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Leo Trotzki

Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale

Das Übergangsprogramm

Mehring Verlag

Inhalt

Impressum

Vorwort

TEIL I
Diskussion über die Aufgaben
der Gründungskonferenz

20. März 1938
Vorbereitung der Gründungskonferenz

21. März 1938
Der Kampf für eine Labor Party in den USA

22. März 1938
Der Kampf gegen den Krieg und der Ludlow-Antrag

23. März 1938
Eine Zusammenfassung von Übergangsforderungen

24. März 1938
Verteidigungsorganisation und Haltung gegenüber Intellektuellen

25. März 1938
Die russische Frage

April 1938
Das Problem der Labor Party

TEIL II
Das Übergangsprogramm

Die objektiven Voraussetzungen der sozialistischen Revolution

Das Proletariat und seine Führung

Minimalprogramm und Übergangsprogramm

Gleitende Lohnskala und gleitende Skala der Arbeitszeit

Die Gewerkschaften in der Übergangsepoche

Die Fabrikausschüsse

Das »Geschäftsgeheimnis« und die Arbeiterkontrolle über die Industrie

Die Enteignung bestimmter Gruppen von Kapitalisten

Die Enteignung der Privatbanken und die Verstaatlichung des Kreditsystems

Streikposten, Wehrabteilungen, Arbeitermiliz, Bewaffnung des Proletariats

Das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern

Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg

Die Arbeiter- und Bauernregierung

Die Räte

Die rückständigen Länder und das Programm der Übergangsforderungen

Das Programm der Übergangsforderungen in den faschistischen Ländern

Die Lage in der Sowjetunion und die Aufgaben der Übergangsepoche

Gegen den Opportunismus und den prinzipienlosen Revisionismus

Gegen das Sektierertum

Platz den werktätigen Frauen! Platz der Jugend!

Unter dem Banner der Vierten Internationale

Die Statuten der Vierten Internationale

TEIL III
Diskussion über den Programmentwurf

19. Mai 1938
Die politische Rückständigkeit
der amerikanischen Arbeiter

22. Mai 1938
Lernt denken
Ein freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke

31. März 1938
Die Arbeiterbewegungen in den USA
und in Europa: ein Vergleich

31. Mai 1938
»Für« die Vierte Internationale?
Nein! Die Vierte Internationale!

7. Juni 1938
Das Programm vervollständigen und in die Tat umsetzen

4. Juli 1938
»Man muss die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets verjagen«

20. Juli 1938
Wie ökonomische Verschiebungen die Stimmung der Massen beeinflussen

23. Juli 1938
Drei Möglichkeiten einer Labor Party

29. Juli 1938
»Für eine Arbeiter- und Bauernregierung«

30. August 1938
Eine große Errungenschaft

TEIL IV
Manifest der Vierten Internationale
zum imperialistischen Krieg
und zur proletarischen Weltrevolution
1940

Die allgemeinen Ursachen des jetzigen Krieges

Die unmittelbaren Ursachen des Krieges

Die Vereinigten Staaten

Die »Verteidigung des Vaterlands«

Der »Kampf für die Demokratie«

Die Kriegsparolen der Nazis

Das Übergewicht Deutschlands

Das »Friedensprogramm«

Die Verteidigung der Sowjetunion

Für den revolutionären Sturz der bonapartistischen Stalin-Clique

Die Kolonialvölker im Krieg

Die große Lehre Chinas

Aufgaben der Revolution in Indien

Die Zukunft Lateinamerikas

Die Verantwortung der verräterischen Führer für den Krieg

Die Zweite Internationale

Die Dritte Internationale

Sozialdemokraten und Stalinisten in den Kolonien

Zentrismus und Anarchismus

Die Gewerkschaften und der Krieg

Die Vierte Internationale

Unser Programm begründet sich auf den Bolschewismus

Wir haben die Probe bestanden

Die proletarische Revolution

Das Problem der Führung

Sozialismus oder Sklaverei

Was ist zu tun?

Die Arbeiter müssen das Kriegshandwerk erlernen

Dies ist nicht unser Krieg!

