Über das Buch

Eine Beerdigung für Hunde? Eine Trauerfeier in einem Stripclub? Alles kein Problem für Tess Fowler. Denn während sie gerade um ihre große Liebe trauert, ist ihr jede Abwechslung recht. Und irgendwie passt das ja auch zu Tess’ verrückter Art, die Welt zu betrachten.

»Ich dachte an den einen Abend zurück, den ich mit Jonah verbracht hatte. Auf der Party. Es war nicht besonders spektakulär oder romantisch gewesen. Und auch wenn sich der Rest als große Lüge herausgestellt hatte, so hatte ich doch immer noch die Erinnerung an diese Nacht. Dieser Moment war echt gewesen, und er gehörte mir. Für immer.«

Peter Bognanni

Mein Leben
oder
ein Haufen unvollkommener Momente

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

Carl Hanser Verlag

Für Kathy Bognanni

1

An dem Morgen, nachdem ich die Schule geschmissen hatte, wachte ich noch vor Sonnenaufgang im leeren Haus meines Vaters auf und dachte über den langsamen Tod des Universums nach. Das Gästezimmer roch nach Old Spice und schwermütigen Männern in der Midlife-Crisis, und ich habe den Verdacht, dass das einer der Gründe für meine Grübeleien über die vollständige Auslöschung des Kosmos war. Ein anderer Grund, dem ich die Schuld daran gebe: Physik – das Unterrichtsfach, nicht die Naturwissenschaft. Physik war eines der letzten Fächer, für die ich zu lernen versucht hatte, bevor ich den Entschluss fasste, aus dem Internat zu verschwinden, und in einer wagemutigen Flucht fünf Stunden lang durch die Ackerlandschaft Iowas raste.

Ich fuhr den ganzen Weg ohne Pause durch und hörte dabei zu, wie sich ein christlicher Radiosender mit Rockmusik mischte, was ungefähr so klang: »Unser Gott ist ein großartiger Gotttttt« und »Ooooh dieser Gestank. Riecht ihr diesen Gestank? Ihr seid umgeben vom Gestank des Todes!« Ich konnte bloß Dünger riechen. Und während die brachliegenden Felder und wirbelnden Rotoren der Windräder an meinem Fenster vorbeizogen, versuchte ich, nicht zu viel darüber nachzudenken, wie es so weit hatte kommen können. Und ich bemühte mich noch mehr, nicht an diesen einen Menschen zu denken, der etwas so Unbegreifliches getan hatte. Den ich so sehr geliebt hatte und den es in meinem Leben nicht länger gab.

Aber zurück zum Universum.

Die Wissenschaft scheint sich nicht wirklich darüber einig zu sein, wie alles enden wird, und das bereitete mir in diesen Stunden vor Tagesanbruch ziemlich Sorgen. Wenn das Allerschlimmste irgendwann eintreten sollte – und das ist ja immer der Fall –, würde ich gern ein paar Einzelheiten wissen. Aber die gängigen Theorien sind zu verschieden, um eine große Hilfe zu sein.

Manche Leute meinen, der Big Bang wird einfach umgekehrt noch mal stattfinden. So wie: BANG – aus allem wird plötzlich nichts! Und jetzt viel Spaß damit, ihr Trottel! Andere Leuten glauben, der Weltraum wird einfach irgendwann dunkel und kalt und die Sterne erlöschen wie auf einem interstellaren Geburtstagskuchen. Und wieder andere meinen, die Zeit selbst wird irgendwann an ihr Ende kommen, wie die Uhr eines alten Mannes, die man vergessen hat aufzuziehen.

Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich vermutlich die letzte Möglichkeit wählen. Nicht weil sie besonders lustig klingt. Aber ich glaube, dass ich ganz gut damit klarkäme, wenn alles irgendwie erstarrt, so wie die letzte Einstellung in einem Film aus den Achtzigern – vorausgesetzt, ich dürfte mir den richtigen Moment aussuchen.

Zum Beispiel könnte ich von einem Felsen springen und im Flug wie ein majestätischer Pegasus verharren. Oder ich könnte mitten in einem Schluckauf für immer in einer völlig abgedrehten, peinlichen Grimasse erstarren. Oder vielleicht könnte ich auch einfach sämtliche Leute um mich versammeln, die ich in den letzten Monaten enttäuscht habe, und mich bei allen aufrichtig entschuldigen, bevor alles stillsteht. Ich könnte es durch ein Megafon rufen: ICH BIN TESS FOWLER, UND ICH HABE SCHLIMME FEHLER BEGANGEN! DAS TUT MIR SEHR LEID! UND JETZT VIEL SPASS IM NICHTS!

Und mit ein bisschen Überredung würde ich mich vielleicht auch für einen ewigen Orgasmus entscheiden.

Ein Long Bang sozusagen.

Entscheidend ist: Ich will es selbst in der Hand haben. Ich will wissen, wann es passiert, und ich will mir meine letzte Tat selbst aussuchen können, wenn es so weit ist. Denn in letzter Zeit hatte ich ziemlich oft das Gefühl, keine Kontrolle mehr über mein Leben zu haben.

Wie sich herausstellte, hilft es da nur wenig, die Schule hinzuschmeißen. Allerdings ist es auffallend einfach. Alles, was du tun musst, ist, eines Morgens aufzuwachen und zu erkennen, dass du in sämtlichen Fächern auf ganzer Linie versagt, dass du die meisten Leute, die einmal deine Freunde waren, vergrault hast und dass du dich seit mehr als einem Monat nicht mehr wie ein funktionierendes menschliches Wesen fühlst.

An diesem Punkt empfehle ich, den letzten Notfall-Joint aus der Mickey-Maus-Pflasterdose deiner Mitbewohnerin zu klauen, damit zu der Bundesstraße zu spazieren, die am Eingang der von Quäkern gegründeten Bildungseinrichtung namens »Freundschaftsakademie« vorbeiführt, und sich beim Kiffen von einem Ort zu verabschieden, der sich für kurze Zeit fast wie ein Zuhause angefühlt hat. Dann schlage ich vor, in deinen Ford Festiva zu steigen und wie ein flüchtiger Verbrecher mit Volldampf das Weite zu suchen.

