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Foto: Ekaterina Rachanskaja

Titel

Olga Shparaga

Die Revolution hat ein weibliches Gesicht

Der Fall Belarus

Aus dem Russischen von Volker Weichsel

Suhrkamp

Belarus. Beginn einer Revolution

Vorwort

Seit den Wahlen im August 2020 wurden in Belarus mehr als 33 ‌000 Menschen verhaftet und wegen der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen mit Arreststrafen belegt.1 Gegen mehr als 2300 Personen leitete das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko Strafverfahren ein. Sie hatten bei den Wahlen kandidieren wollen, unabhängige Kandidaten unterstützt oder gegen das offenkundig gefälschte offizielle Wahlergebnis protestiert.2 Mehr als 300 Menschen sind nach internationalen Kriterien als politische Gefangene anerkannt.3 Unter ihnen sind 38 Frauen. Gegen weitere 141 Frauen laufen Strafverfahren.4

Eine der politischen Gefangenen ist Maria Kolesnikowa. Sie ist weltweit zum Gesicht der belarussischen Proteste geworden.

Immer neue Urteile in immer mehr Strafprozessen – dieses niederschmetternde Faktum prägt heute das Bild der Revolution im Prozess (revolution-in-progress), wie ich die Proteste nenne, die im Sommer 2020 begannen. Immer noch werden jeden Tag Menschen verhaftet, weil sie es trotz massiver staatlicher Repressionen wagen, die Farben der Protestbewegung, die weiß-rot-weiße Flagge, in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie kleiden sich in diesen Farben, sie hängen Fahnen aus dem Fenster ihrer Wohnung. Sie begegnen einander zufällig auf öffentlichen Plätzen oder sie verabreden sich zu Treffen in den Wäldern, wo sie hoffen, von den Schergen des Regimes nicht entdeckt zu werden.

Denn diese »Ordnungskräfte« sind fast überall. An den Universitäten des Landes gibt es neue Prorektoren, deren Aufgabengebiet »Sicherheit und Ordnung« lautet. Im Stadtzentrum von Minsk patrouilliert die Polizei rund um die Uhr, und die Sondereinsatzkräfte des OMON fahren die Wohnblöcke der Stadt ab. Auch in allen anderen Städten des Landes stehen Vereine, engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft, Künstlerinnen und Künstler und ganz normale Menschen unter ständiger Beobachtung.

In Kiew ist seit dem 25. März 2021 eine Ausstellung über die belarussische revolution-in-progress zu sehen, darunter auch die Multimedia-Installation der belarussischen Künstlerin Antonina Slobodchikova.5 Das Werk mit dem Titel »Requiem for a Dream« verleiht der gegenwärtigen Lage auf erschütternde Weise Ausdruck. Die Ausstellungsbesucher betreten einen schwarzen Quader, der den Maßen der in Belarus eingesetzten Gefangenentransporter (avtozak) entspricht. Zehntausende Menschen haben dieses Fahrzeug im Herbst 2020 von innen gesehen, als sie nach ihrer Verhaftung in den oft völlig überfüllten Wagen auf eine Polizeiwache oder ins Gefängnis gebracht wurden. Der Raum löst Klaustrophobie aus. Dort stehen die drei Symbole der belarussischen Revolution, das Victory-Zeichen, das Herz und die Faust, als menschenhohe Wachsskulpturen. Slobodchikova hatte die Trias im Juli 2020 nach der Gründung des Vereinigten Teams der drei Frauen um Swetlana Tichanowskaja erstmals gezeichnet. Das Material steht zugleich für die weiche Taktik des Widerstands und für die kollektive Verletzlichkeit. Ein Projektor wirft in vielen Sprachen das Wort »Gewalt« an die Innenwände des Quaders, zu hören sind die Schreie von Frauen.

Ein anderer Teil des Videos zeigt die Tochter der Künstlerin, die frohen Mutes ist, Blumen in der einen Hand hält und mit der anderen das Victory-Zeichen formt. Dazu läuft »Peremen« (Wandel), der Song des sowjetischen Rockmusikers Viktor Zoj.