Anhang

Verzeichnis der Personen

Verzeichnis der Organisationen

Verzeichnis der Publikationen

Vorwort

Am 25. März 1935 notierte Trotzki in sein Tagebuch: »So gesehen, kann ich nicht einmal hinsichtlich der Zeitspanne von 1917 bis 1921 von der ›Unersetzlichkeit‹ meiner Arbeit sprechen. Dagegen ist meine gegenwärtige Arbeit im wahren Sinne des Wortes ›unersetzlich‹. Dieser Gedanke enthält auch nicht eine Spur von Hochmut: der Zusammenbruch zweier Internationalen hat ein Problem entstehen lassen, zu dessen Lösung kein einziger Führer dieser Internationalen auch nur im geringsten geeignet ist. Im Vollbesitz schwerwiegender Erfahrungen, bin ich durch die besonderen Umstände meines Schicksals mit diesem Problem konfrontiert. Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg auszurüsten.«1

Diese Aussage ist nicht nur bei Gegnern Trotzkis auf völliges Unverständnis gestoßen. Auch viele, die seine Arbeit und sein Leben durchaus mit Wohlwollen betrachten, halten sie für abwegig. Carola Stern, die das Vorwort zur deutschen Ausgabe des Tagebuchs geschrieben hat und diese Sätze zitiert, ruft aus: »Welche Fehleinschätzung des eigenen Lebens! Welche Tragik! Ein Mann, der wie kein zweiter neben Lenin geschaffen schien, die Revolution nicht nur zu organisieren, sondern auch ihre Kontinuität zu bewahren und Macht im Namen einer Idee, einer Ideologie auszuüben, hat wirkliche Macht nur sieben von 61 Jahren seines Lebens in den Händen gehalten.«2

Dieselbe Ansicht findet man bei Trotzkis bekanntestem Biografen, Isaac Deutscher. Die Arbeit, die Trotzki selbst als »unersetzlich« einschätzte, gipfelte im September 1938 in der Gründung der Vierten Internationale. Doch Deutscher widmet diesem historischen Ereignis in seinem dreibändigen Werk nur wenige Zeilen. Er bezeichnet die Gründung der Vierten Internationale kurzerhand als »Fiasko«, als Bestandteil jener »Misserfolge, Trugschlüsse und Fehlkalkulationen«,3 die nach seiner Auffassung die letzten Lebensjahre Trotzkis kennzeichneten. Deutschers Urteil – oder besser: Vorurteil, denn er wiederholt in seinem Buch nur die Einwände, die er schon 1938 gegen die Vierte Internationale erhoben hatte – diente zahlreichen anderen Autoren als Vorbild. Sie alle beurteilten Trotzki nach dem Maßstab, der ihnen als einziger geläufig ist: persönlicher Erfolg, Karriere und »Macht«.

Trotzki selbst bewertete sein Lebenswerk nach ganz anderen Kriterien. Er maß den historischen Prozess nicht an seinem persönlichen Schicksal, sondern begriff sein persönliches Schicksal in untrennbarem Zusammenhang mit dem Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn die Vierte Internationale mit ungeheuren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, dann nicht, weil sie sich »Trugschlüssen und Fehlkalkulationen« hingab, sondern weil die Arbeiterklasse selbst weltweit schwere Rückschläge erlitten hatte. Die kurz aufeinanderfolgende Entartung zweier Internationalen, die verheerenden Niederlagen, die damit einhergingen, und schließlich die Vernichtung einer ganzen Generation von marxistischen Kadern in faschistischen und stalinistischen Lagern hatten eine tiefe Lücke in die Reihen der proletarischen Vorhut gerissen. Gerade das machte Trotzkis Arbeit »unersetzlich« und die Gründung der Vierten Internationale dringend notwendig. Das entscheidende Hindernis für jeden weiteren Fortschritt der menschlichen Gesellschaft war die Krise der proletarischen Führung.

