
Von Gabriele und Jürgen Jost bereits bei BoD erschienen:
Meeresrauschen für Lara
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www.gabriele-und-juergen-jost.de

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© 2010 Gabriele und Jürgen Jost
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-8547-7
Da sind sie nun im Begriff, sich zu formieren – die Taunus-Ermittler. Mancher wird sich sagen: Bitte nicht noch eine neue Krimi Serie – denn genau das soll es einmal werden –, aber wir hoffen, dass Sie, lieber Krimi-Fan, das anders sehen.
Zu gleichen Teilen inspiriert von Jacques Berndorf und seinen Siggi-Baumeister-Romanen, denen er die Eifel als Handlungsort zugedacht hat, und Andreas Franz, dessen Romane im Rhein-Main-Gebiet spielen, haben wir genau wie diese beiden unser eigenes Wohngebiet, in diesem Fall den Vordertaunus, zum zentralen Handlungsschauplatz gemacht.
Wir haben jedoch keinem Journalisten und auch keinem Kriminalbeamten, sondern einem Detektiv-Duo (oder -Trio) die Hauptrolle zugedacht. Unter den Schauplätzen wollen wir zwar Kelkheim, dem Rhein-Main-Gebiet und der Taunusregion die uneingeschränkte Hauptrolle zugestehen, werden aber in Zukunft – und auch schon in diesem Band – immer wieder einmal Abstecher in die nähere (und weitere) Umgebung vornehmen.
Außerdem möchten wir an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir, wenn wir Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter oder Behörden in unsere Handlung einbauen, unserer Fantasie freien Lauf lassen. Schließlich sollen unsere Romane keine Dokumentation der Arbeitsweise deutscher Polizeiund Justizbehörden sein. Sollten also Dienstverhältnisse, Zuständigkeiten oder Handlungsabläufe nicht der Realität entsprechend wiedergegeben sein, so ist das, der Dramaturgie zuliebe, durchaus beabsichtigt.
Wir hoffen, dass Ihnen unsere Krimi-Reihe gefällt, und wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen,
Gabriele und Jürgen Jost
Ob das alles richtig ist, was ich hier mache?, dachte Stefan Weimershaus, als er mit seinem neun Jahre alten Opel Astra Caravan am Autobahndreieck Kassel auf die A 7 einschwenkte. Sie würde ihn auf seinem Weg ins Rhein-Main-Gebiet nun ein ganzes Stück begleiten.
»Du kannst es mir nicht sagen«, sprach er zu seinem Auto, und gerade als ob es ihm Antwort geben wollte, begann in diesem Moment irgendein Teil der Karosserie zu klappern.
Geh mir bloß nicht kaputt, so alt bist du ja auch wieder nicht, dachte er und begann sich einmal mehr auf Verena zu freuen, die ihn am Ziel seiner Reise in Kelkheim erwartete.
Nun ja, Reise war wohl nicht ganz der richtige Ausdruck für seine Fahrt, denn er hatte seine Lager in Münster endgültig abgebrochen – der Liebe wegen. Und das, obwohl er dort ein herrliches Leben hätte führen können.
Das alles ging ihm durch den Kopf, während er mit hundertdreißig über die Autobahn rollte. Er ließ vor seinem geistigen Auge sein inzwischen fünfundzwanzig Jahre währendes Leben Revue passieren, das nahezu achtzehn Jahre lang in geordneten Bahnen verlaufen war. Als Sohn eines wohlhabenden Bäckermeisters war er im Münsteraner Stadtteil St. Mauritz geboren und aufgewachsen. Er war immer ein guter Schüler gewesen, und obwohl er ein blitzsauberes Abi hingelegt hatte, wusste er doch, dass er nicht, wie fast alle seiner Klassenkameraden, studieren würde. Die Welt der Universitäten, dessen war er sich sicher, war einfach nicht die seine. Damit hatte er die Eltern, die Inhaber einer kleinen Bäckereikette mit sieben Filialen waren, zum ersten Mal im Leben so richtig schockiert. Zum zweiten Mal geschah dies nur wenige Wochen später, als er sich entschloss, nicht zur Bundeswehr zu gehen, sondern den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Damit wurde er der erste Zivi in seiner großen Verwandtschaft. Dennoch blieb das Verhältnis zu seinen Eltern, die diese Entscheidung nie verstanden, recht gut, obwohl sie auch sonst in Sachen politischer Weltanschauung Lichtjahre trennten. Besonders Stefans Vater bewies wahre Nehmerqualitäten, denn kaum aus dem Zivildienst entlassen, offerierte ihm sein Sohn, dass er zwar einen handwerklichen Beruf erlernen, aber keinesfalls ins elterliche Geschäft einsteigen würde. Er wolle lieber etwas Eigenes auf die Beine stellen. Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Dirk hatte schon als Zwölfjähriger liebend gern im Teig herumgematscht und konnte inzwischen ohne Anleitung Brötchen backen, was Stefan beim besten Willen nicht hinbekam.
