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Anna Kampschroer, Barntrup, Dipl. Sozialpäd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis mit Zusatzausbildung in Traumatherapie u. Hypnotherapie / Hypnose, Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzende des regionalen Präventionsvereins F.I.B. e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02986-0 (Print)

ISBN 978-3-497-61384-7 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61385-4 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv: © Cornelia Nass

Satz: Sabine Ufer

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Das Geheimnis

Der Zusammenbruch

Im Krankenhaus

Vater kommt

Freddys Gefühlschaos

Schrecklich einsam

Herr Krause

Der Aufsatz

Beginn einer Freundschaft

Die Befreiung

Geschafft!

Sexueller Missbrauch ist Gewalt!

Hilfetelefon für Kinder, Jugendliche und Erwachsene: Tel. 0800 22 555 30 (kostenfrei und anonym).

Fachpersonen können Sachinformationen zum Buch auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter http://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Das Passwort zum Öffnen der Datei ist auf S. 97 zu finden.

Das Geheimnis

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Schon wieder hat Erik in der vergangenen Nacht von seinem nächsten Geburtstag geträumt. Er freut sich so sehr darauf, möchte am liebsten die Zeit bis dahin schneller ablaufen lassen, aber das geht natürlich nicht. Jeden Morgen nach dem Aufstehen schaut er auf den Kalender, der direkt über seinem Schreibtisch hängt. Meist stöhnt Erik laut auf, wenn er die Tage abgezählt hat, die er noch bis zu seinem Geburtstag warten muss.

„Hoffentlich erfüllt Papa meinen Wunsch, er hat es mir versprochen“, denkt Erik immer wieder und kneift dabei seine Augen fest zusammen. Er meint sich zu erinnern, irgendjemand habe einmal behauptet, so würden Wünsche eher in Erfüllung gehen. Manchmal bezweifelt er, dass es stimmt, aber vorsichtshalber kneift er die Augen dann doch wieder fest zusammen.

„Schaden kann es ja nicht“, findet er. „Ich mache es nur zur Sicherheit, falls es wirklich hilft.“

Auf seinem Kalender macht Erik jeden Abend ein kleines rotes Kreuz, als Zeichen, dass dieser Tag nun auch schon wieder geschafft ist.

Vor einiger Zeit, Erik erinnert sich nicht mehr, wann genau es war, hat sein Vater ihm versprochen, ihm genau zu diesem Geburtstag „ein richtig gutes Mountainbike“ zu kaufen, so ein ähnliches, wie er selbst hat.

Inzwischen sind seine Eltern getrennt, und Erik weiß nicht, ob der Vater das Versprechen halten wird.

„Vielleicht interessiert Papa sich jetzt nicht mehr für mich. Ich sehe ihn viel zu selten. Nie ruft er an. Immer soll ich mich bei ihm melden.“

Bei den Gedanken spürt Erik Traurigkeit und Ärger in sich aufsteigen. Oft ist es eine riesengroße Wut, die sich in ihm ausbreitet. Manchmal wächst sie zu einem hohen Berg heran, zu einem Vulkan, der auszubrechen droht. Dann gibt es die Momente, in denen Erik etwas kaputt machen, jemanden schlagen oder zumindest gemein behandeln möchte.

„Mama und Papa sind so blöd. Warum konnten sie nicht zusammenbleiben! Man kann sich auch wieder vertragen, wenn man sich gestritten hat. Das sagen sie zu mir auch immer.“

Seit etwas mehr als einem Jahr lebt Erik nun schon mit seiner Mutter in diesem kleinen Ort, der ihm noch immer ziemlich fremd erscheint. Er sehnt sich nach der Stadt, in der sie einige Zeit als Familie gewohnt haben. Dort hat er sich meistens wohlgefühlt, viel mehr als in den anderen Dörfern und Städten, in denen zuvor ihr Zuhause war. Wirklich Zeit, Freunde zu finden, hat er an keinem Ort gehabt. Mit jeder neuen Arbeitsstelle des Vaters war ein Umzug der Familie verbunden. Meistens fand Erik das ziemlich traurig. Wütend machte es ihn auch, aber das behielt er für sich.

