieser Stunde der Wahrheit im Stich gelassen werden, sind wir außerhalb der Union besser aufgehoben«, ist oft zu hören. Zustimmung kommt, etwas leiser, aus Spanien. Auch anderswo steht die langsame und schwache Reaktion der europäischen Institutionen in scharfem Kontrast zu menschlichen Tragödien, in Krankenhäusern und Altenheimen von Bergamo bis Madrid, Mulhouse oder Tilburg. Die chaotisch geschlossenen Binnengrenzen gelten als weiterer Skandal. Wenn die Union das freie Reisen, seit Jahr und Tag ihr größter Stolz, nicht garantieren kann – ja, wenn freie Bewegung sogar eine Gefahrenquelle ist –, drohen Irrelevanz und Implosion.

Verblüffend schnell schlagen die Sorgen und Vorwürfe in Zweifel am Überleben der Union als solcher um. In der ganzen Welt verlangt die Pandemie den Regierenden wie den Bevölkerungen das Äußerste ab. Die Geschwindigkeit der Ausbreitung, die epidemiologische Unsicherheit und die gesellschaftliche Verwirrung stellen alle politischen Systeme auf die Probe. In China macht Covid-19 die Schwächen und die Stärken eines autoritären Staates sichtbar: Nach einer peinlichen Phase der Leugnung und Zensur geht Xi Jinpings Regierung das Problem energisch an. In den Vereinigten Staaten fordert die Pandemie den Präsidenten als impulsiven Staatschef in Krisenzeiten heraus, der im Vorfeld der Wahl einen Zickzackkurs zwischen dem Übel Hunderttausender Todesopfer und den Kosten eines Lockdowns fährt. Trotzdem kommt niemand auf den Gedanken, einer dieser beiden Staaten könne durch die Pandemie zerstört werden. Für die Europäische Union dagegen wird die Krise prompt und ganz selbstverständlich als eine Angelegenheit wahrgenommen, bei der es ums Ganze geht.

Im pandemischen Lamento über das drohende Ende Europas sind zwei Kategorien von Vorsängern zu unterscheiden. Da sind erstens die Stimmen des Gewissens. Im fast leeren Petersdom wendet sich Papst Franziskus am Ostersonntag an die Stadt und den Erdkreis. Er erinnert an die Zerstörungen des Krieges und den Wiederaufbau nach 1945, der möglich war, weil alte Rivalitäten überwunden wurden, und mahnt: »Umso dringender ist es, gerade unter den heutigen Umständen, dass diese Rivalitäten nicht wieder aufleben, sondern dass sich alle als Teil einer Familie erkennen und sich gegenseitig unterstützen.«2 Im gleichen Geist warnt ein Luxemburger Kardinal vor der »Entzauberung« des europäischen Projekts, dem diese Krise die »fatale Wunde« zufügen könne.3 Ende März erkennt der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors in der ausbleibenden innereuropäischen Solidarität eine »tödliche Gefahr« für die Union. Mit ausgeprägtem Sinn für Metaphorik stellt der 94-Jährige fest: »Die Mikrobe ist zurück.«4 Ähnlich düster äußert sich Jean-Claude Juncker, einer von Delors' Nachfolgern, in einer österreichischen Zeitung: »Der europäische Geist ist in Gefahr.«5 Die moralischen und politischen Autoritäten legen den Nachdruck auf Europa als ideelles Projekt, als Schicksalsgemeinschaft, die nationale Egoismen überwinden muss. Ohne das Bewusstsein der Verbundenheit werde Europa als Idee sterben.

Zweitens sind die besorgten Stimmen des Geldes zu hören – aus London, New York, Frankfurt. Weil sie das Ende Europas als Währungsunion und Markt fürchten, erinnern sie an die dramatischen finanziellen und wirtschaftlichen Krisen, die die Währungsunion seit 2008 durchgemacht hat. Der frühere Zentralbankpräsident Mario Draghi warnt vor einer »menschlichen Tragödie biblischen Ausmaßes«.6 Zweifel von Investoren an der Zahlungsfähigkeit des italienischen Staates könnten eine Eurokrise auslösen, meint ein Warner in der Financial Times.7 Unternehmer teilen diese Sorge. Im britischen Fernsehen bezeichnet der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte die sozioökonomischen Folgen der Pandemie als »große Herausforderung für das Weiterbestehen Europas« und warnt, die Gefahr eines Zerfalls sei »real«.8 Anfang Mai erklären die Dienste der Kommission in amtlichem Ton, die Krise werde vermutlich »zu schwerwiegenden Verzerrungen auf dem Binnenmarkt und zu tief greifenden wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Unterschieden zwischen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets« führen, was schließlich die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion bedrohen könne.9 Das ökonomische Flechtwerk, dem die Union ihren Zusammenhalt verdankt, droht augenscheinlich zu zerreißen.