So weit war Stefan in seinen Gedanken gekommen, als er merkte, dass er nicht nur müde wurde, sondern auch Hunger bekam. Deshalb verließ er an der Ausfahrt Kirchheim die Autobahn und fuhr, da es fast schon Mittag war, in den nächsten Ort hinein. Direkt an der Bundesstraße fand er ein gemütliches kleines Gasthaus und setzte sich etwas abseits von den Einheimischen, die am Stammtisch saßen und lautstark palaverten, ans Fenster.
Er bestellte eine hessische Schlachtplatte, dazu Kaffee und ein Glas Wasser, und sah hinaus auf die sanft gewellte Hügellandschaft Nordhessens, die er so liebte. Da kamen auch schon seine Getränke.
Kaum hatte er den ersten Schluck getrunken, da schweiften seine Gedanken erneut in die Vergangenheit. Er hatte also statt den Beruf des Bäckers den des Schreiners erlernt und die Ausbildung mit einer vorzeitigen Prüfung in allen Fächern mit »sehr gut« abgeschlossen. Das machte es seinen Eltern etwas leichter, sich damit abzufinden, dass er den elterlichen Betrieb nicht übernehmen und schon gar nicht Arzt oder Rechtsanwalt werden wollte. Der Hausfrieden blieb gewahrt, und er konnte im elterlichen Domizil wohnen bleiben. Das war auch gut so, denn seine berufliche Karriere kam trotz des glänzenden Abschlusses nur schwer in die Gänge. Er hatte nach der Ausbildung nur einen Teilzeitjob in einem Möbelhaus, danach eine befristete Stelle in einer Holzhandlung bekommen. Inzwischen war er bereits mehr als ein Jahr arbeitslos.
»Ja, damals habe ich Verena kennengelernt«, murmelte Stefan vor sich hin, als die Kellnerin das Essen auftischte.
»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte sie, aber Stefan, der in ganz anderen Sphären schwebte, bekam davon nichts mit und sah weiter verträumt aus dem Fenster.
Die Kellnerin schüttelte grinsend den Kopf und ging zum Tresen zurück.
Stefan, der immer mehr Sehnsucht nach seiner Freundin bekam, schlang das Essen, auf das er sich so gefreut hatte, hinunter, legte den Rechnungsbetrag mitsamt einem üppigen Trinkgeld kurzerhand auf den Tisch und fuhr auf dem schnellsten Weg auf die Autobahn zurück. Eigentlich hatte er vorgehabt, über kleinere Landstraßen in den Taunus zu fahren, aber seit Verena wieder verstärkt in seinem Kopf herumgeisterte, dauerte ihm das einfach zu lange.
Kaum hatte er sich wieder in den schnell dahinfließenden Autostrom eingereiht, musste er daran denken, wie er sie kennengelernt hatte. Es war im letzten Jahr zu Ostern gewesen, da hatte Verena, die gerade in Münster eine Freundin besuchte, im wahrsten Sinne des Wortes seinen Weg gekreuzt. Mitten in der Fußgängerzone waren sie, beide ganz in Gedanken, zusammengeprallt. Im ersten Moment hatten sie sich gegenseitig mit Schimpfkanonaden überzogen, aber dann hatten beide unvermittelt lachen müssen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, waren sie einen Kaffee trinken gegangen und hatten dann bis zum Abend zusammengesessen. Als sie sich trennten, war beiden klar: Es war Liebe auf den ersten Blick.
Von da an hatte Verena während ihres Besuchs in Münster nur noch Augen für Stefan. Ihre Freundin Kathrin, bei der sie wohnte, spielte, wenn überhaupt, nur noch die zweite Geige. Die war anfangs sauer, bemerkte aber schnell, was mit Verena los war, und ermutigte sie dann sogar in ihrer gewiss vorschnellen Idee, im Sommer mit Stefan zu verreisen. So buchten beide an Verenas letztem Tag in Münster eine Flugreise nach Rhodos. Obwohl sie sich bis zum Abflugtermin nicht einmal drei Monate kannten und nicht mehr als drei Wochen miteinander verbracht hatten, wurde der Urlaub ein voller Erfolg.