„Mama und Papa wollen sowieso nicht wissen, wie es mir damit geht. Es interessiert sie einfach nicht.“

Alles erscheint ihm noch so fremd in dem neuen Zuhause, das Haus, in dem es so viele Wohnungen gibt, die Nachbarn, Geschäfte, Straßen, die Schule, zu der er nun geht, sein neuer Fußballverein, der Trainer, der Josef heißt, aber Jusop oder am liebsten Tiger genannt werden möchte.

„Ich will mich nicht daran gewöhnen. Hier möchte ich nicht wohnen.

Ich will weg, egal wohin.

Am besten wäre es, wieder mit Mama und Papa zusammenzuwohnen.“

Besonders abends im Bett quälen Erik diese Gedanken. Gleichzeitig überfallen ihn auch die Erinnerungen an den ständigen Streit zwischen Mutter und Vater. Er weiß noch genau, wie traurig er war, wie verzweifelt, auch wütend, und wie viel Angst ihm das gemacht hat.

Trotzdem! Vielleicht wäre Jusop nicht so ekelhaft zu mir, wenn Papa noch bei uns wäre!

Das überlegt Erik oft. Und dann wünscht er sich ganz besonders, seine Eltern wären nicht getrennt, egal wie sehr und wie häufig sie sich streiten würden.

Es gibt Tage, an denen er davon überzeugt ist, es ginge ihm besser, wenn er einen richtig guten Freund hätte. Andererseits befürchtet er, die Freundschaft könnte sowieso wieder zerbrechen. Schon zu oft hat er erlebt, einen Jungen richtig zu mögen, gerne viel Zeit mit ihm zu verbringen und ihn dann wegen eines erneuten Umzuges zu verlieren. Erik weiß noch genau, wie weh das tut! Manchmal stellt er sich vor, einen richtig guten Freund zu haben, einen Jungen, der für ihn da ist, mit dem er Spaß haben kann, lachen, Probleme besprechen und sich gegenseitig helfen. Ganz dringend wünscht er sich einen Freund, dem er alles anvertrauen kann, auch das mit seinem Fußballtrainer Jusop. Oft stellt Erik sich vor, wie dieser Freund aussieht und wie er heißt. Dann sieht und fühlt er ihn tief in seinen Gedanken und Gefühlen, als gäbe es ihn wirklich. Sein Name ist Danny. Manchmal spricht Erik in Gedanken mit ihm, erzählt ihm von der Trennung der Eltern, von dem, was Jusop ihm aufzwingt, und wie verzweifelt, traurig, wütend er oft ist. Auch seine Angst vertraut er Danny an.

„Schade, dass es ihn nur in meinen Gedanken gibt“, bedauert Erik. „Echt müsste er sein, das wäre gut.“

Seine Mutter spürt, wie sehr er sich einen Freund wünscht, obwohl Erik ihr nie davon erzählt hat, und erst recht nicht von Danny.

„Du musst dir einfach mehr Mühe geben, die anderen Jungen ansprechen, sie zu uns einladen. So schwer ist es doch gar nicht, einen Freund zu finden“, rät seine Mutter. Fast jeden Tag sagt sie so etwas zu ihm. Erik hasst diese Sätze, will sie nicht mehr hören.

„Mama hat gut reden“, denkt er. „Sie muss nicht zur Schule und da den Stress mit allen aushalten.“

Wütend nimmt er das Spiel, das die Mutter ihm zum Umzug geschenkt hat, und schleudert es durch sein Zimmer. Laut kracht es gegen die Fensterscheibe und fällt auf eine mit Blumen gefüllte Glasvase. Klirrend stürzt sie von der Fensterbank hinunter. Jetzt liegen die Blumen verstreut auf dem neuen Teppich zwischen all den Glasscherben, die eben noch eine Vase waren. Schnell breitet sich das Wasser aus und bildet einen hässlichen Fleck auf dem hellen Fußboden.

„Mir doch egal“, denkt Erik.

„Ich hasse dieses Zimmer, diesen Ort, die Schule, den Fußballverein, alle Leute hier, vor allen Dingen aber unseren ekligen Trainer.“

Entsetzt starrt die Mutter auf den Fleck auf dem Boden, der sich dunkel ausbreitet. Die noch frischen Blumen liegen verstreut herum, Glasscherben in großen und kleinen Stücken dazwischen.