Das Kunstwerk zeigt, dass sich unter den tragischen und traumatisierenden Ereignissen, die alle Belarussinnen und Belarussen gegenwärtig erleben und die die spärlich gewordenen Nachrichten aus dem Land dominieren, noch etwas anderes verbirgt: das unsichtbare Massiv der Solidarität und der anhaltenden Proteste.

Sichtbar sind die Tausende Briefe, die die politischen Gefangenen auch aus dem Ausland erreichen. Welche Bedeutung diese Briefe haben, d. ‌h. wie Absender und Adressaten sich gegenseitig unterstützen, wird aus einer Bemerkung von Katerina Borisewitsch deutlich. Die Journalistin wurde am 2. März zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil sie die Ergebnisse der Obduktion von Roman Bondarenko veröffentlicht hatte, der am 11. November von maskierten Schlägern verhaftet wurde und am nächsten Abend gestorben war. »In letzter Zeit erhalte ich oft Briefe, in denen es heißt: ›Katerina, eigentlich wollten wir Ihnen helfen, und jetzt haben Sie uns geholfen. Wir haben Ihre Antwort erhalten und das hat uns so viel Mut gemacht!‹«

Viele Belarussinnen und Belarussen gehen zu den Verhandlungen, bei denen über die politischen Gefangenen gerichtet wird. Immer wieder bilden sich Schlangen vor den Gerichtssälen. Die Gefangenen lassen sich nicht brechen. Levon Chalatrjan, der sich im Wahlkampfteam des verhinderten Kandidaten Viktor Babariko engagierte und am 11. August verhaftet wurde, verbrachte mehr als sieben Monate im Gefängnis und wurde am 19. Februar 2021 zu zwei Jahren Arbeitsbesserungsanstalt im offenen Vollzug verurteilt. »Chemiefabrik« wird diese Strafe in Belarus seit sowjetischen Zeiten genannt, weil die zu einer solchen Strafe verurteilen politischen Gefangenen diese oft in Werken der chemischen Industrie ableisten mussten. Chalatrjan sagt: »Natürlich ist es übel hinter Gittern. Aber es bringt dich nicht um. Wir überleben. Viele politische Gefangene sehen es so: Ich sitze, aber Hauptsache, die Wende zum Besseren ist eingeleitet.«

Diejenigen, die im Herbst auf die Straßen gegangen sind, halten weiter über Telegram-Kanäle Kontakt. Ab und zu finden auch kleinere Aktionen in den Höfen der Wohnblocks statt, wenngleich sie wegen der scharfen Kontrollen seltener geworden sind.

Immer noch tun sich neue Menschen zusammen, um gemeinsam dem Regime und der Angst zu widerstehen. Nur ein besonders beeindruckendes Beispiel: Am 23. Februar haben sich fünfzehn im Herbst 2020 entstandene studentische Streikkomitees aus sechs belarussischen Städten in einer gemeinsamen Dachorganisation zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, zurück nach Belarus zu bringen.6

Unter der Oberfläche gehen die Proteste weiter – im Modus friedlicher Partisanentaktik. Die Solidarität der Gesellschaft ist ungebrochen. Hätten sich die belarussischen Bürger der Lukaschenko-Diktatur gefügt, die im Jahr 2020 ihr wahres Gesicht gezeigt hat, müsste der Staat nicht jeden Tag mit scharfen Kontrollen und harten Repressionen im ganzen Land gegen sie vorgehen.

Bei den Gerichtsverhandlungen sind die sogenannten Zeugen meist Polizisten, die ihre Gesichter hinter Sturmhauben verbergen. Kommen Polizisten zu einem Arzt, nennen sie oft ihren Beruf nicht – aus Angst oder aus Scham. Zur Partisanentaktik gehört auch die Weigerung, Anordnungen des Regimes zu folgen, etwa seine Unterschrift auf Listen zu setzen, mit denen die Europäische Union im Namen des belarussischen Volkes aufgefordert wird, die Sanktionen gegen das Regime aufzuheben; keine Waren von Produzenten zu kaufen, die dem Regime nahestehen; und natürlich die Verbreitung der Symbole der Revolution, von Flugblättern und Informationen.