Das Programm, das Trotzki der Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorlegte, stellt diese Frage in den Mittelpunkt. Es beginnt mit den Worten: »Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet«, und gelangt zum Schluss: »Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus.«4

Deutscher untermauerte seine Ablehnung dieser Auffassung im dritten Band seiner Trotzki-Biografie, die er im Jahr 1963 veröffentlichte, mit Hinweisen auf die politischen Entwicklungen der Nachkriegszeit. Trotzkis »Niederlagen«, behauptet er, seien auf »die Diskrepanz und Kluft« zurückzuführen, »die zwischen der marxistischen Vision einer revolutionären Entwicklung und dem tatsächlichen Verlauf des Klassenkampfes und der Revolution bestanden«. Statt wie von Trotzki erwartet »mit einer Revolution von unten her«, habe der »neue revolutionäre Kreislauf« »mit einer Revolution von oben her, mit einer Revolution auf dem Wege der Eroberung« begonnen, nämlich mit der Besetzung Osteuropas durch die Rote Armee. In China habe »die revolutionäre Hegemonie der Sowjetunion« sogar erreicht, »was sonst nur die chinesischen Arbeiter hätten erreichen können – sie zwang die chinesische Revolution in eine antibürgerliche und sozialistische Richtung«. Mao Zedong und seine Bauernarmeen seien »der Logik der ›permanenten Revolution‹« gefolgt und hätten Trotzki zu einem »posthumen Sieg« verholfen. Und in der Sowjetunion habe sich der Stalinismus »durch die erzwungene Modernisierung der Gesellschaftsstruktur sein eigenes Grab gegraben und den Boden für die Rückkehr des klassischen Marxismus vorbereitet«.5

Deutschers Herangehensweise kann man am besten als »Anbetung der vollendeten Tatsachen« bezeichnen. Sie ist jener des Marxismus diametral entgegengesetzt. Sie lässt die Frage nach der Ursache gesellschaftlicher Entwicklungen, nach der Rolle von Programmen, Parteien und Persönlichkeiten einfach weg. Der Marxismus misst dem subjektiven Faktor dagegen eine entscheidende Bedeutung zu. Die Geschichte ist ein Prozess von Klassenkämpfen. Aber die Parteien und Individuen, die diese Kämpfe ausfechten, spiegeln nicht mechanisch das Gewicht ihrer Klasse wider. Sie spielen eine unabhängige Rolle, die an entscheidenden Wendepunkten die Gesellschaft um Jahrzehnte voranbringen oder zurückwerfen kann. Es ist unmöglich, die Rolle von Persönlichkeiten wie Napoleon, Lincoln oder Lenin losgelöst von den Klassenkämpfen ihrer Epoche zu verstehen. Aber welcher ernsthafte Historiker könnte ihren entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Geschichte leugnen?

In Deutschers deterministischem Schema verwandelt sich Stalin, der Henker einer Generation von Marxisten, unter der Hand in ein Werkzeug des sozialistischen Fortschritts und Mao, ein vehementer Nationalist und Gegner des Trotzkismus, in einen Verfechter der »permanenten Revolution«. Die »Flut der Revolution« drängt von selbst zum Sozialismus, ohne dass es nötig wäre, die Krise der proletarischen Führung zu lösen. Der Aufbau einer Partei, die bewusst für die historischen Interessen der Arbeiterklasse eintritt, erweist sich so als überflüssig. Die Aufgabe von Marxisten beschränkt sich darauf, Individuen ausfindig zu machen, die über genügend »reale Macht« verfügen, um dem gesellschaftlichen Fortschritt unter dem Druck objektiver Ereignisse zum Durchbruch zu verhelfen. Die Arbeiterklasse verwandelt sich aus dem Subjekt in ein reines Objekt des gesellschaftlichen Prozesses.

Diese Vorstellungen drangen in den fünfziger Jahren auch in die Vierte Internationale ein. Michel Pablo und Ernest Mandel, der spätere Führer des Vereinigten Sekretariats, unterzogen ihr Programm einer grundlegenden Revision: Der Übergang zum Sozialismus sollte nicht mehr durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse erfolgen, sondern vermittels einer »Selbst­reform« der bürokratischen Apparate unter dem Druck objektiver Ereignisse. Als Konsequenz wurden die meisten Sektionen der Vierten Internationale in Anhängsel der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien verwandelt oder vollständig in diesen aufgelöst. Nur das Internationale Komitee, das 1953 als Antwort auf den pablistischen Revisionismus gegründet wurde, beharrte auf der Gültigkeit des Programms der Vierten Internationale.

