Titel

Andreas Maier

Die Städte

Roman

Suhrkamp

 
 
 
 
 

Die Städte kamen sich näher. Mein Heimatort Friedberg in der Wetterau wurde Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch die S-Bahn an Frankfurt angeschlossen. In den Achtzigern standen die Autofahrer schon längst alle im Stau auf der A5, wenn sie morgens nach Frankfurt wollten. Manchmal begleitete ich meinen Vater in die Metropole. Die Wagen blieben bereits Hunderte Meter vor der Auffahrt auf die A5 stecken. Unser Autobahnzubringer befand sich bei Rosbach vor der Höhe.

Manche Städte wuchsen regelrecht zusammen: Zwischen Friedberg und meinem Geburtsort Bad Nauheim lag bald nur noch ein unbebautes Stück von der Größe zweier Fußballfelder. In meiner Kindheit sah man auf der Straße zwischen den beiden Städten manchmal gar kein Auto und bei stärkerem Verkehr vielleicht drei oder vier. Zu meiner Studienzeit war die Straße bereits komplett ausgelastet. Inzwischen wird die seit Jahrzehnten geplante Ortsumgehungsstraße um beide Städte gebaut, die diesen Sommer (2009) eröffnet werden soll. Anschließend wird sie bis Frankfurt weitergeführt.

Als ich in meinem siebten Semester zum ersten Mal ins Altphilologische Institut in der Frankfurter Gräfstraße kam, hatte ich gerade eine Beziehung zu einer Frau aus dem Hunsrück hinter mir. Ich selbst war zweimal in ihre Heimatregion gefahren, in einem VW. Ich reiste zum Beispiel auch nach Innsbruck, weil ich eine Hausarbeit über einen österreichischen Autor schrieb und mir ein paar Sachen vor Ort vergegenwärtigen wollte. Nach dem Abitur war ich mit meiner damaligen Freundin Bettina nach Rom gefahren, im Zug. Dort hatten wir in der Nähe des Petersdoms bei Nonnen übernachtet. Manchmal war ich auch in Städte wie Wien oder Biarritz getrampt. Als Oberstufenschüler war ich in ein jüngeres Mädchen in Wasserburg am Inn verliebt, sie war zwölf. Dort trampte ich ebenfalls oft hin. Weitere Reisen: Als Kind nach Rom (Auto), nach Venedig (Auto) und an den Gardasee (Auto). Mit der Schulklasse nach Belgien an den Strand und einen Tag nach London, einen anderen Tag nach Luxemburg, jeweils mit Bus. Die beiden Flugreisen in meinem Leben: mit sieben Jahren nach Berlin und zurück, Flughafen Tempelhof. Mit dreizehn Jahren nach Athen und nach einer zehntägigen Busrundreise gemeinsam mit meinen Eltern von Athen wieder zurück.

Als ich ein Kind war, fuhren wir überdies in fast allen Ferien nach Tirol und später nach Südtirol in eine Ferienwohnung. Davon emanzipierte ich mich mit elf Jahren, seitdem konnte ich zu Hause bleiben. Ich schaffte es, indem ich alle terrorisierte.

Ein paarmal nahm ich einen Zug nach Turin, dort besuchte ich eine ehemalige Austauschschülerin, mit der ich im zwölften Schuljahr eine kurze Beziehung gehabt hatte. Einmal fuhr ich während der Semesterferien für zehn Wochen in ein Bergdorf im Piemont namens Oulx. Die kleine Wohnung dort hatte mir die ehemalige Austauschschülerin vermittelt. Ich wollte mich in Oulx umbringen. Ich brachte mich aber in Oulx nicht um, sondern fuhr von dort nach Turin, von da mit einigen Freunden meiner italienischen Austauschschülerin in einen kleinen Ort, den sie Barone nannten (vollständig hieß er Barone Canavese), dort hausten wir in einem heruntergekommenen Barock-Schloß, das einer ihrer Freunde geerbt hatte, einer Art Turm (ausgediente Billard- und Whisttische, riesige Kamine). Oder ich fuhr von Oulx nach Chambéry, eine Brieffreundin besuchen, die vormals Au-pair-Mädchen in Friedberg gewesen war. Oder nach Grenoble, dort wohnte ein algerischer Gastwirt, den ich seit meiner Kindheit kannte. Nachdem ich mich in Oulx nicht umgebracht hatte, konnte ich immerhin ein bißchen Italienisch.

Als Student reiste ich auch an den Lido. Dort besuchte ich eine mit uns befreundete Familie. Meine Mutter war im Alter von vierzehn Jahren mit ihrer Großmutter nach Venedig gefahren, dort hatte sich ein Venezianer in sie verliebt. Das war die Grundlage für unsere Beziehung zu Venedig. Der Bruder des Venezianers setzte einmal Papst Johannes XXIII. über die Lagune, der Erzählung nach nicht in einer Gondel, sondern in einem gewöhnlichen Ruderboot.

Hin und wieder fuhr ich mit dem Auto (ich rede jetzt wieder über meine Zeit als Student) nach Limburg, um dort einen weiteren Familienfreund zu besuchen, bei dem ich meistens übernachtete, einen Domkapitular namens Christian Meurer, damals Mitte Sechzig. Dieser wiederum hatte in Rom studiert, daher war die Hochzeitsreise meiner Eltern dorthin gegangen. Meine letzte Reise als eingeschriebener Student ging nach Weimar (ICE).

Weitere Reisen: München mit Bettina, Kassel mit Bettina (documenta 8), Fulda mit Bettina (Ausstellung ihres Vaters), Freiburg (Besuch einer ehemaligen Schulfreundin). Als Kind: Celle, weil mein Vater dort an irgendeinem Gericht zu tun hatte. Mit dem Auto in die DDR nach Freiberg und Dresden. Im elften Schuljahr bin ich für zehn Tage nach Berlin getrampt (und lernte dort das Wasserburger Mädchen kennen). Auf der Transitstrecke hatte mich eine Frau der Alternativen Liste in einem R5 mitgenommen. Während der Fahrt verliebte ich mich natürlich auch in sie.

Weitere Bewegungen: Ab dem siebten, achten Schuljahr trampte ich wie viele andere in einem Umkreis von ca. zwanzig Kilometern um Friedberg herum von Ort zu Ort, um Freunde zu besuchen. Als ich mit siebzehn mit einer viel älteren Frau in Echzell zusammen war, trampte ich jeden Tag von ihr zur Schule nach Friedberg. Als Student in den ersten zwei Semestern: fast jeden Tag die Strecke Friedberg–Frankfurt und zurück, entweder mit der S-Bahn oder mit einem Regionalzug. Keine Ahnung, an wie vielen Menschen ich vorbeigekommen bin, ohne etwas von ihnen zu wissen.

Würde ich jetzt, im Jahr der Fertigstellung der Ortsumgehung, eine Karte meiner Lebensbewegungen von den ersten Jahren bis zum Ende meiner Studienzeit anfertigen, hätte sie folgende Eckpunkte: Hamburg, London, Biarritz, Barcelona, Neapel, Athen, Wien, Bautzen, Berlin.

NÜRNBERG, BRENNER, BRIXEN