Vorüber war der große Sturm gezogen,
Der Himmel leuchtete in roter Glut;
Gen Westen all die schwarzen Wolken flogen,
Und jedes Dasein faßte neuen Mut.
Nicht hat die Windsbraut mehr den Wald gebogen,
Nicht rauschte mehr des Regens wilde Flut; –
Der Schönheit Sieg! Vor trat sie aus dem Dunkeln,
Ein Duft und Klang – ein Leuchten und ein Funkeln!Tief, tief im Wald lehnt’ ich am moos’gen Baume
Und sah, wie Abendsonn’ und holder Schatten
Sich neckten lieblich auf demselben Raume,
Sah, wie die Tropfen glänzten auf den Matten! –
Und als der Wald erwacht aus wildem Traume,
Und alle Dinge Ruh gefunden hatten,
Da fühlt’ ich mit dem Wald mein Herz erhoben
Aus tiefster Schwermut, die es bang umwoben!Vom Vaterland hab’ ich den Tag geträumet,
Eh’ kam der Sturm, und als der Sturm gekommen; –
Und was gethan ward, und was ward versäumet,
Was von den Tapfern, Treuen, Edlen, Frommen
Den Feigen, Falschen, Schlechten eingeräumet,
Das hat mir ganz die Seele eingenommen!
Versunken war ich ganz in Schmerz und Grimme,
Bis in dem Donner weckt’ mich eine Stimme.Ja, eine Stimme war im großen Wetter,
Und durch den Sturm vernahm ich diese Worte:
»Zur rechten Zeit wird kommen doch der Retter!
Zur rechten Zeit, und an dem rechten Orte!
Im Buch des Schicksals wenden sich die Blätter;
Verzweifelt nicht an euch und euerm Horte!
Die Rüstung nehmt! – es wird ein blutig Tagen,
Bald wird die Schlacht, die große Schlacht geschlagen!«Auf wilden Aufruhr, welch ein holdes Schweigen!
Der Tropfen fällt, im Dunkel rauscht der Bronne, –
Vorbei, vorbei! Jetzt will der Tag sich neigen,
Auf steigt der Mond, und nieder sinkt die Sonne.
Wie klingt es süß melodisch in den Zweigen,
Wie schlägt das Herz, halb ängstlich, halb in Wonne!
Die Nachtigall, die hat ihr Lied begonnen,
Ein neues Märchen hab’ ich mir gewonnen!Wolfenbüttel, 1859.
Sachsenhagen, am 1. Mai
So bin ich denn glücklich hier angelangt, teurer Freund, und wenn die Götter es wollen, so mag von nun an mein Leben sanft und leise dahin fließen, und halkyonische Bläue über meinen Tagen leuchten. Ich bin mit meiner häuslichen Einrichtung beinahe vollständig fertig, und es ist damit bei weitem besser ergangen, als ich mir vorstellte. Die Bücherkiste ist ausgepackt, und der ziemlich moderduftige Inhalt derselben in Reih und Glied aufmarschiert; ich weiß, auf welche Art das Thürschloß am besten sich schließen, und durch welchen Handgriff die Fenster am leichtesten sich öffnen lassen. Meine Pfeifen, meine Büchse und Hirschfänger haben ihre Plätze erhalten; – kurz alles ist in der besten Ordnung, und ich fühle mich sehr behaglich.
Es ist Mittwoch, und ein prachtvoller Frühlingsnachmittag; die Schule liegt so still da, wie ein ausgeflogenes Vogelnest, und der alte Famulus in Hemdsärmeln guckt aus dem Fenster neben der Eingangsthür und lüftet grüßend die weiße Zipfelmütze, als er seinen jüngsten Kollaborator gegenüber erblickt.