Lukaschenko behauptet, er habe gesiegt. Doch die Gesellschaft ist nur im Stand-by-Modus. Das Regime weiß das, sonst hätte es nicht am 25. März, dem Jahrestag der Gründung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918, in Minsk und allen anderen Großstädten des Landes ein Großaufgebot von Polizisten aufgefahren. Zur Abschreckung wurden erneut hunderte Menschen verhaftet.

Großdemonstrationen konnte das Regime verhindern. Dazu trägt nicht zuletzt ein am 1. März 2021 verabschiedetes Gesetz bei, das die Strafen für Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen verschärft. Ebenso die Schauprozesse, in denen Woche für Woche Menschen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum die Gesellschaft im Stand-by-Modus verharrt. Es fehlt an einer Perspektive, wie ein Machtwechsel stattfinden könnte.7

Die Proteste im Sommer und Herbst 2020 haben gezeigt, wie unzufrieden ein beträchtlicher Teil der belarussischen Bevölkerung mit dem Regime ist. Die Menschen haben eine beispiellose Solidarisierung und Selbstorganisation angestoßen. Die Gesellschaft hat sich radikal verändert. Lukaschenko konnte sich nur noch mit immer härteren Repressionen im Amt halten. Doch er ist machtlos. Seine Herrschaft stützt sich nur auf Gewalt. Alles, was er kann, ist die Macht der solidarischen Gesellschaft zu unterdrücken. Das Land steckt in einer Sackgasse.

Die Revolution ist nicht vorbei. Sie ist in eine neue Phase eingetreten. Die Menschen in Belarus erleben ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits wollen sie handeln, komme, was wolle. Sie sind entschlossen, sich nicht mit dem Unrecht abzufinden. Auf der anderen Seite herrschen Verzweiflung und Angst. Alle machen sich Sorgen um die Gefangenen. Dazu kommen Schuldgefühle, weil es nicht gelungen ist, die Revolution zu vollenden und Lukaschenko zu stürzen.

In einer besonderen Lage sind jene Tausende Menschen, die das Land verlassen haben, um den Repressionen zu entkommen oder weil sie keine Hoffnung auf rasche Veränderung mehr hatten.8 Viele von ihnen nehmen heute im Ausland an Solidaritätsaktionen teil und wünschen sich nichts sehnlicher, als bald wieder nach Belarus zurückkehren zu können.

Besonders aktive Teilnehmer der Protestbewegung sind sogar der Überzeugung, dass wir schon heute in einem neuen demokratischen Belarus leben; dass die Zukunft bereits angebrochen ist und das Lukaschenko-Regime der Vergangenheit angehört. Für diese Sicht spricht, dass die Erwartung groß ist, schon jetzt über Reformen zu sprechen, die im neuen Belarus angegangen werden müssen.9 Es gibt eine enorme Nachfrage nach Bildungsangeboten, mit denen die Bürger sich auf die künftigen Aufgaben vorbereiten können.

Frauen spielten in den entscheidenden Momenten der Revolution eine zentrale Rolle und sie tun es bis heute. Am 12. August bildeten sie nach drei Tagen des Terrors, den das Regime nach den Wahlen gegen die friedlich demonstrierenden Bürger entfesselt hatte, ihre erste Kette der Solidarität. (Menschenketten gab es in Belarus bereits seit Juni.) Frauen führten die belarussische Gesellschaft aus ihrer Erstarrung und gaben den Anstoß zu den großen Demonstrationen in den folgenden Wochen. Bis heute nehmen sie an den Partisanen-Protesten teil, fordern politische Teilhabe ein10 und bestehen darauf, dass der Zusammenhang zwischen staatlicher Gewalt und häuslicher Gewalt anerkannt wird.