Ich beschloss, meine Mitbewohnerin Emma nicht zu wecken. Sie hatte wieder mal ihren Freund in unser Zimmer geschmuggelt und war mit ihm zu einer pornografischen Brezel verschlungen, die sich jeder Vorstellungskraft widersetzte. Ohne Witz, die beiden sahen aus wie diese seltsam verschachtelten Treppen in einem Escher-Gemälde, nur nackt und mit mehr Körperbehaarung.

Also ließ ich ihr, anstatt mich zu verabschieden, lieber die fünfundzwanzig Dollar da, die ich ihr noch schuldete, und den Rest von meinem Orangen-Ingwer-Körperspray, das sie sowieso immer heimlich benutzt hat. Dann verließ ich das Zimmer und zog die Tür für immer hinter mir zu.

Es klingt vielleicht hart, aber in den sieben Monaten, in denen wir zusammenwohnten, haben wir kein einziges Mal offen und ehrlich miteinander geredet. Oder uns gestritten. Okay, ich habe ihr beigestanden, als sie ihre Tage nicht bekommen hat, und wir haben gemeinsam Teen Mom auf YouTube angeschaut und dabei geheult. Aber wir waren keine besten Freundinnen. Ich werde ganz sicher nie ihre Trauzeugin sein und auf ihrer Hochzeit eine tränenreiche Rede halten. Und ich werde ihr vermutlich auch keine Niere spenden. Jedenfalls nicht meine Lieblingsniere.

Trotzdem, in den letzten Monaten haben wir einen halben Meter voneinander entfernt in einem Zimmer von der Größe einer Gefängniszelle geschlafen. Wir haben uns eine Duschablage geteilt. Wir haben uns gegenseitig die Haare gehalten, wenn wir zu viel Malibu getrunken hatten und unsere Kotze nach Sonnenmilch roch. Das verbindet schon irgendwie.

Ich entschied mich auch dagegen, Elaine vom psychologischen Dienst Bescheid zu sagen, wofür sie mich früher oder später noch am Arsch kriegen würden. Elaine ist die Frau, die mit mir während des letzten Monats über meinen »Trauerprozess« gesprochen hat. Sie ist wahrscheinlich sogar ganz nett, und ihre Umarmungen sind nicht zu verachten. Aber wenn ich die Fotos von ihrem Hund in Halloweenkostümen sehe, tut sie mir einfach nur schrecklich leid. Es ist, als ob die Probleme von Mädchen wie mir ihr die Fähigkeit geraubt hätten, ein echtes Leben zu führen. Und das Einzige, was sie jetzt noch kann, ist, sich Sorgen zu machen und mit ihrem Spaniel Gassi zu gehen.

Aber ich hätte einfach keinen weiteren ihrer Anrufe ertragen können, in denen sie so schmerzhaft ernste Fragen stellt und gleichzeitig ziemlich offensichtlich herauszufinden versucht, ob ich vorhabe, mich umzubringen. Tja, jetzt bin ich weg, Elaine, du brauchst dir darüber also keine Sorgen mehr zu machen. Und ich erlaube dir auch, deswegen erleichtert zu sein. Gönn dir doch einen zweiten Drink bei der wöchentlichen Happy Hour für die Schulangestellten. Du hast es dir verdient.

Vermutlich sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich gerade im Haus meines Vaters untergekrochen bin und keine konkreten Pläne habe, es so bald wieder zu verlassen. Das Haus ist eine heruntergekommene Dreizimmerbude in Minneapolis, wo er lebt, seit seine Ehe mit meiner Mutter sich aufgedröselt hat wie ein alter Wollpulli. Und es gibt zwei Gründe, warum ich wieder hier wohne.

Erstens liegt das Haus nur eine halbe Tagesfahrt von meiner Hippieschule in Iowa entfernt, was mir ein geeigneter Zeitraum schien, um allein in einem Auto zu sitzen. Zweitens hält sich meine Mutter gerade zu einem längeren »Retreat« in Indien auf, wo sie gemeinsam mit ihrem neuen Freund Lars etwas praktiziert, was sich Ashtanga Yoga nennt und was ich mir lieber nicht bildhaft vorstellen möchte.

Ich bin also zur Junggesellenbude meines Vaters gefahren, wo er in meinem früheren Zimmer ein Bestattungsinstitut betreibt.

Ja, richtig gelesen.

Seit einigen Jahren versucht mein Vater, neue Ideen für das Geschäft mit dem Tod zu entwickeln. Er macht das, obwohl er eigentlich keine Ausbildung in diesem Bereich hat und trotz der anhaltenden fehlenden Unterstützung von eigentlich allen Leuten, die er so kennt.

In der Garage stapeln sich immer noch halb fertige Kisten von seinem ersten Versuch mit »handgefertigten Totenschreinen«. Mittlerweile versucht er, als Bestattungsplaner sein Geld zu verdienen, weshalb in meinem alten Zimmer überall Broschüren herumliegen mit der Aufforderung: Planen Sie die Party Ihres Lebens! (Womit in Wahrheit der TOD gemeint ist – Überraschung!)

Das ist leider typisch für ihn und auch ein entscheidender Grund, warum wir kaum noch miteinander reden. Genauer gesagt liegt es vor allem daran, dass er meine Collegeersparnisse ausgegeben hat, um damit eins seiner »Projekte« zu finanzieren. Eine mobile Wellnessoase, mit der er die halb nackten Körper älterer Menschen in ihren Hauseinfahrten verwöhnen wollte. Tolle Idee, Dad. Komisch, dass das kein Erfolg geworden ist!

Natürlich wollte er das Geld sofort zurückzahlen! Aber irgendwie hat er sich letztendlich dann nur noch mehr Geld von meiner Mutter geliehen – allerdings ohne sie zu fragen. Und trotzdem habe ich ihn gestern Abend in einem schwachen Moment angerufen. Oder vielleicht war ich auch einfach bloß verzweifelt. Oder vielleicht auch nur, um ihn wegen meines zerstörten Lebens fairerweise schon mal vorzuwarnen.