Doch ich muß Dir, mein Sever, schildern, was ich von meinem Fenster aus erblicke. Ein hübsches Bild! Auf einen ziemlich viereckigen schattigen Platz schaue ich hinunter, den Schulplatz, welcher nicht immer so einsam ist, wie zu dieser Stunde, sondern oft sehr lebendig, wimmelnd von den jugendlichen Scharen, welche das langgestreckte niedrige Steingebäude drüben anzieht und ausschickt. Dieses langgestreckte niedrige Gebäude, um dessen Thore und Nebenpförtchen sich üppiger Epheu windet, ist das Gymnasium. Gerade aus über den Platz schreit’ ich darauf los. Zur Rechten – von meinem Fenster aus gesehen – ist die Aussicht begrenzt durch die Kirche des Städtchens; – die Jugend hat ein gottgefälliges Talent, Gräber nieder zu treten: der Schulplatz ist ein alter Kirchhof. Nur einige steinerne Monumente, hie und da unter den Kastanien und Linden zerstreut, zeugen noch von der früheren Bestimmung dieses Ortes.
Zur Linken meiner Wohnung befindet sich das Spritzenhaus der Stadt, und über dichte Bäume schauen die Giebelspitzen einiger Bürgerhäuser, aus deren Schornsteinen gewöhnlich ein nahrhafter Rauch emporsteigt; Sachsenhagen ist eine wohlbehäbige Stadt, deren Einwohner und Einwohnerinnen sich nichts am Leibe abgehen lassen.
Ach Sever, wie wohl ist mir zu Mute!
Schmetterlinge flattern um die eben sich öffnenden Kastanienblüten; Sperlingsvolk zwitschert lustig dazwischen; Schwalben schießen blitzschnell umher und gleichen Ankömmlingen in einer großen Stadt, die nach den aushängenden Mietzetteln an den Häusern sehen und zweifelhaft sind, wo sie ihr Unterkommen suchen sollen, und welche eine tiefe Sehnsucht haben nach freundlichen Gesichtern und herzlichem Entgegenkommen. Ich hoffe von ganzer Seele, es soll ein Pärlein unter dem Dachrande über meinem Fenster seine kleine Wohnung bauen, und ein günstig Zeichen meinem Leben allhier sein! Auf dem Giebel des Schulhauses klappert bereits ein hoch-und rotbeiniger Storch und die »weiße heilige« Taube umflattert das Kirchendach. – Sever, Du hast oft gespottet über meine Zaghaftigkeit in allerlei Lebensverhältnissen, meine jungfräuliche Schüchternheit, wie Du es zu nennen beliebtest. Hand aufs Herz, Sever, ich hatte angst, als ich mich auf meinen Hierhermarsch durch die Berge wand, ich hatte angst vor meiner Ankunft in dieser Stadt, vor meiner Ankunft in einem Dasein, welchem ich so sehr entfremdet worden war. Wie manche Stunde habe ich, in einer Schenke am Wege oder an einem Bache sitzend, damit zugebracht, mir alles von neuem und aber von neuem zurecht zu legen! Wie gern hätte ich meinen Pfad um acht Tage, um vierzehn Tage auseinandergezogen; aber – aber – die Osterferien nahten sich ihrem Ende, die Schule sollte wieder beginnen; ein Ende mußte dem Zweifel, dem Bangen gemacht werden: so nahm ich mich denn zusammen und rückte so mutig als möglich ein in das unbekannte Wald-und Bergstädtchen Sachsenhagen, Gewehr – nämlich Ziegenhainer – im Arm, wie wir mit angezogener Büchse einmarschierten in Paris, Sever.