Stefan konnte sich nur mit Mühe aus seinen Erinnerungen losreißen, aber der Verkehr am Bad Homburger Kreuz wurde dichter und zäher, sodass er seine ganze Aufmerksamkeit der Straße widmen musste. Keine Sekunde zu früh, denn nur so bemerkte er, dass die Schilderbrücken wohl schon eine ganze Weile Tempo hundert vorschrieben, und konnte der Radarfalle am Straßenrand gerade noch entgehen.
Das wäre der dritte dicke Strafzettel in diesem Jahr gewesen … Erleichtert schwenkte er auf die A 661 in Richtung Taunus ein. Er musste grinsen, als er daran dachte, dass sein Vater ihm im vergangenen Herbst vorgeschlagen hatte, sich doch auch mal in anderen Gegenden um Arbeit zu bemühen. Genau so war es dann auch gekommen. Nur dass sein alter Herr dabei mehr an das Ruhrgebiet gedacht hatte, während er das Rhein-Main-Gebiet anvisierte, nachdem er die Weihnachtsfeiertage bei Verena in Kelkheim verbracht hatte. Eine Fernbeziehung hielten sie beide auf Dauer nicht für das Wahre. Denn Verena hatte einen guten Job beim Chemiewerk in Höchst – also war es Stefan, der mobil werden musste.
Mit einem Job hatte es zum Glück auch ziemlich schnell geklappt. Eine Holzhandlung in Frankfurt-Unterliederbach suchte zum ersten Juni einen Mitarbeiter, und die Stellenausschreibung las sich so, als werde ein wahres Allround-Genie gebraucht: Er sollte genauso gut verkaufen wie auch Gabelstapler und Lieferwagen fahren können. Also genau das Richtige für Stefan.
Zwischen Oberursel und Kronberg verjüngte sich die Autobahn zur Bundesstraße und erklomm, kurz nach einem Tunnel, in einem kühnen Linksschwung die ersten Taunushöhen, und Stefan schwamm nun gemächlich in einer Autoschlange mit. Nicht mehr lange, dann würde er seine Freundin das erste Mal seit über einem Monat wiedersehen.
Ja, einen Job hatte er schnell gefunden. Nur mit einer bezahlbaren Wohnung war das am Rande des Rhein-Main-Gebietes gar nicht so einfach. Da sein anfängliches Nettogehalt die Tausend-Euro-Marke wohl nur unwesentlich übersteigen würde und er zu stolz war, um Hilfe von seinen Eltern anzunehmen, musste die Wohnung preiswert, um nicht zu sagen spottbillig sein. Zu Verena konnte er unmöglich ziehen, denn sie wohnte in einem Hochhaus unweit des Kelkheimer Bahnhofs mit einer Freundin zusammen in einer WG – zwar in einer Dreizimmerwohnung, die aber sehr knapp geschnitten und für drei Personen auf Dauer einfach zu klein war. Nun ja, vermutlich war das auch besser so. Schließlich sollte man nichts überstürzen. Und letztlich hatte dann Verena selbst sein Wohnungsproblem gelöst. Ihr Onkel lebte ganz allein in einem kleinen Haus an der Hauptstraße von Kelkheim. Er bewohnte jedoch nur das Erdgeschoss, das obere Stockwerk stand seit Jahren leer. Zwar war die Wohnung mit den zwei verwinkelten Zimmern unterm Dach, dem schmalen Bad und der winzigen Küche alles andere als geräumig, dafür wollte Verenas Onkel inklusive aller Umlagen nur zweihundert Euro Miete. Als Übergangslösung sollte das also gehen. Vorausgesetzt, es ging nichts schief, denn Peter Stettner, ein frühpensionierter Polizeibeamter, war, vorsichtig ausgedrückt, etwas schwierig, seit sein Leben aus den Fugen geraten war. Verena nannte ihn starrsinnig, verbittert und zeitweise depressiv. Stefan, so sagte sie voraus, würde sich gegenüber dem Eigenbrötler sehr zurücknehmen müssen.
Inzwischen hatte er Königstein mit seinem riesigen Kreisverkehr hinter sich gelassen und rollte auf der Gefällstrecke, an der Johanniswald-Siedlung vorbei, Kelkheim entgegen. Um fünfzehn Uhr dreißig war er mit Verena am Bahnhof in Kelkheim, der sich seit einigen Jahren großspurig Kelkheim-Mitte nannte, verabredet.