Wie auch immer – als ich ihn dann endlich erreichte, erwischte ich ihn an einem Strand in Nantucket. Im Hintergrund war ein Krachen zu hören, das wie explodierende Feuerwerksraketen klang.

»Duncan Fowler!«, brüllte er über ein lang gezogenes Böller-Heulen hinweg.

»Dad?«

»Hallo? Hier spricht DUNCAN FOWLER!«

»DAD. HIER IST TESS!«

Das Heulen verstummte.

»Tess«, sagte er. »Was ist passiert?«

Ich konnte ihm die Frage nicht verdenken. Er bekam immer nur dann einen Anruf von mir, wenn irgendetwas schrecklich schieflief.

»Nichts«, log ich. »Nichts ist passiert.«

Eine ohrenbetäubende Explosion drängte sich in die Leitung.

»Was?«, fragte er.

»NICHTS IST PASSIERT!«, schrie ich. »ALLES BESTENS!«

Stille.

»Dad, was zum Teufel ist da los? Das klingt ja wie ein Bombenangriff.«

»Um ehrlich zu sein«, er seufzte, »passt es gerade nicht so gut.«

Ich konnte mich nicht erinnern, wann es ihm jemals gepasst hätte.

»Ich muss dir was sagen. Ich mach’s auch kurz.« Ich holte tief Luft und vergewisserte mich, dass es am anderen Ende der Leitung nicht wieder krachte. »Ich schmeiße hin«, erklärte ich. »Die Schule. Ich hör auf und komme nach Hause, vermutlich für immer. Ich hoffe, das ist okay für dich.«

Ich hatte erwartet, dass er erstaunt nach Luft schnappte oder wenigstens seufzte. Doch das Einzige, was ich hörte, war ein Knistern.

»Dad?«

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab dich gerade nicht verstanden. Hast du was gesagt?«

Ich schloss die Augen und fluchte stumm.

»Entschuldige, Tess. Die Zeremonie läuft nicht gerade gut. Die Raketen sind zu früh losgegangen und die Leute flippen gerade ein bisschen aus.«

»Warte mal – Raketen? Wovon redest du?«

»Sie sollten um zwölf Uhr abgefeuert werden, aber es ist erst halb zwölf. Ich weiß nicht genau, warum das so wichtig ist, aber offenbar wurde Zebulon kurz nach Mitternacht geboren –«

»Wer ist Zebulon?«

»Ein Barsoi!«, antwortete mein Vater. »Ein russischer Windhund. Wunderschönes Tier. Also, früher einmal. Vor dem Krematorium. Er gehörte einem berühmten Science-Fiction-Schriftsteller. Deswegen die Raketen. Und der Name Zebulon, vermute ich mal. Gerade wird seine Asche in die Luft geschossen. Es ist wirklich sehr –«

Ein weiteres Feuerwerksstakkato.

»Warte mal – du organisierst Beerdigungen für Hunde?«

»Eigentlich sollte es eine Lebensfeier werden, aber ja. Das ist ein Markt mit ungeheuer viel Potenzial. Ich bin im Moment jedenfalls ziemlich beschäftigt. Und du hast doch sicher bald Prüfungen, oder? Wie laufen die an deiner Schule ab? Musst du einer Kuh beim Kalben helfen?«

Einen Moment lang erwog ich, ihm die Wahrheit zu sagen. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, dass ich nicht länger irgendwelchen Blödsinn auf der teuren Privatschule lernen würde, auf die mich meine Mutter geschickt hatte, damit ich »mich selbst verwirklichen« und »Gemeinschaft erfahren« konnte. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, dass ich stattdessen bei ihm zu Hause hockte, die traurigen Reste aus seinem Junggesellen-Kühlschrank aufaß und gleich in meinem alten Zimmer zu Bett gehen würde, das mittlerweile wie eine Mischung aus dem Büro eines Buchhalters und der Mansarde einer Prostituierten aussah. Aber in dem Moment hörte ich Rufe aus einer weit entfernten Menge.

»Oh Mist«, meinte mein Vater. »Das sieht nicht gut aus. Der Rauch wird zurück zum Strand geweht. Ich muss die älteren Herrschaften in Sicherheit bringen. Wir reden später weiter, okay, Tessie?« Und dann war er einfach weg.

Ich schloss die Augen und legte mich aufs Bett.

Es war immer noch die schmale Matratze, die für eine kleinere Tess gekauft worden war. Eine kleinere Tess, die bis weit in die sechste Klasse ins Bett pinkelte und sich mit fünfzehn noch vor der Dunkelheit fürchtete, bis sie dann Beruhigungstabletten und laute Gitarren entdeckte. Seit fast einem Jahr hatte ich darin nicht mehr geschlafen. Mittlerweile waren die Federn völlig hinüber, und die Matratze hing in der Mitte durch wie eine Hängematte. Trotzdem versuchte ich, im Büro des Todes etwas Schlaf zu finden.

Es war nur viel zu leise. Ich war an das Internat gewöhnt und vermisste beim Einschlafen die lauten Rufe, die durch das Wohnheim hallten, und das Rascheln und Knarzen von Emma und ihrem Freund, die versuchten, möglichst rücksichtsvoll im gegenüberliegenden Bett zu vögeln. Ich brauchte die Geräusche anderer Menschen, egal welche. Sie erinnerten mich daran, dass ich nicht ganz allein war.

Deshalb dauerte mein Versuch, mit geschlossenen Augen dazuliegen, auch nicht lange an. Und anstatt mir einen Tee zu kochen oder zu meditieren, stand ich auf und schickte eine lange Nachricht an den Facebook-Account eines Menschen, den es nicht mehr gab.

Der Name dieser abwesenden Person ist Jonah.

Und sein Account liegt brach, weil er nicht mehr lebt.