Ein freiwilliger Jäger und ein lateinischer Kollaborator in Sachsenhagen – welch ein Unterschied! Aber den Schnurrbart hatte ich mir schon längst abgeschnitten, der Staub und Schweiß des Feldlagers war längst abgespült und für die sonnverbrannte Haut war das Sitzen vor dem Examen ein vortreffliches Heil-und Schönheitsmittel gewesen. Die Narbe auf der Stirn schmerzt nur noch von Zeit zu Zeit, wenn’s regnen will: ich war vollständig befähigt, ins Philistertum einzurücken. Und so that ich! –
Viel, viel besser, als ich mir vorstellte, ist’s ergangen. Ei, ich kenne mein Städtel und die Menschen drin schon recht gut; ‘s ist damit lange nicht so schlimm als es sich aus der Ferne ansieht, und meine Frau Rektorin hat mich noch dazu recht mütterlich unter ihre Flügel genommen, so daß es mir gar nicht fehlen kann. Eine schöne, alte, sanfte, stille Frau mit silbergrauem Haar ist meine Frau Rektorin, und bald hat sie alles, was von mir zu erzählen war, ausgefragt. Als sie erfuhr, daß ich nicht Vater und Mutter mehr habe und ganz allein in der Welt sein würde, wenn ich nicht einen grimmen Freund, Sever genannt, welcher bei Laon das eiserne Kreuz gewonnen habe, besäße; da hat sie mich noch freundlicher angeblickt und den Kopf geschüttelt und gesagt: ich möge recht oft zu ihnen kommen, Kaffee bei ihnen zu trinken und mit dem Rektor griechisch zu sprechen. Das will ich auch thun! –
Der Rektor wohnt in dem Schulhause selbst; die anderen Kollegen aber sind durch die ganze Stadt zerstreut; aber die Stadt ist nicht groß, lange nicht so groß wie Königsberg, Breslau, Berlin und Paris. Ich fand sehr bald meine jetzige Wohnung, deren Lage ich Dir schon beschrieben habe.
Nun ist es Frühling und doch mal’ ich mir schon den Winter vor, wo der Schnee fällt und schon hoch liegt, wo die Krähen um die Kirche und das alte Schulhaus fliegen, und ich in dem langen schwarzen Rock – eine etwas größere Krähe – quer über den Platz durch das Gestöber nach der Pforte des Gymnasiums hinsteuere. So bin ich beschaffen; doch das weißt Du ja fast besser als ich selbst, Sever, und erklärst mich darob manchmal für ein »dichterisch Gemüt«, häufiger aber für einen – Narren. –
Nun habe ich Dir noch von meiner feierlichen Einsetzung in Amt und Würden an hiesiger hoher Schule zu berichten. Sie verlief sehr schön und erhebend. Zum erstenmale trug ich wieder einen Frack mit herrlichen langen spitzen Schwänzen, eine weiße Weste und einen hohen steifen Halskragen, dessen linke Spitze mir um ein Haar das linke Auge ausgestoßen hätte. Ich fühlte mich höchst ungemütlich in dieser Pracht, aber zu einem festlichen Ereignis gehören auch festliche Gewänder wie das ziemlich unlogische Gleichnis vom Könige, »der seinem Sohn Hochzeit machte«, im Evangelisten Matthäus, darthut. Alle Lehrer und Schüler waren in dem großen Saale versammelt. Ein passender Gesang wurde gesungen, und dann hielt der alte Rektor eine lange schöne Rede, in welcher er davon sprach, wie süß es sei für das Vaterland zu sterben und wie vortrefflich, daß der neue Kollega Wolkenjäger nicht gestorben, sondern aus allen Schlachten und sonstigen Gefahren glücklich heimgekehrt und Kollaborator geworden sei zu Sachsenhagen. Nach einer guten Stunde kam der Alte ganz gerührt zu Ende, und nun kam an mich die Reihe, und mit thränenden Augen bedankte ich mich für all das Gute und Liebe, was über mich und für mich da soeben gesagt war. Zuletzt gaben mir alle Kollegen die Hand, und die ersten aller Klassen gleichfalls. Wieder wurde ein Vers aus dem Gesangbuch gesungen und die Feierlichkeit war vorbei. Ein jeder Lehrer zog mit seinem Häuflein ab in sein Schulzimmer; ich der Quintus mit der Quinta in das meinige.
Hier angekommen hielt ich noch einmal eine Rede an meine Bübchen und stieg dabei ein wenig von dem Kothurn herab. Von allen ließ ich mir die Hand geben und versprechen, daß sie brav sein und gut thun wollten; in manch ein fröhliches, helles Augenpaar blickte ich dabei. Darauf fingen wir an, den Cornelius Nepos zu traktieren, und ich begann meine hiesige Schulthätigkeit mit der Exponierung des Datames, welchem ich den anderen großen Barbaren, den Hannibal des Hamilkars Sohn, den Karthaginienser, nachfolgen lassen will, da nach meinem Erachten vor diesen beiden Männern die anderen Helden des berühmten Schulbüchleins gewaltig zusammenschrumpfen.
