SEEZUNGE À LA ROSA
VIELE BUNTE FARBEN
MAL EBEN SCHNELL…
DAS RAUMPARFÜM
DIE ZUCKERWATTE-GRIPPE
ÄTSCH-BÄTSCH JOHANNA
DAS KLEINE HANDGEPÄCK
DAS BESTE GESCHENK DER WELT
DIE BERÜHMTE MADAME ROSALIE
DAS ROSA-SPEZIAL-PICKNICK
Ich lag auf dem Bett und glotzte gegen die Decke. Das tat ich sonntags um halb zwölf immer. Es war einfach so. Nein, es gehörte so. Es gehörte in mein Leben. Es passte irgendwie dahin. Ich mochte es gerne, wenn etwas wohin passte. Ja, so konnte ich gut hier liegen. Schön passend. Ich faltete meine Hände über dem Bauch und machte mich ganz gerade. Ich streckte meine Zehen nach vorn und drückte meinen Kopf gegen das Kissen. Perfekt. So lag ich da, mit dem guten Gefühl, eine exakte halbe Stunde hier liegen zu können. Um Punkt zwölf wollte ich aufstehen und mich ein wenig zurechtmachen. Vorsorglich bewegte ich meinen Kopf nur leicht auf dem Kissen, damit meine Frisur so gut wie möglich erhalten wurde. Johanna Johannson, meine allerbeste Freundin, wollte mich um zwölf Uhr dreißig abholen. Denn wie jeden Sonntag aßen wir im „Seestern“ zu Mittag. Aber jetzt hatte ich erst einmal Zeit, in meine Gedankenwelt abzutauchen.
Oh wie gern träumte ich davon, dass die Welt viereckig wäre. Bei dieser Vorstellung hüpfte mein Herz, und zwar absolut senkrecht. Der Gedanke, dass alle Dinge wie Puzzleteile ineinanderpassen würden, verzückte mich. Alles wäre berechenbar, gar zählbar und feinsäuberlich in Schubladen sortiert – ein Hochgenuss! Das beschrieb ich am liebsten mit dreihundert Schuhkartons voll agbepackter Glückseeligkeit. Und genau aus diesem Grund bewahrte ich in meinem Schlafzimmerschrank und meiner Kommode im Flur alle möglichen Behältnisse auf. Ich liebte Ordnung. Auch Gefühlsordnung, die war mir die liebste. Mal ehrlich, es war doch eine gute Sache, seine Gefühle in einem Schrank geordnet zu wissen. Dann hatte man immer einen Überblick. Das ersparte doch unheimlich viel Stress und Verwirrung. Wenn man so gut vorbereitet war wie ich, dann konnte einem nichts mehr passieren. Ich hatte für jedes Gefühl den passenden Karton, einen Beutel oder eine Tüte. Je nachdem, wie es sich am besten verpacken ließ. So stapelte ich Schuhkartons, hortete Streichholzschachteln, Plastikboxen und diverse Kästchen und Döschen in meiner Wohnung.
Ich warf einen Blick auf meinen Wecker. Mich durchfuhr eine wohlige Wärme, denn ich konnte noch vierundzwanzig Minuten hier liegenbleiben.
Ich wusste einfach gern, was auf mich zukam. Meine Skala der Schrecklichkeiten war mir dafür ein treuer Diener. Als ich vor vier Jahren, zwei Monaten und sechs Tagen meine Wohnung bezogen hatte, habe ich mir im Baumarkt eine besondere Farbe gekauft. Sie hatte die wunderbare Eigenschaft, den Charakter einer Schultafel in sich zu tragen. Herrlich, wie sich zwei Komponenten so wunderbar zu einem für mich perfekten Objekt zusammenfügten. Man konnte einfach eine Fläche auf der Wand ausmalen und dann später, wenn alles getrocknet war, mit Kreide darauf herumkritzeln. Nach Belieben erneuerte man so das Geschriebene, indem man nur die Kreide abwischte. Natürlich hätte ich auch eine Schultafel aufhängen können, aber mit manchen Dingen blieb ich gern im Verborgenen. Nicht, dass ich jemals freiwillig jemanden in mein Schlafzimmer gelassen hätte – aber man wusste ja nie! So konnte ich dann im Notfall schnell alle Notizen wegschrubbeln und zack, war nicht mal mehr die Tafel da. Das satte Dunkelgrün der Zauberfarbe habe ich fachmännisch mit anderen farblichen Akzenten auf der weißen Wand kombiniert. So integrierte sich meine geheime Tafel ganz hervorragend in graue und andere dunkelgrüne Kästchenflächen an der Wand. Nur ich allein wusste, welches Feld ich zum Schreiben benutzen konnte.