Unzählige Frauen haben eine Stunde des persönlichen empowerment erlebt. Auch ich habe diese Erfahrung gemacht. Sie hat meinen Entschluss bekräftigt, mich an dem auf Initiative von Swetlana Tichanowskaja geschaffenen Koordinierungsrat zu beteiligen, dem einzigen legitimen Vertretungsorgan des belarussischen Volkes. Diese Erfahrung hat mich auch dazu gebracht, nach meiner erzwungenen Ausreise aus Belarus Ende Oktober mit Swetlana Tichanowskaja in Verbindung zu treten und ihre Vertreterin in Fragen der Bildungspolitik zu werden.

Der Koordinierungsrat in Minsk, die beiden Zentren der ins Exil gezwungenen Protestbewegung (das Büro von Swetlana Tichanowskaja in Vilnius und das Nationale Krisenbewältigungszentrum unter der Leitung von Pawel Latuschko in Warschau), die buchstäblich rund um den Globus aktive belarussische Diaspora, die über das Internet verbundenen Gruppen wie die Ehrlichen Leute (Chestnye ljudi) und viele andere, die die Lage verfolgen, Proteste organisieren, die Zukunft eines demokratischen Belarus diskutieren, und nicht zuletzt die große Zahl an Menschen aus anderen Ländern, die sich mit der Protestbewegung solidarisiert haben – sie alle sind Teil der belarussischen revolution-in-progress. Sie haben erreicht, dass die Europäische Union dreimal gebündelte Sanktionsmaßnahmen gegen das Lukaschenko-Regime beschlossen hat, dass die Vereinten Nationen eine Untersuchung und Dokumentation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Belarus eingeleitet haben, dass die für das Regime so prestigeträchtige Eishockey-Weltmeisterschaft im Jahr 2021 nicht wie geplant in Belarus stattfinden wird und dass Belarus vom Eurovision Song Contest 2021 ausgeschlossen wurde, weil die entsandte Gruppe mit einem Song auftreten wollte, der die Protestbewegung verhöhnt. Auch erfährt Belarus eine beispiellose internationale Solidarität im akademischen Bereich: Studenten, Wissenschaftler und Hochschullehrer helfen ihren verfolgten Kommilitonen und Kollegen.

Am 18. März haben Swetlana Tichanowskaja und die vereinten demokratischen Kräfte eine Befragung begonnen, bei der die Menschen in Belarus darüber abstimmen, ob die Protestbewegung unter internationaler Vermittlung Verhandlungen mit dem Regime anstreben soll. Die Abstimmung, bei der es sich lediglich um ein Mobilisierungsinstrument handelt, findet auf der Plattform Golos statt, der die EU, die USA und die OSZE vertrauen. Bereits mehr als 750 ‌000 Belarussinnen und Belarussen haben sich beteiligt.

Wichtigste Antriebskraft der fortdauernden Revolution in Belarus sind jedoch nach wie vor die Bürger selbst. Die soziale Energie, die seit Beginn des Wahlkampfs im Mai 2020 freigesetzt wurde, sucht nach neuen Formen der Entladung. Daher geht die Emanzipation der belarussischen Gesellschaft weiter, ihre autonome Umgestaltung und die Suche nach neuen Mitteln, wie die Diktatur gemeinsam beendet und eine demokratische politische Ordnung in Belarus errichtet werden kann.

Dieses Buch handelt davon, wie und warum die belarussische Gesellschaft aufgebrochen ist und warum Frauen zum Gesicht dieses Ereignisses wurden. Da der Aufbruch der Frauen bereits im Juni 2020 begann, ist das erste Kapitel der Entstehung eines neuen weiblichen kollektiven Subjekts gewidmet. Ich untersuche die Dimensionen dieses Aufbruchs, zeige, welche Folgen die Gefängniserfahrung für die Selbstorganisation der Frauen hatte, und erläutere, was ihre Beteiligung an der Revolution für ihre zukünftige Stellung in der belarussischen Gesellschaft, für die Zukunft des Feminismus und ganz allgemein für unser Land bedeutet.