Beinahe wäre er an der Abzweigung nach Kelkheim vorbeigefahren, so aufgeregt war er. Aber er schaffte es gerade noch und fuhr über den Gagernring durch Kelkheim-Hornau. Am Rathaus bog er zum Bahnhof hin ab und kam genau eine Minute vor halb vier auf dem kleinen Parkplatz gegenüber dem ehemaligen Bahnhofsgebäude, in dem schon seit Jahren ein Restaurant untergebracht war, zum Stehen.
Gerade noch rechtzeitig, dachte er.
Im nächsten Augenblick sah er auch schon seine Freundin, wie sie fröhlich winkend vom Bahnübergang auf ihn zugerannt kam. Ihr langes blondes Haar wehte hinter ihr her. Stefan schlug das Herz bis zum Hals beim Anblick ihres hautengen T-Shirts und den nicht minder engen Jeans, die ihre schlanke und dennoch wohlproportionierte Figur umschmiegten. Sie war eine wahre Augenweide.
Was diese Super-Frau nur an mir findet? So viel Glück habe ich doch gar nicht verdient, dachte Stefan und fühlte sich in diesem Augenblick alles andere als attraktiv, obwohl auch er sich beileibe nicht zu verstecken brauchte. Er war zwar nicht ganz so schlank wie Verena, aber ihn als füllig zu bezeichnen wäre meilenweit übertrieben gewesen.
Da war Verena auch schon bei ihm: »Hallo Stefan, schön, dass du endlich da bist!«
Dann fiel sie ihm um den Hals, und man konnte meinen, sie wollte ihn nicht küssen, sondern auffressen. Dabei musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, denn sie war einen guten Kopf kleiner als Stefan.
»Ich freu mich, endlich wieder mit dir zusammen zu sein«, sagte Stefan, als sie für einen Moment von ihm abließ, und zeigte grinsend auf seine Habseligkeiten, die problemlos auf der Ladefläche seines Kombis Platz gefunden hatten.
»Ist es weit bis zu deinem Onkel? Wollen wir hinlaufen? Ich könnte nach der langen Fahrt einen Spaziergang gebrauchen.«
»Können wir machen. Aber ich meine, es ist bequemer, wir nehmen alles mit, sonst musst du später noch mal herlaufen und die Sachen abholen. Außerdem wurde hier in der letzten Zeit öfter mal ein Auto aufgebrochen.«
»Wie, hier im Dorf?«
»Dorf ist gut. Kelkheim hat immerhin fast dreißigtausend Einwohner.«
»Na ja, gegen Münster …«
»Mach dich wegen eurer zweihundertfünfzigtausend Leutchen nicht so wichtig«, meinte Verena lachend und knuffte ihren Freund kräftig in die Seite.
»So, jetzt kann ich nicht mehr laufen, wir müssen fahren. Zeigst du mir den Weg?«
»Ja, klar, lass mich einsteigen.«
Stefan hielt seiner Freundin ganz gentlemanlike die Wagentür auf. Danach setzte er sich ans Steuer, schnallte sich an und startete den Motor.
Etwa zur gleichen Zeit, als Stefan Kelkheim erreicht hatte, ließ Peter Stettner sich schwer in einen Sessel seines düsteren Wohnzimmers fallen.
»Du meine Güte«, murmelte er, »ich muss total verrückt sein. Ich hätte mich nie auf Verenas Bitte einlassen sollen. Selbst wenn sie die einzige Verwandte ist, die noch mit mir spricht.«
Dann nahm er die Kaffeekanne, schenkte sich eine Tasse extrastarken Kaffee ein und dachte: Wer weiß, was für ein Mensch dieser Stefan ist. Der wird blöd gucken, wenn er merkt, bei was für einer kaputten Type er da einzieht. Na ja, wenn er wüsste, wie übel mir das Leben mitgespielt hat … Aber was soll’s. Jetzt hab ich A gesagt, jetzt muss ich auch B sagen. Schließlich zieht Verenas Freund ihretwegen aus Münster hierher – aber lassen wir das. Viel wichtiger wäre es, mich um meine Post zu kümmern … Da ist dieser Brief aus Düsseldorf … Aber nicht mal dazu kann ich mich aufraffen. Ich habe keine Lust auf noch mehr Negativmeldungen.