„Was soll das denn jetzt?“, will die Mutter wissen. „Meinst du, dadurch würde etwas besser? Der schöne neue Teppich! Unbedingt wolltest du ihn haben. Und jetzt dieser hässliche Fleck darauf!“

Erik findet, dass ihre Stimme so klingt, als würde sie gleich weinen. Er hat damit gerechnet, dass sie wütend wird, ihn anschreit, bestraft, aber nicht damit, dass sie so enttäuscht ist. Diese traurige Stimme kann er nur schwer ertragen.

Am liebsten wäre ich jetzt unsichtbar und taub, möchte gar nichts mehr fühlen.

Erik will seine Mutter nicht so verzweifelt und traurig sehen. Es macht ihm Angst und irgendwie Schuldgefühle, genau wie früher, als sie noch mit dem Vater als Familie zusammengelebt haben. Erik will diese Gefühle nicht mehr aushalten müssen. Trotzdem überfallen sie ihn immer wieder. Es fühlt sich an, wie gequält zu werden. Richtige Bauchschmerzen machen sie ihm. Abends ist er wegen all des Schweren oft so traurig, dass er sich in den Schlaf weint.

Stumm starrt Erik auf den Fleck am Boden, auf die Blumen, die plötzlich so traurig aussehen, auf die Glasscherben, die in der Sonne glitzern.

Unter der unvermuteten Umarmung seiner Mutter zuckt er zusammen. Ganz fest hält sie ihn, gerade so, als wollte sie ihn nie mehr loslassen.

„Erik, wir schaffen das schon. Wir sind doch stark, wir beide“, versichert sie.

„Mama soll bloß nicht meinen, dass ich mich erweichen lasse und losheule. Das funktioniert bei mir nicht“, ist sich Erik sicher, auch wenn der Tränenkloß im Hals schon bedrohlich drückt.

Mit heftiger Bewegung löst er sich aus der Umarmung.

„Warum müssen wir immer wieder woanders wohnen?“, schreit er seiner Mutter entgegen. „Andere Familien bleiben in ihrem Zuhause. Da können die Kinder leicht Freunde finden! Erst mussten wir wegen Papas blöder Arbeit so oft umziehen und jetzt, weil ihr euch getrennt habt. Warum können wir nicht einfach eine ganz normale Familie sein?“

Nun laufen ihm doch Tränen die Wangen hinunter, aber er scheint sie kaum zu bemerken. Ohne noch ein Wort zu sagen, sammelt die Mutter Glasscherben und Blumen auf und entsorgt sie im Papierkorb, der neben Eriks Schreibtisch steht.

„Die armen Blumen! Haben gar nichts falsch gemacht und werden doch weggeworfen, weil sie wegen mir jetzt nicht mehr in der Vase sein können“, denkt Erik und fühlt sich entsetzlich schuldig. So gern möchte er die Blumen retten. Am liebsten würde er sie aus dem Papierkorb hervorholen, in eine andere Vase stellen und ihnen neues Wasser geben, damit sie weiterleben können. Er unterlässt es aber, weil er glaubt, dass seine Mutter ihn nicht verstehen würde.

Mit Tüchern versucht sie, das Wasser vom Teppichboden aufzusaugen. Ganz gelingt es nicht. Ein hässlicher dunkler Fleck bleibt zurück.

Erik sieht stumm zu.

„Ich hasse euch alle“, stößt er heftig hervor. „Ich hasse alles und jeden. Und mich selbst hasse ich am meisten. Warum können wir nicht wieder in unser altes Zuhause? Ich will in den Fußballverein dort. Da hatte ich Freunde und einen viel besseren Trainer!“

Noch immer hockt die Mutter auf dem Boden, sieht verzweifelt zu ihrem Sohn auf. „Aber du magst doch den neuen Fußballtrainer. Er bemüht sich sehr um dich! Beschweren kannst du dich über ihn wirklich nicht. Sogar Einzelstunden gibt er dir, damit du dich schneller in die Mannschaft einfindest.“

Erik starrt seine Mutter an, bleibt zunächst reglos stehen, dreht sich dann weg, erklärt mit abgewandtem Gesicht: „Er will demnächst mit mir und Felix angeln gehen, dort auch zelten, wenn du es erlaubst.“

„Natürlich erlaube ich dir das“, entgegnet die Mutter sofort. „Es freut mich, wenn du Schönes vorhast. Jusops Sohn Felix könnte sogar dein Freund werden.“