Heute steht außer Zweifel, dass Trotzki und das Internationale Komitee viel weitsichtiger waren, als ihre pablistischen Kritiker. Nicht eine der Bewegungen, Parteien oder Persönlichkeiten, auf die diese ihre Hoffnungen setzten, hat ihre Erwartungen erfüllt. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, China zu frühkapitalistischen Ausbeutungsmethoden zurückgekehrt und in den fortgeschrittenen Industrieländern erweisen sich die aufgeblähten reformistischen Apparate machtlos gegenüber einem pausenlosen Sozial- und Arbeitsplatzabbau.

Letztlich war der pablistische Revisionismus nichts weiter als eine oberflächliche Anpassung an die besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit: ein Kniefall vor der Machtfülle der Moskauer Bürokratie, die ihren Herrschaftsbereich auf ganz Osteuropa ausdehnte, vor der Sozialdemokratie, die wieder an Einfluss gewann, und vor den bürgerlichen Bewegungen, die in den Kolonien an die Macht drängten. Der Pablismus folgerte aus ihrem Erstarken, dass sie wieder eine historisch fortschrittliche Rolle spielten. In Wirklichkeit verdankten sie ihren gewachsenen Einfluss allein dem Umstand, dass die Arbeiterklasse ohne revolutionäre Führung war, und dass sie selbst jede revolutionäre Initiative erdrosselten. Der Nachkriegsboom erleichterte ihnen diese Aufgabe. Nach dreißig Jahren ununterbrochener Erschütterungen hatte sich die Weltwirtschaft nach Kriegsende beruhigt und ein rasches Wachstumstempo eingeschlagen, das eine Reihe sozialer Zugeständnisse ermöglichte. Vom Standpunkt der reformistischen Bürokratien waren diese Reformen kein Schritt zum Sozialismus, sondern ein Mittel, die Klassengegensätze zu entschärfen und selbst enger mit Staat und Kapital zu verschmelzen. Heute betrachten sie alle früheren Reformen als Hindernis im globalen Wettbewerb und betreiben aktiv ihre Beseitigung.

Auch in Osteuropa spielte der Stalinismus nicht jene fortschrittliche Rolle, die ihm Deutscher, Pablo und Mandel zuschrieben. Er erstickte systematisch jede unabhängige politische Regung von unten und schlug die Arbeiteraufstände in der DDR, Ungarn und Polen blutig nieder. Der Schaden, den er damit dem sozialistischen Bewusstsein der Arbeiterklasse zufügte, wog historisch weit schwerer, als die Verstaatlichungen und vorübergehenden wirtschaftlichen Erfolge, die den Pablisten so imponierten. Nicht einer jener »fortschrittlichen« Vertreter der Bürokratie, für die sie sich begeisterten,6 ist den Hoffnungen gerecht geworden, die sie in ihn setzten. Stattdessen hat die Bürokratie selbst die von der Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsformen umgestoßen und das Land in den Kapitalismus zurückgeworfen, wie Trotzki dies vorausgesagt hatte. »Die politische Prognose«, heißt es im Übergangsprogramm, »stellt sich als Alternative: Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.«7 Der Rückfall in unsägliche Armut und Barbarei, der das heutige Russland kennzeichnet, ist der Preis, den die sowjetische Arbeiterklasse für die ungelöste Krise der revolutionären Führung bezahlt.