Er stand mühsam auf, und wenn ihn Stefan so schwerfällig in die Küche hinüberschlurfen gesehen hätte, wäre er nicht auf die Idee gekommen, dass Peter Stettner noch nicht einmal fünfzig Jahre alt war.
Die Bürde der letzten Jahre lastete so schwer auf ihm, dass er an manchen Tagen kaum noch gerade gehen konnte. Auch war er in den letzten Jahren dick, um nicht zu sagen fett geworden, woran nicht zuletzt der viele Alkohol schuld war. Aber seit man ihn zuerst zur Schutzpolizei zurückund später von einem Tag auf den anderen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt hatte, lief bei ihm gar nichts mehr zusammen.
Wenn nur Michaela damals nicht gegangen wäre, dachte er. Dann hätte mein Leben wohl eine andere Wendung genommen.
Er nahm den Brief seines früheren Berufskollegen vom Küchentisch, wischte sich verstohlen einige Tränen aus den Augenwinkeln und schlurfte noch schwerfälliger zu seinem Sessel zurück. Er öffnete den Brief, von dem er sich nichts versprach, und begann zu lesen:
Lieber Peter!
Es war schön, mal wieder etwas von Dir zu hören, auch wenn Du nicht mehr bei unserer Truppe bist.
Dir hat es bestimmt zu lange gedauert, bis Du von mir etwas hörst, aber ich habe Dir in den letzten Monaten nicht geschrieben und auch nicht angerufen, weil es in Deiner Sache nichts Neues zu berichten gibt. Von Michaela fehlt weiterhin jede Spur. Niemand in ihrer Heimatstadt hat sie gesehen oder nur von ihr gehört wie es scheint.
Auch wenn mein Chef schon ziemlich dumm aus der Wäsche guckt; ich bleib dran. Das bin ich Dir einfach schuldig. Schließlich war es damals Dein Tipp gewesen, mit dem ich Kretschmer dingfest machen konnte und dadurch zum stellvertretenden Leiter des Kommissariats wurde.
Ich melde mich, sobald sich etwas Neues ergibt. Tschüss, bis dann,
Dein Harald
Mist, dachte Peter Stettner, wieder nichts. Seit Jahren war ihm Harald Berger bei der Suche nach seiner Frau ein unermüdlicher Helfer. Er fühlte sich in Peters Schuld, seit er dank dessen Spürsinn besagtem Kretschmer, einem Serienvergewaltiger, auf die Spur gekommen war. Doch bislang waren all seine Bemühungen nutzlos geblieben. Peter legte den Brief zur Seite. Jetzt war sie schon seit mehr als sechs Jahren weg, und er hatte noch immer keine Spur von ihr gefunden. Verstehen konnte er es schon gar nicht, denn dieses Mal war sie freiwillig verschwunden. Nicht so wie damals, vor zwanzig Jahren.
Nun konnte Peter die Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte minutenlang still vor sich hin, bis es an der Haustür läutete. Ihm war nicht danach Besuch zu empfangen – und schon gar nicht einen neuen Mitbewohner einziehen zu lassen. Er konnte aber unmöglich Verena und ihrem Freund den Zutritt verweigern.
Deshalb erhob er sich langsam, schlurfte zur Haustür und öffnete.
»Guten Tag, Verena, guten Tag, Herr Weimershaus«, sagte Peter und reichte den beiden die Hand.
»Hallo Onkel Peter«, grüßte Verena zurück und fragte sofort: »Geht’s dir nicht gut?«
»Oh doch, es geht schon«, log Peter, aber man merkte ihm deutlich an, dass er am liebsten allein gewesen wäre.
»Onkel Peter, es macht mir nichts aus, Stefan zu helfen, seine Sachen ins Haus zu tragen«, erklärte seine Nichte deshalb schnell und fügte fürsorglich hinzu: »Leg dich doch ein bisschen hin; ich zeige Stefan alles.«
»Verena, dir kann man nichts vormachen. Mir geht es wirklich dreckig, ich muss heute tatsächlich meine Ruhe haben.«
»Ach, da wäre noch etwas. Kann Stefan sein Auto in den Hof fahren?«
»Klar doch, ich gehe schnell raus und fahr mein Auto ein Stück zur Seite; dann kann er seins daneben abstellen.«
»Ja, danke, Herr Stettner«, sagte Stefan, und Peter ging hinaus.