Trotz dieses Nicht-am-Leben-Seins schickte ich ihm eine Nachricht. Ich berichtete ihm, wie ich versuchte, in einem Zimmer voller gespenstisch fröhlicher Todesbroschüren einzuschlafen. Ich erzählte ihm von einer neuen iPhone-App, die Sternbilder erkannte, wenn man die Kamera auf den Nachthimmel richtete. Ich erzählte ihm, wie sehr ich seine spätabendlichen Nachrichten vermisste, seine langen E-Mails und sein Lachen auf meiner Mailbox. Und ich erzählte ihm, dass ich zu Hause war, aber dass es sich nicht mehr wie ein Zuhause anfühlte.

Ich schrieb ihm auch, dass alles, was mit mir gerade passierte, ganz allein seine Schuld war.

Dass nichts davon passiert wäre, wenn ich ihn nicht getroffen und mich gegen besseres Wissen in ihn verliebt hätte. Dann würde ich bestimmt nicht die gleichen Klamotten tragen wie gestern schon. Ich würde nicht auf meiner durchgelegenen Matratze aus der sechsten Klasse liegen, unfähig, mich zu rühren. Ich wäre keine Schulabbrecherin. Und ich müsste mich nicht so bemühen, diesen abgrundtiefen Liebeskummer zu unterdrücken, der mich jedes Mal zu überwältigen drohte, wenn ich sein Profilbild sah.

Dann wartete ich zwei Stunden auf eine Antwort, die, wie ich genau wusste, nie kommen würde.

Und das führt mich schließlich zu dem, was heute Morgen passiert ist, und zu der Geschichte, die ich eigentlich erzählen wollte, bevor ich anfing, von anderen dem Tode geweihten Dingen zu berichten, wie dem Universum oder Zebulon, dem Raketenhund.

Ich würde deshalb ganz gern einen neuen Anlauf nehmen, wenn das okay ist. Mein Englischlehrer, Mr Barthold, hat mir mal gesagt, ich müsste mich »ganz der Kreativität hingeben«, wenn es darum gehe, einen Text zu entwerfen, und dass »die tiefere Wahrheit manchmal recht schwer zu greifen ist«.

Ich hab’s notiert, Mr B. Obwohl Sie ein verbitterter Mann sind, der sich an einen einzigen veröffentlichten Roman klammert wie an eine Teilnehmer-Urkunde, klangen Ihre Worte aufrichtig. Deshalb halte ich mich an Ihren Rat und gebe mich ganz der Kreativität hin. Okay?

Fantastisch.

Dann mal los.

2

Ich saß in Unterwäsche auf den Holzdielen des Gästezimmers, als mir plötzlich klar wurde, dass ich unbedingt hinunter zum See musste. Also, zuerst musste ich mich natürlich anziehen. Aber dann musste ich sofort raus und zum See. Ich war seit ungefähr einer Stunde wach und klickte immer wieder auf den Reload-Button in meinem Browser, darauf wartend, wie gewohnt eine Nachricht aus dem Nichts zu erhalten. Schließlich stand ich auf und zog mich an. Dann schlüpfte ich mit meinem Computer unter dem Arm auf die frühmorgendlichen Straßen von Minneapolis.

Die Stadt lag wie ausgestorben da. Es war noch zu früh, selbst für die Bewohner des Mittleren Westens. Und so wanderte ich mitten auf der Straße zu dem kleinen See unten am Fuß des Hügels, wo reiche Leute eine Million Dollar zahlen, um auf das Wasser starren zu können. Und während ich so herumlief, versuchte ich, mir gegenüber ganz aufrichtig zu sein, was die jüngste Entwicklung meiner Trauer betraf.

Um ehrlich zu sein, hatte ich bisher noch niemanden verloren, der mir nahestand. Zumindest niemanden in meinem Alter. Ich hatte also keine Ahnung, wie sich so etwas unter normalen Umständen anfühlen sollte, ganz zu schweigen von den »ganz und gar nicht« normalen Umständen in meinem Fall. Sagen wir mal so: Es gab da nämlich einige Faktoren, die die Sache verkomplizierten. Und zwar vor allem die Tatsache, dass Jonah und ich uns nur ein einziges Mal getroffen haben.

Für etwa fünf Stunden.

Hatte ich das noch nicht erwähnt?

»Dein Internet-Freund!« hat Emma ihn mal genannt. »Beziehung 2.0.«

Und da hatte sie schon irgendwie recht. Wir hatten fast nur über das Ding, das gerade unter meinem Arm klemmte, Kontakt gehabt. E-Mail. Facebook. Chat-Nachrichten. Usw. Und nun, da Jonah nicht mehr da war, fühlte es sich an, als würde etwas fehlen und gleichzeitig auch wieder nicht. Es stimmt schon, eigentlich sind wir nie wirklich zusammen gewesen. Nur ein einziges Mal hat er mich mit seinen verführerischen grau-blauen Augen durch einen Raum hinweg angesehen und angelächelt – mit seinem schiefen Schneidezahn, der ihn immer ein bisschen verwegen aussehen ließ. Aber da war etwas gewesen zwischen uns, definitiv.

Etwas, das ich nicht mehr zurückholen konnte.

In den letzten zwei Wochen hatte ich ihm tatsächlich mehr Nachrichten geschickt als jemals zuvor. Obwohl ich genau wusste, dass er nicht mehr antworten konnte, schaute ich fünfzig Mal am Tag in meinen Posteingang. Klick. Neu laden. Klick. Neu laden. Ich war mir sicher, dass er mir irgendwann schreiben und sagen würde, dass das alles nur ein Scherz gewesen sei. Ich bin nicht tot. Ich lebe! Ich wollte dir nur einen Streich spielen! Haha!

Aber er antwortete nicht, und ich fing langsam an, ein bisschen Angst vor mir zu bekommen.

Und in diesen letzten Minuten der Morgendämmerung wurde mir schließlich klar, was ich zu tun hatte: Ich musste meinen Zweitausend-Dollar-Laptop in den Tiefen des Sees versenken.