In China ist es nicht anders. Maos Bauernarmeen waren keine tragfähige Alternative zu einer revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse, sondern eine Brutstätte für eine neue bürgerliche Klasse. Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Machtübernahme werden die chinesischen Arbeiter ebenso brutal ausgebeutet wie zur Zeit der Kolonialherrschaft. Die internationalen Konzerne stehen Schlange, um am Profitsegen teilzuhaben. Und Maos Erben garantieren ihnen ihr Eigentum und sorgen für Ordnung.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Ende der Sowjetunion oder die Ereignisse in China als Beweis für das Scheitern jeder sozialistischen Perspektive anzuführen. In Wirklichkeit beweisen sie nur die Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem einzelnen Land und mit anderen Methoden als durch eine unabhängige Bewegung des Proletariats aufzubauen. Die trotzkistische Linke Opposition bekämpfte seit 1924 die stalinsche Theorie vom »Sozialismus in einem Land«. Nun haben die Herrscher in Moskau und Peking auf ihre Weise die Vorherrschaft der Weltwirtschaft über die nationale Wirtschaft anerkannt: Sie haben ihre Länder dem internationalen Kapital geöffnet. Sie sahen sich zu diesem Schritt gezwungen, weil die transnationalen Konzerne, die das moderne Wirtschaftsleben beherrschen, mit ihren rationellen Produktionsmethoden alle nationalen Barrieren durchbrechen und jeden Winkel der Welt ihrem Diktat unterwerfen. Die einzige Alternative wäre eine Rückkehr zum Programm des internationalen Sozialismus gewesen, doch ein solcher Schritt schloss sich für die Bürokratie von vorneherein aus, hätte er doch ihre privilegierte Stellung untergraben.

In derselben Weise haben sich auch die Führer der nationalen Befreiungsbewegungen an die Realität der globalen Wirtschaft angepasst. Auch sie gehörten einst – von Mandela über Arafat bis hin zu den Sandinistas – zu den Helden des Pablismus. Nicht einer von ihnen behauptet heute noch, die nationale Befreiung sei gleichbedeutend mit der Befreiung von imperialistischer Vorherrschaft, der Hebung des Lebensniveaus der Massen oder sei ein Schritt zum Sozialismus. Stattdessen buhlen sie um die Gunst der Großmächte und bieten den transnationalen Konzernen die »eigenen« Arbeiter als billige Ausbeutungsobjekte an.

Der Nachkriegsboom war lediglich eine Pause in der Todeskrise des Kapitalismus, ermöglicht durch die Niederlagen des Proletariats. Das hat auch den reformistischen, stalinistischen und bürgerlich-nationalistischen Organisationen, deren politischen Bankrott Trotzki deutlicher als jeder andere verstand, eine Atempause verschafft. Doch der Nachkriegsboom hat auch alle inneren Widersprüche des Kapitalismus in gesteigerter Form reproduziert und schließlich all jene politischen Illusionen gesprengt, die der pablistische Revisionismus am klarsten formulierte. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung hat eine neue Ära der Vierten Internationale eingeleitet.

Nie zuvor war die menschliche Gesellschaft so tief gespalten wie heute. Als Marx und Engels vor 150 Jahren das Kommunistische Manifest verfassten, analysierten sie die Tendenz des Kapitalismus, immer breitere Schichten in Armut und Elend zu stürzen. Diese »Verelendungstheorie« ist seither immer wieder verspottet worden. Doch selbst ihre Autoren hätten sich wohl kaum vorstellen können, dass eines Tages die 358 reichsten Individuen auf der Welt über ebenso viel Eigentum verfügen würden, wie die 2,5 Milliarden ärmsten, wie dies heute der Fall ist.8 Die Kluft zwischen Arm und Reich zieht sich quer durch alle Kontinente und Länder. Millionen von Werktätigen sind Tag für Tag einem Trommelfeuer von Angriffen auf ihre Lebensgrundlagen ausgesetzt und geraten in einen Teufelskreis von Lohnsenkungen, Arbeitslosigkeit und Armut. Aber nicht eine der offiziellen »Arbeiter-«parteien hat eine Antwort auf diese Krise.

Darin besteht die außerordentliche Bedeutung des Übergangsprogramms für die heutige Zeit. Es bringt seiner ganzen Einstellung nach das Gegenteil jener, vom Pablismus zur Perfektion getriebenen, feigen Haltung zum Ausdruck, die stets nur erklären kann, warum die Dinge nicht anders sein können, als sie sind. Die Arbeiterklasse hat Niederlagen erlitten, das Debakel des Stalinismus und der Sozialdemokratie ist mit sozialen Rückschlägen verbunden? Zweifellos. Aber die Schwächung der bürokratischen Apparate, die jahrzehntelang jede unabhängige Initiative erstickten, öffnet auch den Weg für eine neue revolutionäre Offensive; und die Verschärfung der sozialen Krise treibt die Massen in diese Richtung. Gerade weil die gesellschaftlichen Gegensätze so scharf sind, kann eine entschlossene Partei, die sich ihrer Aufgaben bewusst ist, das Vertrauen der Arbeiter gewinnen, selbst wenn sie heute noch klein ist. Von sich aus, spontan – das haben alle Erfahrungen dieses Jahrhunderts gezeigt – kann die Arbeiterklasse dagegen den Weg zum Sozialismus nicht finden.