Am ersten Sonntag, welchen ich hier zubrachte, befahl mir die Frau Rektorin, Visiten zu machen und seufzend mußte ich mich drein schicken. Aber auch dieses ist glücklich vorübergegangen ohne allzuviel Verstöße gegen die Regeln des Anstandes und der feinen Welt, aber gewiß nicht ohne viel geheimes Lächeln der Herren und Damen, welche ich »die Ehre hatte aufzusuchen«, der Reihe nach, wie sie auf dem Zettel standen, den mir die Frau Rektorin gegeben hatte.
Nun noch einen Blick ins Weite!
Die Gegend um das Städtchen ist wunderschön, und wie gemacht, um nach solch einem großen Kriege träumend auszuruhen. Eichenwälder und Tannenwälder wechseln miteinander ab und drängen sich an einigen Stellen bis dicht an die uralten Stadtmauern. Die Berge haben prächtige Formen und auf dem einen, nahe dem Burgthor der Stadt, liegen die Trümmer eines alten Raubnestes, aus dessen Steinen nun viele Dörfer und Vorwerke in den Thälern aufgerichtet sind – welches mir sehr wohlgefällt. Das Volk ist derb, starkknochig, arbeitsam, genügsam, gutmütig, blauäugig und blondlockig, doch gar nicht hübsch. Die jungen Leute sind meistens alle draußen gewesen und haben den Kehraus in Deutschland und den Sturm durch Frankreich mitgemacht. Soeben erklingt vor meinem Fenster das Lied:
Laut rief das Horn zum Scheiden,
Wir mußten’s eben leiden,
Zu End’ war unser Glück;
Schon ritten die Genossen
Und schauten von den Rossen
Nach ihr und mir zurück.Herz that an Herzen klopfen,
Es fiel ein heißer Tropfen
Herab auf meine Hand.
Das Schwert erklang zur Seiten;
O Lieb, nun muß ich reiten,
Es gilt fürs Vaterland!Sie faßte mich nur enger,
Sie klagete nur bänger:
Du reitest in den Tod!
Du reitest ins Verderben,
Und mit Dir muß ich sterben –
O Vaterlandes Not!Der Rappe zog am Zügel,
Der Fuß stand in dem Bügel,
Ade, Du süße Braut!
Fort, fort in wildem Jagen
Thät drauf mein Roß mich tragen;
Hab’ mich nicht umgeschaut!
Daß das Lied erklingt, ist ein Zeichen, daß die Dämmerung kommt und Feierabend ist. Ich muß schließen! – – Es giebt noch viel schwarzgekleidete bleiche Mütter und Braute, viel trauernde Väter in der Stadt und in den Dörfern, doch auch viel, viel fröhliche spielende Kinder und selige Brautpaare. Die Sonne scheint, die Felder grünen und versprechen hundertfältige, köstliche Frucht – Gott segne ewig das Vaterland! Lebe wohl, lebe wohl, Sever!
Dein
Fritz Wolkenjäger.
Sachsenhagen, am 15. Mai 1816.
Ich habe mich nun vollständig hier eingebürgert, Sever, und weiß in Stadt und Umgegend Bescheid wie der älteste Eingeborene. Manch stilles, verschwiegenes Plätzchen im Grün kenne ich, wo ich mich im Grase ausstrecken kann, die Odyssee zu lesen oder die Gedichte unseres Freundes Ernst Schulze, der, wie er mir schreibt, jetzt daran denkt, in Italien seine wunde Brust zu heilen, und der, ein anderer Ariost, neue Gesänge in sich bewegt. Der arme Freund mit dem kranken Herzen, mit dem weichen und doch so stolzen und starken Herzen!