Früher einmal, vor langer Zeit, bevor ich wusste, was Depressionen sind, bin ich mal mit Langlauf-Skiern über diesen See gefahren. Die Erinnerung daran ist verschwommen, aber es muss richtig schön gewesen sein. Ich bin nachts im Schein von Kerzen, die in ausgehöhlten Eisblöcken schimmerten, über die schneebedeckte Oberfläche geglitten. Damals waren meine Eltern noch zusammen, sie liefen neben mir und haben mir geholfen. An der Ziellinie warteten zu Pyramiden aufgestapelte Eisblocks wie die Grabmäler gefrorener Pharaonen.

Natürlich ist der See jetzt, zu dieser Jahreszeit, längst komplett aufgetaut, aber es war die Erinnerung an diese gefrorene Oberfläche, die mich dorthin zog. Wenn der Winter kam, würde mein Computer unter einem riesigen Grabhügel aus Eis beigesetzt sein, meine gesamte Kommunikation mit Jonah sicher darin verwahrt.

Während ich zum See hinunterlief, konnte ich allerdings nicht aufhören, daran zu denken, dass ich, wenn alles anders gelaufen wäre, jetzt mit ihm zusammen sein könnte. Das ganze Frühjahr über hatten wir ein zweites Treffen geplant. Jeden Tag hatten wir uns deswegen geschrieben, uns Stellenanzeigen zugeschickt, fest entschlossen, einen gemeinsamen Ferienjob zu finden.

Egal wo, egal was. Je absurder, desto besser. Jonah meinte, das wäre eine gute Geschichte für unsere Enkel später. Und ein abenteuerlicher neuer Anfang für unsere Beziehung. Und so erstellten wir eine Liste und kreuzten überall Ja an. Ein Clown-Workshop in Alaska? Na klar. Ein Malkurs in einem Frauengefängnis in Oklahoma? Warum nicht? Ein Sommersemester auf einem Schulschiff am Bosporus? Schon angemeldet!

Jedes Mal, wenn einer von uns einen Sommerjob für Jugendliche entdeckte – egal wie seltsam er war –, schickten wir uns die Infos zu. Es wurde zu einer Art Code – ein Ausdruck unseres Wunsches, uns endlich als reale Menschen zu begegnen. So zusammen zu sein wie alle anderen Pärchen auch.

Ich schrieb zum Beispiel: Auf einer Skala von eins bis zehn – was hältst du von der Besamung von Lachseiern?

Worauf Jonah antwortete: Neun! Wer soll sie sonst besamen, wenn nicht wir?

Dann, eine Stunde später, schrieb er: Köche gesucht für ein Nudisten-Camp in Spokane. Lust auf Wiener Würstchen?

Nach einer Weile fiel mir jedoch auf, dass ich die Einzige war, die noch Jobangebote schickte.

Was hältst du von naturnahem Gemüseanbau? Wir zwischen lauter Kohlköpfen?

Oder einfach nur: Rodeoclowns?

Aber es kam nichts zurück.

Nicht mal das Emoji, das er so mochte, mit dem Lächeln und der herausgestreckten Zunge. Das, von dem ich immer dachte, es würde bedeuten: »Du bist süß und lustig und schlau, und hab ich dir eigentlich schon gesagt, wie süß du bist?« Aber mittlerweile vermute ich, dass es bedeuten sollte: »Ich kommuniziere nicht wirklich mit dir, Tess Fowler. Dieses blöde Grinsegesicht ist nur ein beschissener Ersatz für echten Kontakt.«

Ich überquerte den Hügelkamm und spürte, wie der Boden unter meinen Füßen zunehmend abfiel. Das gegenüberliegende Seeufer kam in Sicht. Es war noch nicht richtig hell, aber die Wolken begannen langsam buttergelb zu schimmern. Und ganz gegen meinen Willen begann ich Jonah von alldem zu erzählen.

Ich sah den kleinen blinkenden Cursor im Chatfenster vor mir. Und dann folgte – ein Wort nach dem anderen – der Text.

Ich: Dinge, die ich ohne dich sehe …

Das war ein Spiel, das wir gelegentlich gespielt hatten, bei dem wir aus unseren Zimmerfenstern schauten – fast einen halben Kontinent voneinander entfernt – und uns gegenseitig beschrieben, was wir sahen. Wenn wir es parallel machten, sagte Jonah, könnten wir dadurch in zwei Welten gleichzeitig sein. Er konnte manchmal echt kitschig sein.

Ich: Dampf steigt vom Asphalt auf. Bewegungsmelder lassen Lampen an- und ausgehen wie kleine blinkende Blitze.

Ich: Kaninchen. Kaninchenbabys? Wie kann man ein Kaninchenbaby von einem kleinen ausgewachsenen Kaninchen unterscheiden? Werden kleine Kaninchen in der Kaninchenwelt manchmal für Babys gehalten? Ist das demütigend für sie?

Einige Male haben wir versucht, dieses Spiel per Videochat zu spielen, und unsere Laptopkameras aus dem Fenster gehalten, damit wir sehen konnten, was der andere sah. Aber das war nicht das Gleiche. Es war immer besser mit Worten. Wenn wir uns gegenseitig die Welt übersetzten.

Ich: Automatische Sprinkleranlagen. Brunnen. Ein paar abgedeckte Pools in den Gärten.

Am Fuß des Hügels überquerte ich die Straße und betrat den Pfad, der um den See herum führte.

Ich: Der See. Als Kind ist er mir immer so groß vorgekommen. Jetzt sieht er eher aus wie eine Pfütze. Ein überdimensionierter Swimmingpool mit Fischen drin. Heute ist das Wasser ganz klar. Ein einsames Ruderboot mit einer Frau ist darauf unterwegs. Sucht sie nach einem Moment des Friedens, bevor ein neuer beschissener Tag beginnt? Trainiert sie für etwas? Wer sind Sie, Frau im Ruderboot? Warum mühen Sie sich so ab? Übrigens, Sie haben echt krasse Oberarme.