Jedenfalls brauchte ich diese Tafel für meine Skala der Schrecklichkeiten. Ich habe eine Art Punktesystem entwickelt, um täglich kurz und knapp notieren zu können, was mich von Montag bis Sonntag erwartete. Ich benötigte die Zahlen von eins bis zehn. Für heute trug ich zum Beispiel die Notiz 1230JJS3 ein. Das bedeutete dann: Um zwölf Uhr dreißig mit Johanna Johannson in den Seestern zum Mittagessen. Schrecklichkeitsskala Nummer drei. Die Drei war ganz angenehm. Die Eins war mir aber am allerliebsten. Sie bedeutete, dass ich mich entspannen konnte. Ich brauchte mich dann nicht anstrengen, um mich richtig zu verhalten. Jetzt hier auf meinem Bett, da hatte ich eine Eins. Ich stufte die Wahrscheinlichkeit, dass mir hier etwas Schreckliches passieren konnte, so niedrig ein, dass mir die Eins angemessen erschien. Obwohl sich die Treffen mit Johanna wöchentlich wiederholten, gab es doch einige Eventualitäten, die mich veranlassten, diese Treffen mit einer Drei zu bewerten. Allein schon, damit ich nicht nachlässig wurde, mich gut vor Unvorhersehbarem zu schützen. Aber mit einer Drei war ich wirklich zufrieden. Es gab bei Weitem schlimmere Ereignisse. Stufe zehn auf meiner Skala ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der blanke Horror, wenn ich auf meine Tafel eine Neun oder gar eine Zehn eintragen musste. Aber es kam vor. Das Leben zwang mich manchmal bis an den Abgrund. In solchen Momenten konnte ich mir eine Wohlfühl-Eins wünschen, wie ich wollte. Dann war nichts zu machen. Da war sogar die sichere Gedankenzeit auf dem Bett mindestens schon eine Fünf. Denn meine Befürchtungen kreisten dann durch mein Gehirn, obwohl die Zeit für die Zehn noch gar nicht gekommen war. Sie vermiesten mir meine Eins schon Tage vorher. Aber heute gab es zum Glück eine relativ freundliche Drei.
Ich starrte also wieder gegen die Zimmerdecke und begann, mich seelisch auf mein Treffen mit Johanna vorzubereiten. Sicher war sicher.
So lauschte ich der Stimme, die in meinem Gehirn munter drauflos plapperte. Einen Punkt nach dem anderen arbeitete ich von meiner Checkliste ab. Ich überlegte, was ich gleich anziehen würde und entschloss mich spontan für die weiße Bluse mit Stehkragen. In mir tauchte eine zweite Stimme auf, die ich einfach ignorierte. Wer wollte schon hören:
»Wie immer, die hast du jeden Sonntag an.«
Lächerlich! Bestimmt trug ich letzten Sonntag etwas anderes. Ich empfahl mir einen knielangen Wickelrock und Stiefel, die den Rock am Knie begrüßten.
Nächster Punkt: Handtasche, Geldbeutel, Kaugummi, Schlüsselbund, Taschentücher und einen Regenschirm. Das war einfach. Die Liste mit den praktischen Dingen verlief meistens reibungslos. Schwieriger war es mit der Vorbereitung auf das anstehende Verhalten.
Okay: Ich erfreute mich heute guter Laune und war entspannt. Schließlich war Sonntag. Ich freute mich auf meine Freundin und hatte Interesse an ihr. Also wollte ich auch mit neugierigem Gesichtsausdruck fragen, was sie in der letzten Woche erlebt hatte. Wahrscheinlich würde sie eine Menge aufregende Dinge, spannende Erlebnisse und ulkige Begebenheiten erzählen.
Ich tippte nervös mit den Fingern auf die Tagesdecke meines Bettes. Ich spürte, wie mir bei dieser Vorstellung ein wenig flau im Magen wurde. Na gut, vielleicht war es ein bisschen mehr als ein wenig. Es half nichts. Ich musste das von Neid zerfressene Monster aus meinem Bauch in einen Jutesack einfangen und in den Schlafzimmerschrank sperren. Das tat ich dann auch. Ich schnürte den Sack oben fest zu und machte ihn so ausbruchsicher. Das tobende Neidmonster zappelte in seinem Gefängnis. Aber ich kannte mich gut damit aus. Ein gekonnter Griff zur Schranktür, nicht lange fackeln, Sack rein, Ruhe. Wunderbar, für gute Stimmung war nun gesorgt. Aber was war, wenn Johanna mich kritisierte?