Als er ein paar Minuten später wieder hereinkam, verschwand er wortlos im Wohnzimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Stefan und Verena gingen unterdessen mit den ersten beiden Koffern nach oben. Dort stellte Verena verwundert fest, dass Peter in der letzten Woche die Zimmer gründlich geputzt haben musste. Und das, wo er sich doch vorher schon seit Jahren geweigert hatte, sie überhaupt zu betreten.
»Das hätt ich jetzt nicht für möglich gehalten«, sagte Verena, und Stefan fragte sie irritiert: »Wieso? Ist dein Onkel denn so krank?«
»Körperlich ist er kerngesund. Wenn man mal davon absieht, dass er beinahe einen Zentner zu viel mit sich rumschleppt. Aber seelisch sieht es bei ihm sehr viel schlechter aus.«
»Was hat er denn?«
»Stefan, lass, ich erzähl dir ein andermal davon. Sehr viel weiß ich allerdings auch nicht.«
»Okay, ich geb mich erst mal geschlagen. – Ich wusste ja gar nicht, dass die Zimmer möbliert sind! Dann hätte ich das alte Klappbett von meinen Eltern nicht mitnehmen brauchen.«
»Ich wusste ehrlich gesagt auch nicht, wie es hier oben aussieht. Obwohl ich meinen Onkel ziemlich oft besuche. Genau genommen sogar öfters als meine Eltern. Aber Onkel Peter hat im Moment mal wieder eine schlimme Phase. Er braucht meinen Zuspruch. Na ja, räumen wir schnell ein und dann …«
Verena ließ den Satz unvollendet, aber Stefan hatte sie auch so verstanden. In Windeseile waren seine Siebensachen in der kleinen Wohnung verstaut, und anschließend wurde das Wiedersehen gefeiert. Dazu gehörte zwar auch eine Flasche Sekt, aber eine weitaus wichtigere Rolle spielte das Päckchen Kondome, das Stefan am Morgen kurz vor der Abfahrt aus Münster in einer Apotheke erstanden hatte …
Vier Tage nach seinem Einzug hatte Stefan seinen Vermieter noch immer kaum zu sehen bekommen. Offenbar hatte er aber die Talsohle seiner depressiven Phase inzwischen durchschritten. Zumindest machte er auf Stefan, wenn er ihn denn einmal zu Gesicht bekam, einen freundlicheren Eindruck als am Anfang.
Stefan hatte noch einige freie Tage, bis er die Stelle in der Holzhandlung antreten konnte. Eines frühen Nachmittags kam er die steile Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er wollte gerade das Haus verlassen, da fuhr er vor Schreck zusammen, denn Peter sprach ihn unvermittelt wie aus dem Hinterhalt an: »Na, Stefan, gehst du zu Verena?«
»Ja«, antwortete er knapp und drehte sich zu Peter herum. »Oder haben Sie was dagegen?« Es klang frecher als beabsichtigt.
»Jetzt lass doch mal das blöde ›Sie‹ weg«, meinte Peter, der die kleine Spitze nicht bemerkt zu haben schien, und verdrehte die Augen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Stefan, »aber mir geht das zu schnell. Im Moment ist mir noch das ›Sie‹ lieber.«
»Na, wenn du meinst«, sagte Peter kurz. Dann fragte er unzusammenhängend: »Glaubst du eigentlich an Gott?«
Was geht dich das an?, dachte Stefan zuerst ärgerlich, nahm sich dann aber zusammen. Schließlich war Peter Stettner nicht nur sein Vermieter, sondern auch der Onkel seiner Freundin.
»Das ist gar nicht so leicht zu beantworten«, sagte er.
Er wollte gerade zur Haustür hinausgehen, als sein Vermieter fragte: »Hast du noch ’nen Moment Zeit? Dann komm mit ins Wohnzimmer und trink eine Tasse Kaffee mit mir.«
Was ist denn jetzt los?, dachte Stefan. Wahrscheinlich hatte der Mann einfach Redebedarf. Er erinnerte sich dann aber daran, was Verena ihm erst am Vorabend verraten hatte: Bei Peter Stettners Frühpensionierung sollte nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein. Er war quasi auf Weisung von »ganz oben« aus dem Polizeidienst entfernt worden. Seitdem wurde ihr Onkel immer sonderbarer.
Nur deshalb sagte Stefan so bereitwillig: »Okay, ich bin ohnehin etwas früh dran«, und folgte Peter ins Wohnzimmer, obwohl er eigentlich lieber gegangen wäre.