In den ersten Tagen nach Jonahs Tod spürte ich sofort, dass sich etwas verändert hatte. Irgendwann während unserer Beziehung – ich weiß nicht mehr genau, wann – fühlte sich das Leben nur noch dann echt an, wenn ich ihm davon schrieb. Wenn ich ihm von Dingen erzählte, wurde ich zu einer besseren, lustigeren Tess. Das Leben ließ sich auf diese Weise besser in den Griff bekommen. Mein Verstand ließ sich auf diese Weise besser in den Griff bekommen. Und nun, ohne ihn, fühlten sich meine Tage an, als wäre ihnen etwas geraubt worden. Mir war klar, dass ich einen Weg finden musste, um dieses Gefühl zurückzubekommen, sonst würde alles ganz, ganz furchtbar werden.

Ich: Die Stufen des Holzstegs. Die grünen Algen auf dem Wasser. Die Ruderin, die durch eine verspiegelte Sonnenbrille zu mir schaut. Der kühle Morgenwind, der auffrischt. Und dann bahnt sich das Licht der Sonne endlich seinen Weg über den Horizont.

Der Himmel und das Wasser färben sich langsam blau. Der Computer fühlt sich in meinen Händen glatt und metallisch an. Ich hole weit aus. Die Ruderin beobachtet mich verwirrt; eine Hand an die Stirn gelegt, blinzelt sie wie ein Späher gegen das Sonnenlicht.

Eine Kräuselwelle bahnt sich ihren Weg über die Oberfläche des Sees. Mein Computer fliegt durch die Luft wie ein eckiges Frisbee, dann landet er spritzend im Wasser und versinkt in den sumpfigen Tiefen. Nur wenige Luftbläschen steigen auf. Meine Schuhe, wie sie über den Steg rennen. Der Moment, in dem ich springe, über das Wasser, das wie ein Marmorboden unter mir glänzt.

Ein Ruf von der Ruderin. Das kalte Wasser ist trüb, wenn meine Augen geöffnet sind, und völlig dunkel, wenn sie geschlossen sind. Meine Arme, die in Zeitlupe durch das Wasser pflügen. Das Seegras an meinen Schienbeinen. Dann die blendende weiße Sonne, als ich strampelnd durch die Oberfläche breche, mit einem so lauten Schrei, dass es sich anfühlt, als würden meine Lungen explodieren.

Das ist es.

Was ich ohne dich sehe.

3

Das einzige Mal, als wir uns persönlich begegnet sind, trug Jonah einen ungleichmäßigen Bart, der die Oberlippe verdeckte, sodass sein Gesichtsausdruck nur schwer zu entschlüsseln war. Er sah dadurch ziemlich jungenhaft aus – ein Kind, das Erwachsensein spielte –, als wir uns letzten Herbst bei einer Studentenparty kennengelernt haben. Auf der Veranda eines heruntergekommenen Farmhauses, direkt neben meiner Schule, inklusive Hühnerstall und rostigem Kornspeicher.

Die Studenten, die die Party schmissen, waren irgendwelche reichen Kids, die hier das ach so »ursprüngliche« Leben auf dem Land zelebrierten – bis hin zum Kauen von Tabak und Knabbern von Sonnenblumenkernen. Im Grunde ziemlich ähnlich wie das, was wir an meiner behämmerten Privatschule betrieben, aber uns war wenigstens bewusst, wie lächerlich wir uns verhielten. Diese Typen hier nahmen die Sache dagegen furchtbar ernst. Sie trugen blaue Arbeitsoveralls und Bandanas und unterhielten sich mit ehrfürchtigen Stimmen über Bienenhaltung.

Und trotzdem schlich ich mich aus dem Wohnheim und ging zu der Party. Warum? Weil ich einsam war und Bier trinken wollte, ohne dafür zu bezahlen. Einer meiner Klassenkameraden, ein Typ namens Satchel, hatte mir im Kunstunterricht davon erzählt. »Es gibt sogar Apfel-Fischen!«, hatte er derart begeistert verkündet, als spräche er davon, mit einem Fallschirm über Stonehenge abzuspringen. Jetzt mal ernsthaft: Kann sich jemand, der älter als acht ist, wirklich darauf freuen, seinen Kopf in eine Wanne mit kaltem Wasser zu stecken?

Die Antwort erhielt ich prompt bei meinem Eintreffen. So ziemlich das Erste, was ich sah, war nämlich eine Schar bärtiger Jungs, die ihre Gesichter in eine alte Waschschüssel tunkten. Offenbar war auch Alkohol im Spiel – ein Schnaps vor oder nach jedem Tauchgang, so ganz kapierte ich das nicht. Also marschierte ich an ihnen vorbei in Richtung Bierfass und verbrachte die nächste Stunde mit dem Befüllen und Entleeren meines roten Plastikbechers.

»Weißt du, was das für ein Bier ist?«, fragte mich irgendwann ein Mädchen in der Schlange.

»Ein kostenloses«, sagte ich zu ihr.

Jonah begegnete ich, als ich gerade die Phase des Leicht-angeschickert-Seins hinter mir ließ und die unsicheren Tiefen völliger Betrunkenheit ansteuerte. Unter anderen Umständen wäre unser Zusammentreffen auch nur schwer vorstellbar gewesen. Seit ich im Herbst ans Internat gekommen war, litt ich unter einer Art Sozialphobie. Die Highschool in New York (die ich im Jahr zuvor besucht hatte, als ich noch bei Mom lebte) war auch kein Zuckerschlecken gewesen, aber ich hatte wenigstens ein paar Freunde gehabt. Schritt für Schritt hatte ich dort gelernt, meine »wahre« Persönlichkeit in kleinen, ungefährlichen Dosen preiszugeben, die die Leute nicht abschreckten. Doch seit ich hier an der Schule war, zog ich mich immer mehr zurück und führte häufig stumme Gespräche in meinem Kopf, anstatt mit anderen zu reden. Ich lächelte weniger. Manchmal hatte ich deswegen nach dem Unterricht regelrechte Spannungskopfschmerzen. Das war alles sehr merkwürdig und ich konnte es mir auch nicht wirklich erklären, und das einzige Heilmittel dagegen schien der von mir neu entdeckte Konsum von Alkohol zu sein.