Auch Stimmen von außerhalb prophezeien das Ende Europas. Nicht in sorgenvollem, warnendem oder flehentlichem Tragödienstil, nein, in beißendem, spöttischem, verächtlichem Ton, schadenfroh, provozierend und aggressiv, wobei sich vor allem Peking und Moskau hervortun. Für sie ist der angekündigte Tod Europas kein Trauerspiel, sondern eine Chance, ein Ereignis in einem Epos mit anderen Hauptpersonen. Bei jeder Gelegenheit betonen sie, von »Brüssel« sei in dieser Krise nichts zu sehen, und wer zum Beispiel einen Container Schutzmasken brauche, solle sich besser an China oder Russland wenden: In der Not erkenne man seine wahren Freunde! Der chinesische Botschafter in Paris höhnt, die Angestellten von Altenheimen hätten von einem Tag auf den anderen »massenhaft ihre Posten verlassen und die Bewohner Hunger, Krankheit und Tod ausgesetzt«.10 Ein Mitglied des russischen Föderationsrats verbreitet die Falschmeldung, die polnische Regierung habe russischen Flugzeugen mit medizinischen Hilfsgütern für Italien das Überflugrecht verweigert.11 Man spottet über die Uneinigkeit der Europäer, über die Hilflosigkeit der offenen Gesellschaft und präsentiert die Einigkeit und Disziplin des autoritären Staates als verlockende Alternative.

In dieser düsteren Kakophonie fast unbemerkt – und entgegen der allgemeinen Erwartung – geschieht es, dass die Union sich aufrafft, und sogar ziemlich schnell. Einige energische politische Entscheidungen widerlegen den Fatalismus. Bereits am Gründonnerstag, dem 9. April 2020 (drei Tage vor dem päpstlichen Appell im Petersdom), haben die europäischen Finanzminister eine akute Gefahr abgewendet. Und am 18. Mai (drei Tage vor Himmelfahrt) bekräftigen die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident ihren Willen zu einer gemeinsamen Zukunft in und als Europa. Als wahre Zeitkünstler machen sie aus dem Moment der Bedrängnis einen Übergang.

Doch was hängen bleibt, besonders in Italien, ist die Erinnerung an das Scheitern in einem Augenblick der Wahrheit. Sie weckt Zweifel an der Fähigkeit Europas, die von der Pandemie verursachten Erschütterungen und wirtschaftlichen Verwerfungen als Einheit zu überstehen, zumal niemand vergessen hat, dass die Union im vergangenen Jahrzehnt mehrfach versagt hat. Jedes Mal wurde das Ende Europas angekündigt, kam aber nie. Wie soll man diese Unsicherheit und Anfälligkeit deuten? Und können die Erfahrungen aus früheren Krisen nicht auch Grund zu Selbstvertrauen geben? Hat sich nicht jedes Mal gezeigt, dass Europa Krisen mit überraschend viel Energie meistern kann?

»Pandämonium« heißt in John Miltons Epos Das verlorene Paradies die Hauptstadt der Hölle, in der Dämonen lärmend und brüllend wüten. Eine Pandemie ist kein Pandämonium. Doch in dieser Pandemie tanzen falsche Propheten um das Feuer der Verwirrung, die Wehklagen bedrohter Seelen vermischen sich mit den Schreien von Kranken und den Seufzern der Toten, während Corona-Teufel nach Luft schnappende Körper gegeneinander aufhetzen, Streit über das Einsperren der Gesunden säen und Groll gegen diejenigen schüren, die diesen Abstieg in die Hölle verschuldet haben.

Und doch wirkt diese Heimsuchung wie frühere schwerwiegende Ereignisse läuternd, nicht zuletzt dank des öffentlichen Aufruhrs, den sie in der Union auslöst. Zum pandemischen Tumult gehören nicht nur Zwiespalt und Streit, sondern auch die Überraschung einer gemeinsamen Erfahrung, die Entdeckung, dass mit dem Verlust des Paradieses ein gemeinsames europäisches Haus in der Zeit zu gewinnen ist.

»Und ohne erst um Ruhe uns zu kümmern, / Hinaufgestiegen, er voran, ich folgend, / So lang bis ich ein Stück der schönen Bilder / Des Himmels durch ein rundes Loch erblickte. / Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne.«12