Um Cäciliens Grab erklingt nun das Lied Cäcilia und das Flüstern der Geisterstimme jener, die:
– still als noch die Schand’ uns drückte
Ein deutsches Herz im freien Busen trug,
Die stolz hinab auf fremden Schimmer blickte,
Mit strengem Spott den Sklaven niederschlug,
Die fromm und zart die rauhe Welt uns schmückte,
Ein segnend Licht in finst’rer Zeiten Fluch,
Die Gott schon früh zu seinem Thron erhoben,
Um herrlicher sein schönstes Werk zu loben.
Armer Ernst! – Wie er mir meldet, dichtet er jetzt an einem Gedicht: Die bezauberte Rose. Im nächsten Frühling will er nach Rom; ach, wenn nur seine Seele nicht längst begraben läge auf dem Kirchhofe zu Göttingen!
Fort mit den Todesgedanken. Wir haben doch eine stolze Zeit durchlebt. Nun ist es wohl schön in einem heimlichen, lauschigen Winkel zu sitzen im Monat Mai, und unter Vögelsang und Quellgemurmel der Genossen der heißen Arbeit für das Vaterland, in Wonne und Wehmut zu gedenken.
O Theodor Körner! o wackerer Friesen! o alle ihr Schläfer unter dem grünen Rasen, alle ihr Lebendigen mit den stolzen Narben und den frischschlagenden Herzen, seid gegrüßt, gegrüßt!
Keinen Becher wollen wir leeren, ohne der Genossen zu gedenken:
Ad manes fratrum!
Keinen Becher wollen wir leeren, ohne dem Gewaltigen droben zu opfern:
Jovi liberatori!
Aber wem sage ich das? Dir Sever? Dem Mann mit der Römerstirn, dem Mann mit dem Römerauge?
Ach, was für ungereimtes Zeug schwatzt das Schulmeisterlein hinter den Bergen. Möge es schnell wieder herabsteigen in das Leben, welches es führt zu Sachsenhagen im Sachsenlande, dem echten Sachsenlande, nicht der Provinz der guten Meißner und Leipziger. –
Am vorigen Sonntage war ich in der Kirche. Ich trete in protestantischem Lande nicht gern an Werkeltagen in solch ein heiliges Gebäude. Da ist erst der mürrische Küster oder Kantor aufzusuchen. Mit Mühe findet man ihn, und mit Verdruß kommt er mit seinem rasselnden Schlüsselbunde und öffnet das Kirchenthor. Ein dumpfigeisiger Hauch weht dann einem aus den Hallen entgegen, um so unbehaglicher und kältender, je wärmer und sonniger es draußen ist. Was hat das Luthertum am Wochentage in seinen Kirchen zu suchen? – Die weißen Wände und Pfeiler, die Grabsteine, die leeren Kirchstühle, die Predigerbilder, der Altar, alles blickt einen so kalt, so fremd an, und es ist ein wahrer Trost, wenn eine Schwalbe durch eine zerbrochene Fensterscheibe einen Eingang gefunden hat und lustig unter den Wölbungen hinflattert. Mit Schaudern und Ergrimmen folgt man der Jagd, welche der Herr Kantor nun vermittelst einer langen Stange unternimmt. Ist es nicht, als würde mit dem ängstlich hin-und herschießenden Vögelein der letzte Hauch des Lebens aus dem Hause des lebendigen Gottes vertrieben? Die Merkwürdigkeiten sind nur Merkwürdigkeiten, und bleiben in jeder Kirche stets dieselben: die pausbäckigen Engel, die an der schweigenden Orgel mit platzenden Backen in ewig stumme Posaunen blasen, – die eiserne Sturmhaube aus dem dreißigjährigen Kriege, – der rechte Panzerhandschuh, zu welchem der linke fehlt, – das Grabmal des alten Ritters ohne Nase, im Chor, – der Pfeiler, an welchem angemerkt ist, wie hoch in dem und dem Jahre bei der großen Überschwemmung das Wasser in der Kirche stieg, – und das uralte Madonnenbild, welches den Bilderstürmern entging, und so weiter; – ich will die Reihe nicht fortsetzen. An einem solchen Werktag macht man, daß man fortkommt aus einem lutherischen Gotteshause und ist noch an der Thür in Verlegenheit über die Frage, ob man wohl dem Herrn Kantor durch das Anbieten eines Trinkgeldes beleidigen würde! –
Anders ist das an Sonntagen und Festtagen, wo man nicht allein in die Kirche geht, sondern in Gesellschaft von stattlichen Greisen, ehrbaren Männern und Frauen, hübschen Mädchen und artigen geputzten Kindern. An einem solchen Tage erscheint einem der Herr Kantor nicht mehr als ein grämlicher Schutzgeist des heiligen Ortes, sondern als ein guter, alter, weißhaariger Mann, welcher seine Freude hat an der Menge, die kommt; welcher die Orgel spielt so gut er kann, und dessen Stolz der Chorgesang der Knaben, neben seinem Sitze ist. Hat er nicht alle diese jugendlichen Stimmen herangebildet? ist nicht das vortreffliche Getön, welches das heilige Haus füllt, sein eigenstes Werk?