Das Übergangsprogramm trägt den Titel »Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale« und dient, wie sein ursprünglicher Untertitel sagt, der »Mobilisierung der Massen durch Übergangsforderungen zur Vorbereitung der Machteroberung«. Es enthält weder eine ausführliche Analyse der kapitalistischen Gesellschaft noch ein Programm der eigentlichen sozialistischen Revolution. In dieser Hinsicht stützt sich die Vierte Internationale auf die reichhaltige Tradition des Kommunistischen Manifests, der Kommunistischen Internationale unter Lenin und der Linken Opposition.

Obwohl das Übergangsprogramm fast sechzig Jahre alt ist, behalten seine wesentlichen theoretischen, strategischen und programmatischen Grundgedanken ihre volle Bedeutung. Selbst die einzelnen Forderungen, die Trotzki vorschlug, sind nach wie vor unerlässliche praktische Hebel für die Mobilisierung der Massen. Sie sollen »den Massen im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zwischen ihren augenblicklichen Forderungen und dem sozialistischen Programm der Revolution zu finden.«9 Ihre Aufgabe besteht darin, die Kluft zwischen der Reife der gesellschaftlichen Krise und der Unreife des Bewusstseins der proletarischen Massen zu schließen. Ihr Ausgangspunkt ist die objektive Lage und nicht das Bewusstsein der Arbeiter, wie Trotzki in den Diskussionen über das Programm betonte. »Es muss die Gesellschaft so widerspiegeln, wie sie ist, und nicht die Rückständigkeit der Arbeiterklasse. Es ist ein Instrument, die Rückständigkeit zu überwinden und zu besiegen.«10

Der Pablismus hat auch in dieser Frage versucht, das Programm im Sinne des Opportunismus zu revidieren und in ein Mittel der Anpassung an das vorherrschende Bewusstsein zu verwandeln. Bezeichnend ist die Einleitung, die George Novack für die 1973 bei Pathfinder erschienene amerikanische Ausgabe geschrieben hat. Er verglich das Programm mit einem »vielseitig verwendbaren Werkzeugkasten«, den man »wie ein guter Handwerker« benutzen könne: »Wenn eine bestimmte Aufgabe erledigt werden muss, schauen wir im Kasten nach, welches Werkzeug sich am besten dafür eignet. Wir nehmen uns aus dem Übergangsprogramm, was immer zeitgemäß und angemessen ist für den Entwicklungsstand der Massenbewegung, das Bewusstsein der Massen und ihre Bereitschaft, auf der Grundlage des einen oder anderen Elements des Programms zu handeln. Und wenn wir kein passendes darin finden, müssen wir vielleicht eins oder zwei erfinden.«11

Auf diese Weise lässt sich mit zusammenhangslosen Bruchstücken des Programms jedes opportunistische Manöver rechtfertigen. Aber gerade darin besteht nicht sein Sinn und Zweck. Übergangsforderungen dürfen niemals im Gegensatz zu der sozialistischen Perspektive stehen, auf der sie beruhen.

Für diese Ausgabe des Mehring Verlags wurde nicht nur die deutsche Übersetzung gestützt auf die ursprünglichen Ausgaben gründlich überarbeitet, sondern es wurden auch erstmals die Diskussionen vollständig übersetzt, die Trotzki in seinem mexikanischen Exil mit Führern der amerikanischen Sektion und anderen Besuchern über Gründung und Programm der Vierten Internationale führte. Außerdem wurden einige Artikel und Briefe eingefügt, die Trotzki in dieser Zeit zum selben Thema schrieb. Sie werden durch ausführliche Anmerkungen und ein detailliertes Organisations- und Personenverzeichnis ergänzt, die es dem Leser erlauben, sich in die historischen Zusammenhänge einzuarbeiten.