Ich stand also auf der Veranda des Bauernhauses und verspürte ein unbestimmtes Maß an Scham und Sehnsucht in meinem Bauch, als ich einen der bärtigen Jungs neben der Wanne für das Apfel-Fischen herumlungern sah. Mit einem seltsamen kleinen Lächeln auf den Lippen musterte er die angebissenen roten Äpfel darin, und auf einmal stieg Wut in mir auf.

»Kannst du mir das bitte mal erklären?«, rief ich.

Der Typ drehte sich um. Er wirkte verwundert, stand aber so weit entfernt, dass ich sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte. »Entschuldigung?«

Seine Stimme war tief, und es lag eine überraschende Wärme darin. Fast hätte er damit meinen Redeschwall wieder zum Erliegen gebracht, doch meine Zunge hatte sich endlich befreit und war nicht mehr zu bändigen.

»Was soll eigentlich diese ganze verdammte Getue um das Leben auf dem Land?«, fragte ich. »Das würde ich wirklich gern wissen.« Ich trat näher.

Er erwiderte nichts. Stattdessen rückte er seine Brille zurecht.

»Ich meine, ich kann diese Sehnsucht nach etwas Authentischem schon verstehen. Wir wollen uns ja alle mit etwas verbunden fühlen, das echt ist – lehmige Erde und so. Aber sich wie in Unsere kleine Farm aufzuführen, wenn man eigentlich Medienwissenschaften in Boston studiert, ist auch keine Lösung, mein Freund. Ihr seid doch keine Amischen! Ihr müsst morgen keine Scheune mit bloßen Händen aufbauen! Gebt’s einfach auf, okay?«

Ich hätte noch viel mehr sagen können. Und ich wollte unbedingt noch mehr sagen. Nachdem ich den ganzen Abend über höchstens ein oder zwei Worte gesprochen hatte, fühlte es sich absolut großartig an zu reden. Leider wurde mir gleich nach dem letzten Wort fürchterlich schlecht. Das Gefühl traf mich wie ein Schlag in die Magengrube, und bevor ich mich entschuldigen konnte, trippelte ich schon auf unsicheren Beinen zum Rand der Veranda. Und kotzte ins Gebüsch.

Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Ich würgte und hickste vor mich hin wie ein geistig umnachteter Beatboxer unter den entsetzten Blicken seiner Zuschauer. In Nullkommanichts hatte sich mein Magen komplett entleert, und mein gesamtes Ich lag im Gestrüpp verteilt. Meine Beine schwankten, aber bevor ich von der Veranda fallen konnte, tauchte eine Hand neben mir auf und hielt mich fest.

»Komm«, sagte die Hand. »Hier lang.«

Ich folgte dem Farmer meines Vertrauens, zu dem die Hand gehörte. Es schien mir das einzig Richtige zu sein. Er ging mit mir in die Küche, wo ich kleine Schlucke aus einem Glas mit kaltem Wasser trank. Ich spülte mir den Mund aus und spuckte das Wasser wie ein Boxer ins Waschbecken. Tränen liefen mir über die brennenden Wangen. (Wann genau hatte ich eigentlich angefangen zu weinen?)

Dann führte mich mein Retter zu einem Sofa und befahl mir, mich hinzulegen und einen Fuß am Boden zu lassen, damit sich nicht alles um mich herum drehte. Nur einen Fuß. Dann sagte er mit seiner tiefen Stimme: »Ich heiße übrigens Jonah. Und ich wohne gar nicht hier.«

Genau genommen war ich gar nicht mehr betrunken. Richtig nüchtern aber auch nicht. Ein Zustand, der nicht viel Raum zwischen Denken und Sprechen ließ.

»Aber du hast doch einen Bart!«, protestierte ich.

Er lächelte. »Das stimmt. Ich wollte es mal ausprobieren. Fand es irgendwie collegemäßiger.«

Im Licht des Wohnzimmers konnte ich ihn nun deutlicher erkennen, und mir war sofort klar, dass er ohne Gesichtsbehaarung zehn Mal besser aussähe, weil sich darunter ein markantes Kinn verbarg.

»Studierst du hier am College?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Syracuse. Aber ich studiere in Boston. Ich besuche hier einen alten Schulfreund. Allerdings glaube ich nicht, dass wir noch befreundet sind. Schade eigentlich. Wir konnten uns früher echt gut leiden. So jemanden findet man nicht so leicht, weißt du? Willst du noch Wasser?«

Ich hörte ihm nicht zu. Nicht wirklich. Ich betrachtete sein Gesicht. Seine Augen hinter den riesigen Brillengläsern hatten einen ganz leichten Silberblick. Aber sie waren wunderschön grau mit einem blauen Ring um die Pupillen. Seine Nase war nicht markant genug für meinen Geschmack, aber auch nicht un-markant. Und seine blonden Haare waren gerade richtig verwuschelt. Ob er gut aussah? Vermutlich schon. Ich brauche immer viel zu lange, um so was zu beurteilen.

»Ha«, sagte ich schließlich.

»Was?«

»Du studierst Medienwissenschaften in Boston.«

»Ich habe keine Ahnung, was Medienwissenschaften überhaupt sind.«

»Oh.«

»Ich mache was mit Computern«, sagte er.

»Bist du ein Computer-Nerd?«

»Ja. Vermutlich. Ich mache jedenfalls gern nerdige Sachen.«

Ich nickte. »Ganz schön weit weg«, hörte ich mich sagen.

»Wie bitte?«

»Boston. Das ist weit weg.«

»Ja, das stimmt.«

Mein Kopf nickte. Besser gesagt, er sackte auf meine Brust. Ich war kurz davor, wegzudösen. Jetzt, nachdem alles aus mir raus war, hatte mein Körper die Nase voll von diesem Abend.