Das zweite Kapitel ist der belarussischen Gesellschaft als Triebkraft der fortdauernden Revolution gewidmet. Es geht um die sozialen und politischen Bedingungen, die dazu führten, dass die Bürger erwacht sind, um die zahlreichen dezentralen, horizontalen, kreativen, oft moderne technische Möglichkeiten nutzenden Formen der Mobilisierung und Solidarisierung. Darum, was die Gesellschaft in dieser ersten mehr als 200 Tage währenden, von vielen Tausenden Kundgebungen und Protesten geprägten Phase der Revolution erreicht hat und was nicht.

Im dritten Kapitel versuche ich, das Erwachen der belarussischen Gesellschaft im Sommer 2020 konzeptionell zu fassen und zu begründen, warum der Begriff revolution-in-progress seine Berechtigung hat. Schlüsselbegriffe sind die soziale Emanzipation und die politische Subjektivierung. Dabei muss auch geklärt werden, ob es angemessen ist, von einem nationalen Erwachen in Belarus zu sprechen.

Ich habe dreieinhalb Monate an diesem Buch geschrieben. Begonnen habe ich im November 2020, kurz nachdem ich nach Vilnius geflüchtet war, weil mir in Belarus wegen meines Engagements im Koordinierungsrat ein Strafprozess drohte. Einige Ereignisse, etwa der gewaltsame Tod von Roman Bondarenko, fanden statt, während ich an dem Buch arbeitete. Sie haben meine Gedanken geprägt. Die revolutionäre Energie, die ich beschreibe, die gemeinsame Freude wie die kollektive Trauer, war zugleich die Kraft, die mich beim Schreiben antrieb.

Die Gedanken, die in dieses Buch eingeflossen sind, habe ich während der Arbeit in zahlreichen Foren zur Diskussion gestellt, sie mit meinem Mitstreiter und Ehemann Alexander Adamjanz und meiner Freundin, der Mitgründerin der FemGruppe des Koordinierungsrats Julia Mizkewitsch, sowie mit meinen Berliner Freunden Jaroslava Ananka und Heinrich Kirschbaum, die sich unermüdlich an den Aktionen der belarussischen Diaspora beteiligen, erörtert. Ihnen allen sowie dem Übersetzer Volker Weichsel und meiner Lektorin Katharina Raabe, ohne die dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können, gebührt mein Dank.

Berlin, 30. März 2021

I
Die Entstehung eines weiblichen kollektiven Subjekts in Belarus

Das Ende der Unsichtbarkeit

Am 14. Juni 2020 wurde in Minsk eine Kunstsammlung beschlagnahmt. Es handelte sich um Werke jüdischer Maler, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Gebiet des heutigen Belarus nach Paris gezogen waren, unter ihnen Marc Chagall. Hintergrund war ein Strafverfahren gegen mehrere Mitarbeiter der Belgazprombank, der die Sammlung gehört – angeblich sollte ihr bevorstehender Verkauf ins Ausland verhindert werden.

Schnell wurde klar, dass das Verfahren vor allem auf Viktor Babariko zielte. Der 56-Jährige hatte die Bank seit über zwanzig Jahren geleitet und war erst kurz zuvor von seinem Vorstandsposten zurückgetreten, um bei den Präsidentschaftswahlen im August als Kandidat ins Rennen zu gehen. Seit 1995 im Bankwesen tätig, stand er von 2000 bis Mai 2020 der Belgazprombank vor, der belarussischen Tochter der russischen Gazprombank. Vielen Menschen in Belarus war sein Name schon lange ein Begriff, da er sich als Mäzen betätigte und soziale Projekte unterstützte. Im Jahr 2008 gründete er etwa das internationale Kinderhilfswerk Schans (Chance). Im Jahr 2018 finanzierte die Bank eine fünfbändige Ausgabe der Werke von Swetlana Aleksijewitsch in belarussischer Übersetzung, die in einer Auflage von 15 ‌000 Exemplaren erschien und kostenlos an Bibliotheken im ganzen Land verteilt wurde. Ein Jahr zuvor hatte die Bank auf Babarikos Initiative ein Original des »Kleinen Reisebuchs«, einer 1522 von Francysk Skaryna1 in Vilnius gedruckten Sammlung religiöser Texte, gekauft und nach Belarus gebracht.