Die Abschriften der Diskussionen sind aus mehreren Gründen lesenswert: Erstens geben sie einen Einblick in Trotzkis reichen Erfahrungsschatz in der Arbeiterbewegung. Es ist unmöglich, sie durchzulesen, ohne auf zahlreiche Parallelen zu brennenden Fragen von heute zu stoßen. Zweitens zeigen sie anschaulich, wie das Übergangsprogramm in engem Zusammenhang mit den Aufgaben und Problemen der Bewegung entwickelt wurde. Mit den Führern der amerikanischen SWP verfügte Trotzki über Gesprächspartner, die jahrzehntelang Erfahrungen in der amerikanischen Arbeiterbewegung gesammelt hatten. Und drittens wird deutlich, dass die Vierte Internationale in einer ständigen Abgrenzung von zentristischen Strömungen gegründet wurde, deren Argumente jenen der heutigen Zentristen auffallend gleichen.

Den Abschluss dieses Bandes bildet das »Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution«, das eine Notkonferenz der Vierten Internationale im Mai 1940 in New York verabschiedete. Es ist das letzte von Trotzki selbst verfasste programmatische Dokument der Vierten Internationale und enthält eine Einschätzung der grundlegenden politischen Probleme unserer Epoche.

Essen, Juli 1997Peter Schwarz

1 Leo Trotzki, Tagebuch im Exil, Köln 1979, S. 73–74.

2 Ebd., S. 11.

3 Isaac Deutscher, Trotzki, Band 3, Stuttgart 1963, S. 473.

4 Siehe ab Seite 85 in dieser Ausgabe.

5 Deutscher, Trotzki, ebd., S. 473–474; 477; 479–481.

6 Mandel hatte noch 1989, zwei Jahre bevor Jelzin die Auflösung der Sowjetunion verfügte, diesen zum Vertreter der »Linken« in der heutigen UdSSR ernannt: »Für die Linke steht Boris Jelzin, der ihr Programm und ihre Sorgen auf der 19. Parteikonferenz der KPdSU darlegte.« (Ernest Mandel, Das Gorbatschow Experiment, Frankfurt am Main 1989, S. 256).

7 Siehe Seite 124 in dieser Ausgabe.

8 Die Zahl stammt aus einem offiziellen Bericht der Vereinten Nationen. Ein jüngerer Bericht gibt an, dass das Privateinkommen der zehn reichsten Individuen das Nationaleinkommen der 48 ärmsten Länder um das Eineinhalbfache übersteigt.

9 Siehe Seite 88 in dieser Ausgabe.

10 Siehe Seite 143 in dieser Ausgabe.

11 Leo Trotzki, The Transitional Program for Socialist Revolution, New York 1973, S. 66.

TEIL I
Diskussion über die Aufgaben
der Gründungskonferenz

Im Frühjahr 1938 führte Leo Trotzki Diskussionen mit drei führenden Vertretern der amerikanischen Socialist Workers Party: James P. Cannon, Max Shachtman und Vincent R. Dunne.1 Auch Diego Rivera, Cannons Lebensgefährtin Rose Karsner und – als Stenografin – Rae Spiegel waren bei den Gesprächen anwesend. Sie fanden in Trotzkis Haus in Coyoacan (Mexiko) statt und hatten die bevorstehende Gründung der Vierten Internationale sowie Fragen der politischen Orientierung der SWP zum Thema. Die stenografische Mitschrift wurde nicht redigiert und erst nach Trotzkis Tod veröffentlicht. Ihre Authentizität wurde aber von keinem der Teilnehmer bestritten. Sie ist für diese Ausgabe aus dem Englischen übersetzt worden. Die im Original aus Sicherheitsgründen verwendeten Pseudonyme wurden durch die richtigen Namen ersetzt.

1 Angaben zu allen in diesem Buch erwähnten Personen finden sich im Personenregister. Sie wurden deshalb in den Fußnoten nicht berücksichtigt.