»Mist«, sagte ich. »Ich würde mich gern weiter mit dir unterhalten, Jonah. Deine Stimme klingt so verdammt friedvoll, aber ich fürchte, ich werde gleich einschlafen. Du kennst das sicher.«

Er schwieg einen Moment und deutete auf das Sofa, auf dem ich lag. »Eigentlich ist das mein Bett.«

Und wieder sprach ich, ohne nachzudenken: »Wir können es teilen. Aber nur, wenn ich nicht aufstehen muss. Das ist mein bestes Angebot.« Ich schloss die Augen, und unter meinen Augenlidern leuchteten Bilder auf, Lichtblitze zuckten hin und her.

Jonah brauchte ungefähr eine Minute, um sich zu entscheiden, aber schließlich setzte er sich neben mich. Er roch nach Waschmittel und einem fast verflogenen Spritzer Eau de Cologne. Dann legte er sich hin. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust, und er hielt absolut still. Wärme breitete sich überall in meinem Körper aus.

In einer Film-Version dieser Szene hätten wir jetzt wild herumgeknutscht. Und wären eng umschlungen aufgewacht wie die Jugendlichen in dem alten Romeo-und-Julia-Film von Zeffirelli, den wir im Englischunterricht angeschaut hatten. Aber das hier war nicht Shakespeare. Und wir waren nicht in Verona. Wir lagen in Iowa auf einem Pseudo-Bauernhof voller Alkoholleichen.

Und so wachte ich am nächsten Nachmittag stattdessen mit einem entsetzlichen Kater auf. Mich erwarteten ein Riesenhaufen Ärger und ein Tankbeleg mit einer E-Mail-Adresse und einer kurzen Nachricht darauf: Boston ist weit weg. Das Internet nicht.

4

Die Frau in dem Ruderboot hieß übrigens Grace.

Erinnert ihr euch noch an sie?

Jetzt gerade, in diesem Moment, starrte sie mich über den Küchentisch meines Vaters hinweg an.

Sie war braun gebrannt, um die vierzig und ihr Gesicht leicht gerötet von der Sonne. Auf ihrer Nase saß ein weißer Zinksalbenfleck, der wie Joghurt aussah. Sie hatte Sommersprossen und trug ein körperbetontes Rudertrikot mit einem beeindruckenden Dekolleté.

Und ich? Ich hatte ein schäbiges orangefarbenes Handtuch umhängen und trug darunter ein T-Shirt, auf dem: Shave the whales stand, was ich in der neunten Klasse, als ich es gekauft habe, unheimlich witzig gefunden hatte. Es war klitschnass vom brackigen Seewasser.

Wir saßen schon seit einer halben Stunde exakt so da, seitdem Grace mich aus dem eiskalten See gezogen, zum Ufer gerudert und nach Hause gefahren hatte, um mit mir auf meinen Vater zu warten. Und in dieser Zeit, die sich extrem lang anfühlte, hatten wir exakt sechs Sätze gewechselt. Wobei »gewechselt« eigentlich das falsche Wort dafür ist.

Grace hatte die ersten fünf davon gesagt, und zwar in folgender Reihenfolge:

1) Oh mein Gott!

2) Wieso springst du einfach in den See?

3) Geht es dir auch wirklich gut?

4) Ich heiße Grace.

5) Wo wohnst du?

Und ich hatte einen Satz gesagt, nämlich:

1) Oben auf dem Hügel bei meinem Vater.

Seitdem kamen wir irgendwie nicht weiter.

Draußen in der Einfahrt konnte ich Grace’ Jeep stehen sehen und das kleine Boot, das daraufgeschnallt war. Ein Einer. Das Wort war wie aus dem Nichts in meinem Kopf aufgetaucht, während ich Richtung Ufer geglitten war und die Sonne mir auf die Augenlider brannte. Ich liege in einem Einer. Ich werde in einem Einer an Land gerudert. Das Boot war schmal und rot und zeigte wie ein anklagender Finger auf unser Haus.

Ich wusste, dass es eigentlich an mir war, etwas zu sagen, Grace meinen verrückten Sprung in den See irgendwie zu erklären, aber ich konnte nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob mein Mund überhaupt in der Lage war, Worte zu formen. Ich wusste nur, dass ich mich verzweifelt danach sehnte, dass diese Frau endlich verschwand. Gleichzeitig wollte ich unbedingt, dass sie exakt dort, auf der anderen Seite des Tisches, sitzen blieb.

Ich hatte keinen Schimmer, wann mein Vater nach Hause kommen würde. Die meisten seiner Aufträge – wenn er denn welche hatte – dauerten nur ein oder zwei Tage. Aber vielleicht hatte eine Wüstenrennmaus in Maine einen Schlaganfall erlitten, und er wurde dringend gebraucht. In dem Fall würden Grace und ich noch die nächsten hundert Stunden hier sitzen und uns anstarren.

Ich überlegte, wer wohl zuerst aufgeben würde. Sie musste doch einen Job haben, eine Familie. Wer so braun gebrannt und entschlossen aussah wie sie, musste so etwas einfach haben. Vermutlich hatte sie einen liebevollen Ehemann, der als Facharzt für Hormon- und Stoffwechselstörungen tätig war, während sie ihre Hobbys pflegte – antike Lampenfassungen sammeln oder so. Irgendwann würde sie aufgeben müssen. Sie hatte ein Leben, zu dem sie zurückmusste.

Immerhin eine von uns.

Am Ende ließ sich kein Sieger in unserem Anstarr-Wettbewerb ermitteln. Gerade als ich meinte, die Oberhand zu gewinnen, klapperte die Fliegengittertür, und die unverkennbare, viel zu laute Stimme meines Vaters hallte durch den Flur.

»Tessie!«, rief er. »Bist du da?« Er schlug die Tür hinter sich zu und stapfte ins Wohnzimmer. »Tessie«, dröhnte er. »Bist du zu Hause? Wem gehört das Auto da draußen? Es steht auf meinem Parkplatz!«

Mir war fast, als würde ich durch seine Augen sehen, als er an den abgewohnten Möbeln vorbeiging. Bemerkte er solche Dinge überhaupt? Der Couchtisch mit dem Sprung in der Tischplatte. Das schmuddelige Sofa. Die Tapete im Flur, die sich an den Kanten löste.