Unter Babarikos Ägide hatte die Bank mit der Sammlung von Werken der sogenannten Pariser Schule begonnen, die erstmals 2012/2013 im Belarussischen Nationalmuseum ausgestellt wurden. Seit 2017 war sie in der Galerie »Art-Belarus« zu sehen, die die Belgazprombank nicht zuletzt zu diesem Zweck im Minsker »Palast der Kunst« eröffnet hatte. Die Sammlung machte den 1974 eröffneten Palast der Kunst im Zentrum von Minsk zum wichtigsten art space der Stadt. Hier mischte sich das traditionelle kunstinteressierte Publikum mit einer jungen, international ausgerichteten kreativen Szene. Dank der »Pariser Schule« wurde die Galerie »Art-Belarus« zu einer Visitenkarte von Minsk.

Auf die Beschlagnahmung der Sammlung folgte am 18. Juni die Verhaftung des Mäzens.

Ein Frauenbild macht Karriere

Ein Herzstück der Sammlung war Chaim Soutines »Eva«, ein weibliches Porträt aus dem Jahr 1928. Unter dem Hashtag #evalution verbreiteten sich am 15. Juni die ersten Text- und Bildbotschaften zu »Eva« in den sozialen Netzwerken und auf Kanälen wie Facebook und Telegram. Auch einige Männer waren an dem virtuellen Flashmob beteiligt: Der Leiter des Belarus Free Theatre in London, Nikolai Khalezin, zog »Eva« einen Gefängniskittel an. Der Künstler Sergey Shabohin platzierte »Eva« zwischen die Abgeordneten einer Parlamentssitzung, Nikita Monitsch, ein bekannter Museumsführer aus der Minsker Hipster-Szene, schrieb ein Gedicht über »Eva« – und war kurz darauf seine Arbeit im Nationalmuseum los.

Doch die meisten Mitglieder der über Nacht entstandenen Telegram-Gruppe »Gemeinsam mit Eva« waren Frauen: Nastja Grischanowa, die #evalution erfunden hatte; Anna Tschistoserdowa, Kuratorin und Mitbegründerin der »Ў«-Galerie, einer der wichtigsten Galerien für moderne Kunst in Belarus, die Künstlerin Nadja Sajapina und viele andere. Julia Shevchuk, Schauspielerin am Free Belarus Theatre, kreierte eine Version der »Eva«, die sich rasch verbreitete und bald auf vielen T-Shirts, Taschen und anderen Accessoires zu sehen war: eine Eva mit ausgestrecktem Mittelfinger.

Es war kein Zufall, dass »Eva« zum Gesicht der beschlagnahmten Kunstsammlung wurde und dass es Frauen waren, die sich zusammentaten. Soutines Werk zeigt kein Objekt, das ein fremder, männlicher Blick in Besitz nehmen soll, wie dies bei traditionellen Frauenbildnissen die Regel ist. Seine »Eva« schaut selbstbewusst aus dem Bild heraus, sie stellt uns mit ihrem herausfordernden Blick auf die Probe. »Und wer sind die Richter?«, scheint sie zu fragen.2 Die Arme vor der Brust gekreuzt, im strengen schwarzen Kleid, ist sie ganz sie selbst – ein weibliches Subjekt. Dieses Bild macht auch die jüdische Kultur als Teil des multikulturellen belarussischen Erbes bewusst. Und als hätten sie nur darauf gewartet, dass Soutines »Eva« die Bühne betritt, entschlossen sich immer mehr Frauen, es ihr gleichzutun und aus der eigenen Unsichtbarkeit herauszutreten.