Nun haben Wände und Pfeiler ein feierlicheres Ansehen: auf dem geschmückten Altar unter dem gekreuzigten Christus brennen in den hohen glänzenden Messingleuchtern die beiden Wachslichter, frische Blumensträuße prangen in den zwei blauen Glasvasen daneben. Die Schwalben und Sperlinge bleiben unbelästigt, und alle Kinderaugen in der Gemeinde folgen den fliegenden Vögeln, bis ein leiser, mahnender Rippenstoß der Väter und Mütter die junge Aufmerksamkeit wieder auf den Herrn Pastor auf der Kanzel lenkt. Nun kommt der Mann mit dem Klingelbeutel; wer seinen Pfennig vergessen hat – ach es giebt viele solcher vergeßlichen Leutchen – nickt gravitätisch mit dem Kopfe; wer seinen Pfennig nicht vergessen hat, hört ihn mit Vergnügen zu den anderen Kupfermünzen in den schwarzsammetnen Sack mit der Schelle hinunter tanzen und klingeln. Dazwischen geht die Predigt fort, gut oder schlecht, eifrig oder milde, munter oder schläfrig. Ein jeglicher in der Gemeinde hat seine eigenen Gedanken dabei, notabene wenn er nicht sanft schlummert; und ein jeglicher nimmt sich von jedem Vorwurf, welcher der Menschheit zugeschleudert wird, aus, und zieht sich ein jedes Lob fröhlich und wohlgemut zu Gemüte, und der liebe Gott weiß ja, daß das nun einmal nicht anders ist, und er giebt sich schon zufrieden, wenn es sein thöricht Menschenvölklein nur nicht gar zu arg macht, wenn es ihn nur »einen guten Mann sein« läßt. Gut Ding will Weile haben, denkt der Alte und lächelt und lenket Sonnen und Sternenmeere, ein Schulhaus neben dem anderen. Der große Magister weiß sehr gut, daß sein Völklein erst mit saurem Weh mensa der Tisch deklinieren lernen muß, ehe es zum großen Verbum amare kommt. Die grasgrüne Ewigkeit durch wird man zu studieren haben, ehe man dieses Zeitwort kennt in allen seinen Formen und Abwandlungen, ehe man alles das begriffen hat, was »es regiert«.
Da hast Du wieder den närrischen Fritz, mein Sever. Was hilft alles Kopfschütteln, der Bursch ändert sich nicht, denn er hat’s von seiner Mutter, und was man von der Mutter hat, das sitzt fest und läßt sich nicht ausradieren – hilft auch dagegen kein Scheidewasser Hegelscher Philosophie und kein:
»Vieler Menschen Städte sah er und Sitte erlernt’ er.«
Was man von der Mutter hat, das behält man, und es ist auch gut so, denn jeder Keim sittlicher Fortentwickelung des Menschengeschlechts liegt darin verborgen.
Ich habe mich oft gefragt, Sever, was Du wohl von Deiner Mutter habest, und ich habe es auch herausgekriegt, und will Dir jetzt erzählen, wie und wo, da ich nun einmal abgekommen bin von meinem Kirchgang am vorigen Sonntag.