Sie nahmen am Wohnzimmertisch Platz, auf dem schon Kaffee und Kuchen bereitstanden. Verenas Onkel hatte dieses Treffen also offenbar geplant.
Peter fing Stefans verwunderten Blick auf und sagte: »Ich dachte, es sei an der Zeit, dass wir, wenn wir schon unter einem Dach wohnen, auch mal ein paar private Worte wechseln.«
»Keine Frage«, musste Stefan zugeben, »aber Sie waren sich ja sehr sicher, dass ich gerade jetzt Zeit für Sie habe …« Er blickte bedeutungsvoll auf den gedeckten Tisch.
»Na, auch wenn ich nicht mehr bei der Kripo bin, kann ich noch eins und eins zusammenzählen. Seit du hier wohnst, habe ich festgestellt, dass du jeden Tag früher weggehst, und ich weiß auch, dass Verena erst in einer knappen Stunde von der Arbeit kommt. – Also, was ist jetzt, glaubst du an Gott?«
Stefan konnte beim besten Willen nicht verstehen, was Verenas Onkel mit dieser Frage bezweckte. War ihm auf die Schnelle kein besseres Thema eingefallen, um mit ihm ins Gespräch zu kommen?
Deshalb beantwortete er die Frage so kurz und präzise, wie er konnte: »Das ist ziemlich schwierig zu erklären. Ich bin zwar durchaus religiös, aber ganz bestimmt kein fleißiger Kirchgänger.«
»Das bin ich auch nicht.«
Eigentlich hatte es Stefan bei der kurzen Erklärung bewenden lassen wollen, aber nun begann er, ein wenig erstaunt über sich selbst, seine Aussage zu präzisieren: »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die für mich keine andere Erklärung zulassen, als dass eine höhere Macht, ich nenne sie Gott, existiert, die uns leitet und lenkt. Sie mögen diese Einstellung vielleicht für Unfug halten. Aber wenn Sie das erlebt hätten, was ich erlebt habe, dann könnten Sie auch zu keinem anderen Schluss kommen.«
»Habe ich gesagt, dass ich das für Blödsinn halte?«
»Nein.«
»Warum unterstellst du es mir dann?«
»Ich unterstelle es nicht; halte es nur für ziemlich wahrscheinlich«, verteidigte sich Stefan, »aus Erfahrung. Die meisten Leute halten meine Meinung für ausgemachten Unfug.«
»Deine Eltern auch?«
»Nein, denen bin ich nicht mal religiös genug.«
»Und Verena?«
»Nein, sie auch nicht.«
»Dann kennst du mit mir schon vier Leute, die dich verstehen. Aber was hast du denn erlebt?«
»Ach, nichts Besonderes«, sagte Stefan nach einem Blick auf seine Armbanduhr ausweichend. Er musste nun doch bald los. Aber ehe er recht wusste warum, begann er trotzdem zu erzählen: »Ich bin vor wenigen Jahren mit meinem Auto im Harz unterwegs gewesen und habe ohne ersichtlichen Grund vor einer langgezogenen Linkskurve fast bis auf null abgebremst. Hätte ich das nicht getan, dann gäbe es mich heute vielleicht gar nicht mehr. Denn mir kam nur Sekundenbruchteile später ein anderer Wagen mit aberwitziger Geschwindigkeit entgegen. Der Fahrer hatte kaum noch Gewalt über sein Steuer und kam weit auf meine Seite. Hätte ich vorher nicht gebremst, ein Frontalcrash wäre unvermeidbar gewesen.«
»Du hast recht, Stefan, das ist ein sehr gutes Argument dafür, zum Glauben zu finden. Irgendwann werde ich dir vielleicht mal erzählen, warum ich innerhalb weniger Tage den Glauben verlor, ihn wiederfand und heute weniger als je zuvor weiß, was ich nun glauben soll. – Aber jetzt ist es doch ziemlich spät geworden.« Er bemerkte Stefans Ungeduld. »Beeil dich, dass du zu deiner Verena kommst.«
In der Tat, sie musste bald zu Hause sein.