Der spontane Zusammenschluss aktiver Frauen aus der belarussischen Kunstszene war möglich, weil sie bereits eine wichtige Rolle in diesem Milieu spielten. Das Wirken Viktor Babarikos, der die unabhängige Kunstszene gefördert hatte, darunter das internationale Theaterfestival TeART und den Kulturraum OK16, hatte es vielen Frauen erlaubt, ihre Stellung zu festigen und eigene Projekte zu verfolgen. Aus diesem Umfeld kam auch die Musikerin Maria Kolesnikowa, die in den kommenden Monaten zum Gesicht des Widerstands gegen Lukaschenko werden sollte.

Neue Formen der Selbstwahrnehmung

Um die Sichtbarkeit der Frauen, genauer gesagt, um die Bedingungen und Gründe ihrer Unsichtbarkeit geht es auch in Swetlana Alexijewitschs erster großer Dokumentarprosa Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, die erstmals 1985 in Minsk erschienen ist. Frauen, die den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatten, sollten nach Jahrzehnten endlich ihre eigene Stimme bekommen. Alexijewitsch wollte das ideologische und eindimensionale Bild vom »männlichen Krieg« überwinden. Sie wollte die Geschichten einfacher Menschen aufschreiben, »die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun«.3 Die Geschichte von Menschen, die versuchen, ihre Menschlichkeit zu bewahren, indem sie verletzte Feinde versorgen und ihren eigenen Frontkameraden mit Empathie und Zuneigung begegnen. Die trotz des grausamen Krieges um ein ordentliches Aussehen bemüht sind, sich im Griff haben, lachen und sich an Kleinigkeiten erfreuen können. Die Frauen, mit denen die Autorin lange Interviews führte, sprachen auch über das Leiden der Erde, der Vögel und der Bäume. Die unsägliche Gewalt nahm dem Krieg, selbst wenn in ihm der Faschismus besiegt wurde, jegliche Legitimität.

Siebzig Jahre nach Kriegsende begehrten nun die belarussischen Frauen gegen ihre Unsichtbarkeit auf. Sie entwickelten neue Formen der Selbstwahrnehmung, der Solidarität und des Protests, die inzwischen zum Leitbild für die gesamte belarussische Gesellschaft geworden sind.

Dass diese Solidarität sich nach der Beschlagnahmung einer Kunstsammlung formierte, verweist auf eine weitere Dimension der Protestbewegung – ihre Kreativität. Die Kuratoren der Galerie »Art-Belarus« hängten anstelle der beschlagnahmten Bilder QR-Codes in Rahmen. Wer sie mit dem Smartphone scannte, konnte das Bild auf dem Display sehen und seine Geschichte lesen. Am 1. Juli 2020 veranstaltete Nadja Sajapina in der Galerie eine Performance, um »die Unterdrückung durch das System gemeinsam zu erleben«4. Zwei Stunden lang standen Künstler:innen, Kurator:innen sowie andere Vertreter der Kunstszene, insgesamt mehr als zwanzig über die sozialen Netzwerke eingeladene Gäste, mehrheitlich Frauen, schwarz gekleidet zusammen und betrachteten aus nächster Nähe die abwesenden Bilder. Alle hatten auf ihrem Rücken ein Foto eines der beschlagnahmten Bilder befestigt. Die Performance wurde aufgezeichnet und ins Internet gestellt. Kreativ, spontan, geschickt im Umgang mit digitalen Technologien, modern und professionell, mutig und mit weiblichem Gesicht – das waren Eigenschaften, die bald zum Kennzeichen einer breiten gesellschaftlichen Bewegung in Belarus werden sollten.