Es war einmal eine dunkle stürmische Nacht – ich will Dir auch das Datum nennen, es war in der Nacht vom zweiten auf den dritten März 1814. Wir lagen in unsere Mäntel gehüllt auf der nackten Erde und die Lagerfeuer der Feinde leuchteten kaum einen Büchsenschuß von uns entfernt. Von Zeit zu Zeit rieselte ein gelinder Regenschauer herab, und wir hatten die größte Mühe, unsere Waffen schußfertig zu erhalten. Der kommende Tag ist der Jahrestag eines großen Schmerzes für Dich. An dem 3. März 1810 erschossen die Unterdrücker Deinen – unseren Bruder, den Schillschen Reiter; nicht auf dem Schlachtfelde, – auf dem Hochgericht unter dem Galgen ermordeten sie ihn. Du warest – finster und wortkarg den ganzen vorigen Tag über gewesen, Sever, und hattest auch die Nacht durch kaum ein Wort gesprochen; sondern nur Deinen Bart zerkaut, ein Zeichen wilder Gedanken bei Dir. Es dämmerte leise im Osten und Du saßest und blicktest dem kommenden Licht entgegen. Auf einmal hobest Du Dich leise auf die Knie und murmeltest: So mag wiederum eine fränkische Mutter diesen Tag verfluchen! und dann warst Du in dem Hohlweg, uns zur linken Seite, verschwunden. Wir lauschten allesamt auf das angestrengteste, bereit, beim geringsten verdächtigen Geräusch aufzuspringen und Dir nachzueilen. Aber wir vernahmen nichts und nach einer halben Stunde kehrtest Du zurück und ließest Dich schweigend wieder nieder neben uns. Die Genossen lächelten ein wenig, doch Du achtetest nicht darauf. Als Du wieder an meiner Seite Dich ausstrecktest, sagtest Du vor Dich hin: Nein, es sollte nicht sein. Weiß der Teufel, wie zwanzig Schritt von einem Kleeblatt französischer Voltigeure einen das Picken einer Wanduhr an einem guten Werke hindern kann.
Das Picken einer Wanduhr? fragte ich.
Jawohl, jawohl! Sie lagen ganz ruhig um ihre glimmenden Kohlen, und zwanzig Schritte davon über ihnen im Gebüsch saß ich – bei Gott! ihr Leben war in meiner Hand. Ich brauchte nur hineinzugreifen wie in ein Vogelnest mit unflüggen Jungen. Schon lag die Büchse an der Wange und der Hirschfänger gezogen neben mir. Ein Fingerdruck, zwei Sprünge und zwei Stöße, die Sache war gethan. Aber in demselben Augenblick schlug die Uhr im entfernten Dorfe Vier, und mit ihr schnurrte unsere alte Wanduhr hinter dem Ofen daheim ab und deutlich vernahm ich ihren so wohlbekannten Schlag, und dann sagte meine Mutter dicht neben mir: O Sever, o wüßtest Du doch, wie eine Mutter weint! – Es waren drei blutjunge Knaben neben den glimmenden Kohlen und einer der unvorsichtigen Tölpel warf sich unruhig im Schlaf herum und rief angstvoll: Ma mère, ma mère, sauvez-moi! – Auf dem Bauche kroch ich wieder ab und liege nun hier wie ein großer Narr; – der tote Robert möge es mir vergeben!«
So sprachest Du, Sever; am nächsten Morgen aber schossest Du einen Gardekürassier vom Gaul und stießest einem Artilleristen über seiner Kanone den Hirschfänger in die Brust.
Vale!
Fritz.
Sachsenhagen, am 5. Juni 1816.
Dein Brief hat mich recht betrübt und erschreckt, Sever. Wie finster siehst Du doch in unsere deutsche Zukunft! Alle unsere Ideale wären nur vermummte Hexen, welche bald ihre glänzenden Gewänder abwerfen und in nackter Häßlichkeit uns anhöhnen würden ob unserer Leichtgläubigkeit?