»Mist, bis ich hingelaufen bin, glaubt sie bestimmt schon, ich komme nicht mehr.«
»Fahr doch mit dem Auto. Oder bist du so ein Ökofreak, der alles zu Fuß erledigt?«
»Nein, das ganz bestimmt nicht. Aber ich habe kaum noch Benzin im Tank und muss ziemlich sparen, bis ich mein erstes Gehalt bekomme.«
»Hast du denn keine Ersparnisse?«
»Ich war fast eineinhalb Jahre arbeitslos.«
»Leihen dir deine Eltern nichts? Verena hat angedeutet, dass du aus wohlhabendem Hause bist …«
»Meine Eltern anpumpen? Das ist unter meiner Würde.«
»Das find ich gut. Nimm dir noch ein Stück Kuchen und dann meinen Wagen.«
»Das mit dem Kuchen geht in Ordnung«, sagte Stefan und griff zu, »aber das Auto kann ich unmöglich nehmen.«
»Klar kannst du«, sagte Peter. »Ich bin der Grund dafür, dass du zu spät kommst; also muss ich dafür sorgen, dass der Schaden sich in Grenzen hält. Hier sind die Schlüssel.«
Bei diesen Worten zog er die Autoschlüssel zu seinem Mercedes A 170 CDI aus der Hosentasche und legte sie vor Stefan auf den Wohnzimmertisch.
»Kannst du Autos mit Automatik fahren?«
Stefan wusste Peters stichhaltiger Argumentation nichts entgegenzusetzen, und so antwortete er: »Klar, ich fahr ja selbst ein Automatik-Auto.«
»Na, dann tschüss und ’nen schönen Abend«, rief Peter über die Schulter zurück, während er das Kaffeegeschirr in die Küche hinübertrug.
Stefan, der noch immer Hemmungen hatte, einfach so Peters Wagen zu nehmen, stand einige Sekunden lang unschlüssig im Wohnzimmer herum.
Erst als Peter zurückkam und grinsend sagte: »Stefan, das geht schon in Ordnung, ich geb dir mein Auto gern«, gab sich Stefan einen Ruck und griff nach dem Schlüssel. Er bedankte sich noch einmal bei Peter und ging in den Hof hinaus, um mit dessen Auto zu Verena zu fahren.
Dieser Peter Stettner ist schon ein komischer Kauz – aber keinesfalls unsympathisch, dachte Stefan, während er den kleinen Diesel besonders sorgfältig einparkte. Hier, vor dem Hochhaus in der Altkönigstraße, waren die Parkplätze fast immer reichlich knapp. Beim Aussteigen winkte er voller Vorfreude seiner Verena zu, die ihm von oben aus dem Küchenfenster zusah und zurückwinkte.
Da der unsägliche Aufzug des Hochhauses wieder mal kaputt war, musste er die drei Stockwerke bis zur Wohnung, die Verena mit ihrer Freundin Andrea Dehler teilte, zu Fuß hinaufsteigen. Ganz ausgepumpt kam er oben an, und noch bevor er klingeln konnte, öffnete ihm Verena.
»Was hast du denn mit meinem Onkel angestellt?«, fragte sie verwundert, anstatt ihn zu küssen.
»Wieso?«, war alles, was Stefan im ersten Moment herausbrachte, denn er war noch ganz außer Atem, dann trat er ein.
»Onkel Peter gibt sein Auto normalerweise nicht aus der Hand; noch nicht mal mir.«
»Ach, wir hatten ein sehr interessantes Gespräch«, antwortete Stefan geheimnisvoll und folgte Verena in ihr Zimmer, wo er sich dicht neben ihr auf der riesigen Sofaliege niederließ.
»Da musst du aber etwas ganz Besonderes zu ihm gesagt haben, denn mit seinem Auto war er schon immer etwas eigen. Seit seine Frau weg ist, hat er es keinem mehr anvertraut.«
»Ach, er war mal verheiratet?«
»Ja.«
»Und jetzt nicht mehr? Hat er sich scheiden lassen?«, bohrte Stefan nach.
»Nein, viel schlimmer. Seine Frau hat ihn von heute auf morgen verlassen. Warum, weiß keiner, er schon ganz und gar nicht; das macht ihn ja so fertig. Er hat nie aufgehört, sie zu suchen.«
»War er vielleicht ein schlechter Ehemann, untreu oder so?«
»Nein, wenn er ihr untreu gewesen wäre oder sie schlecht behandelt hätte, dann wäre mein Verhältnis zu meinem Onkel niemals so gut geworden, wie es heute ist. Es war eher das Gegenteil.«
»Sie war untreu?«
»Nein, so hatte ich das jetzt nicht gemeint. Peter hat seine Frau auf Händen getragen. Er ist sogar so etwas wie ein Held; ein etwas tragischer vielleicht.«
»Jetzt machst du mich aber neugierig.«