Manchmal deutete sie an, dass ich zu organisiert, zu verkrampft und unspontan wäre. Des Öfteren brachte sie mich in die unausstehliche Situation, mich nicht als aufgeschlossen, locker und unsagbar liebenswürdig zu empfinden. Und das, obwohl ich Stunden vorher damit beschäftigt gewesen war, die kleinste in Frage kommende Situation durchzuspielen, um angemessen reagieren zu können. Ich überlegte ernsthaft, diese Freundschaft zu beenden, nachdem ich sie gründlich auf Fehlerhaftigkeit überprüft hatte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass es in der Tat sinnvoll wäre, sich von so jemandem zu lösen. Es überwog eindeutig die negative Seite, obwohl sie nur aus dem einen Punkt bestand. Aber über die vielen positiven Aspekte musste ich, so leid es mir tat, hinwegsehen. Denn der Gedanke an unausstehliche Gefühle, die sie auslösen könnte, war für mich unerträglich. Ich beschloss für mich, dass es heute das letzte Essen mit Johanna sein sollte. Ich blickte zur Uhr. Ein Stechen durchfuhr meine Glieder. Nur noch drei Minuten, dann war es soweit. Zurechtmachen und Freundschaft kündigen. Schriftlich? Rosa, sei nicht albern!
Krampfhaft lenkte ich all meine Aufmerksamkeit auf mein Daliegen. Ich bemühte mich um höchsten Genuss der Gnadenfrist. An nichts wollte ich denken, nichts fühlen, nicht das kleinste Streichholzschächtelchen öffnen. Ich atmete tief ein und aus. Ganz intensiv, wieder und wieder. Eine Stimme in meinem Kopf begann rhythmisch zu zählen. 1-2-3-4 beim Einatmen, 1-2-3-4 beim Ausatmen. Es gab keinen Platz für Variationen.
Wenn jemand auf dieser Erde eine innere Uhr besaß, war ich es. Wie von Geisterhand schwang ich genau in der richtigen Minute meinen Körper vom Bett. Die 12.00 auf der Anzeige des Weckers ließ keine Kompromisse zu. Zackig begab ich mich mit meinen frischen Kleidern unter dem Arm ins Bad vor den Spiegel. Zügig erledigte ich eins nach dem anderen. Ich war wirklich gut im Befolgen meines Ablaufplans. Johanna nannte es einmal „mechanisch“. Tse, das kam gleich auf die Negativ-Liste!
Geschickt, ja geschickt, nicht mechanisch, lockerte ich meine Haare auf und puderte hier und da ein bisschen über die Wangen. Ich fuhr in meine frischen Sachen und parfümierte mich dezent. Meine Stiefel wollte ich erst an der Tür anziehen. Auf der Gummi-Fußmatte, damit sie nicht meinen Boden beschädigten. Auch feinste Sandkörner konnten Fliesen zerkratzen. Meine komplette Wohnung war gefliest. In einem wunderschönen, ganz hellem Creme-Beige-Ton. Darauf hatte ich geachtet, als ich eingezogen war. Keinen Teppichboden! Eine zarte Ganzkörpergänsehaut ummantelte mich bei dem Wort Teppichboden. Ich wiederholte es in Gedanken: „Teppich-bo-den“. Ich fröstelte. Wie sollte man jemals einen Teppich so reinigen, dass er auch wirklich sauber war? Niemals würde ich so ein Scheusal in meiner Wohnung dulden. Was sich da alles einnisten konnte. Wenn ich Tiere wollte, ging ich in den Zoo!
Okay, nun war ich soweit. Ein Blick zur Uhr. Noch vier Minuten. Zum Glück war Johanna immer pünktlich, aber das riss sie jetzt auch nicht mehr raus. Gut Rosa, dann mal los. Handtasche hatte ich, nun noch Jacke und Halstuch. Das ging schnell. Um es mir zu vereinfachen, hatte ich je ein Halstuch für jeden Wochentag. Farblich war das kein Problem, sie waren alle irgendwie in grau gehalten. Nur noch auf der Matte in die Stiefel schlüpfen, dann war ich abfahrbereit. Es klingelte. Ich erschreckte mich fürchterlich und fuhr zusammen.
»Lächeln, lächeln!«, befahl ich mir leise und öffnete für Johanna die Haustür. Ich strahlte sie an.
Johanna begrüßte mich mit »Hey, Püppi« und umarmte mich.
Ich hasste diesen Spitznamen. Püppi. Das hörte sich so gekünstelt an. Das passte doch gar nicht zu mir. Wie so ein Modepüppchen, oder was meinte Johanna damit? Ich wollte sie immer danach fragen, aber jetzt lohnte es sich nicht mehr. Bald war Püppi sowieso Geschichte. Heute hieß es bye bye Johanna.