Am 18. Juni, dem Tag der Verhaftung Babarikos und dem vorletzten Tag, an dem Unterschriften für die Zulassung eines Kandidaten zu den Präsidentschaftswahlen gesammelt werden durften, ging die #evalution in Minsk auf die Straße. Mehrere Tausend Menschen bildeten in der Allee der Unabhängigkeit eine Kette der Solidarität. Unter ihnen trugen einige die »Eva«-T-Shirts. Obwohl es in Strömen regnete, standen sie dort bis tief in die Nacht. Die Aktion wurde in den folgenden Tagen fortgesetzt – nicht nur in Minsk, sondern in achtzehn weiteren Städten des Landes zwischen Grodno und Brest im Westen und Witbesk und Mogiljow im Osten. 360 Menschen, davon 260 in Minsk, wurden teils auf brutale Weise festgenommen und viele von ihnen zu einer Arreststrafe oder zur Zahlung eines Bußgelds verurteilt.5

Evolution oder Revolution

Die Menschenketten, die sich in vielen Städten des Landes bildeten, waren ein erstes Anzeichen für das Erwachen der belarussischen Gesellschaft. Die Verhaftungen zeigten, wie nervös das Regime war. 26 Jahre lang hatte der Alleinherrscher Lukaschenko alles getan, um das Entstehen einer politischen Opposition zu verhindern. Er hatte Menschen ermorden lassen, Gegner ins Gefängnis geworfen und mit Hilfe eines Referendums im Jahr 2004 alle gesetzlichen Schranken beseitigt, die seiner immer neuen Wiederwahl zuvor im Wege gestanden hatten. Zugleich hatte er eine »Machtvertikale« errichtet, ein zentralisiertes, hierarchisches Herrschaftssystem, das alle staatlichen Organe und gesellschaftlichen Institutionen durchdrang. Eine Schlüsselfunktion in dieser Machtvertikale kam den Gewaltapparaten zu: der Polizei, dem OMON und anderen Sondereinheiten des Innenministeriums; dazu dem Geheimdienst KBG sowie der Armee.6 Gleichzeitig handelte es sich um ein autoritäres, nicht aber um ein totalitäres System. Es ließ gewisse Spielräume für die Entwicklung einer unabhängigen Kultur, gesellschaftlicher Organisationen sowie eines Kleinunternehmertums. Mit diesen Sphären hatte das Regime einen informellen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen: Ihr mischt euch nicht in die Politik ein, dafür lassen wir euch am Leben und erlauben euch sogar eine gewisse Entwicklung.

Die Widersprüche, die diesem Ansatz innewohnten, waren in den 2010er Jahren immer spürbarer geworden. Im Sommer 2020 brachen sie auf.

Zuvor war in der unabhängigen Kulturszene und der belarussischen Zivilgesellschaft bereits seit mehreren Jahren von einem evolutionären Übergang von der Autokratie zur Demokratie die Rede gewesen. Seit etwa 2015 hatte sich ein dynamischer IT-Sektor entwickelt, und eine neue Generation von NGOs engagierte sich im sozialen Bereich, im Bildungssektor und in der Kultur. Die »Oktoberstraße« in Minsk war zu einer regelrechten Kulturmeile geworden – mit privaten Kunstgalerien, Veranstaltungsräumen und kleinen Theaterbühnen. IT-Firmen und NGOs hatten Coworking Spaces geschaffen, das European College of Liberal Arts (ECLAB) hatte dort seinen Sitz, und zahlreiche Cafés und Restaurants empfingen ein mehr oder weniger zahlungskräftiges Publikum. In der »Oktoberstraße« fanden Kunst- und Literaturfestivals statt, Veranstaltungen zu Themen wie Stadtraum und Ökologie, bei denen einheimische und nach Belarus eingeladene Intellektuelle auftraten. Belarussische und brasilianische Künstler hatten große Wandbilder geschaffen. Aus einer abseits der üblichen Wege gelegenen Straße war das heimliche Zentrum von Minsk geworden.7

Ähnliche Entwicklungen waren auch in anderen Städten des Landes zu beobachten. Auch in Brest, Grodno, Witebsk und Mogiljew hatte sich ein IT-Sektor etabliert, es waren öffentliche Räume entstanden, die für politische Diskussionen, Vorträge, Bildungsprogramme, Kunstprojekte, Umweltfestivals und Kinderveranstaltungen genutzt wurden.

Viele Frauen hatten sich aktiv an diesen Veränderungen beteiligt. Die Verhaftung der »Eva« war ein Warnzeichen, dass das Regime all dem ein Ende setzen könnte.