Wir fuhren mit meinem Auto das Stück bis zum Seestern. Das war mir immer lieber. Wenn ich bei Johanna mitfuhr, konnte ich nicht plötzlich nach Hause, falls mich der Fluchtreflex packte. Gute fünf Minuten, dann waren wir da. Zielstrebig ging ich voraus, die paar Stufen rauf in das gediegene Fisch-Restaurant. Ich wusste, wo ich hinmusste. Gleich nachdem wir das erste Mal hier zu Mittag gegessen hatten, habe ich im Seestern angerufen und den Tisch vorsorglich für jeden Sonntag um zwölf Uhr fünfundvierzig reserviert. Somit saßen wir immer in derselben kleinen Nische am Fenster. Von da aus hatte man das ganze Lokal im Blick, wurde aber nicht von den anderen Gästen direkt angestarrt. Wir nahmen Platz. Ich fühlte mich gut. Ich wusste, dass ich gleich Seezunge, Reis und ein Wasser bestellen würde. Der Blick in die Speisekarte war also nur pro forma. Machte sich irgendwie netter. Johanna suchte sich ein Gericht aus der Karte aus. Sie fragte mich, während auch ich demonstrativ die Speisen studierte:
»Na Püppi, willst du heute mal Seezunge probieren?«
Sie lachte mich breit an und zwinkerte mir zu. Ich dachte im Stillen, dass ihr das Grinsen schon noch vergehen würde, wenn ich sie erst mal abgesägt hätte. So eine Frechheit, als würde ich hier immer das gleiche essen! Später, zu Hause, wollte ich überlegen, wann ich mal etwas anderes hatte. Dann würde ich den Beweis in Händen halten, dass ihre Anspielung gänzlich überflüssig und unpassend war. Unter Freundschaft verstand ich was anderes. Blöde Kuh.
Oh, die Bedienung! Aufgepasst! Sie begrüßte uns und nahm dann Johannas Bestellung auf. Sie wählte eine Weißwein-Schorle, einen Meerrettich-Salat und die gemischte Meeresfrüchte-Platte. Dann wandte sich die Bedienung mir zu und fragte recht steif:
»Was darf es denn für Sie sein?«
Ich reckte meinen Rücken ein wenig, um gerader auf dem Stuhl zu sitzen, und bestellte mit erhabenem Gesichtsausdruck:
»Hm… ich glaube, hm… ach, heute versuche ich mal die Seezunge. Dazu ein Wasser bitte.«
Gönnerhaft sah ich zu Johanna hinüber. Sollte sie mal drüber nachdenken, ob ich nicht doch schon mal etwas anderes gewählt hatte.
Warum warfen sich die beiden so komische Blicke zu? Ich wurde wirklich immer mehr darin bestätigt, mich von Johanna zu trennen. Verbündete sie sich etwa mit dieser Bedienung? Die konnte ich sowieso nicht leiden. Wir sind vor ein paar Wochen gehörig aneinandergeraten. Sie hat doch allen Ernstes die Frechheit besessen, einfach für mich Seezunge und ein Wasser auf ihren blöden Zettel zu schreiben. Bei Johanna hat sie die Bestellung abgewartet, aber mich hat sie gar nicht erst gefragt! Ungeheuerlich…
Zum Glück zog die Tante jetzt wieder ab. Johanna wandte sich mir zu und griff nach meiner Hand.
»Ich muss dir unbedingt erzählen, was mir letzten Dienstag passiert ist.«
Okay, Gnadenfrist. Sollte sie mir ruhig noch berichten, was sie mal wieder Tolles erlebt hatte. Ich konnte ihr auch noch später eröffnen, dass es sich „ausgejohannat“ hatte. Gerade wollte sie loslegen, als uns eine kraftvolle Männerstimme unterbrach.
»Johanna? Das gibt’s doch gar nicht!«
Ein großer, dynamischer Typ steuerte geradewegs auf uns zu. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen. Mir wurde schlecht. Musste der ausgerechnet jetzt hier auftauchen?
Neugierig sah sich Johanna um, wer sie denn da ansprach.
»Hey«, rief sie, »Raffael!«
Oh nein, sie klang auch noch begeistert! Das Unheil nahm seinen Lauf. Johanna bat Raffael, sich zu uns zu setzen und jubelte förmlich, ihm zu begegnen. Sie stellte uns gegenseitig vor und schwärmte ungehemmt von diesem Raffael. Dass sie sich schon ewig kannten, lange nichts von einander gehört hatten und vor Jahren mal zusammen einen Rucksackurlaub in Australien unternommen hatten. Jubel, jubel, jubel…
Ich hasste ihn von der ersten Sekunde an. Es bedurfte nicht viel Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass dieser Raffael einer Spezies angehörte, die ich grundsätzlich mied. Er gehörte zur Art der Improvisationstalente: Spontan, witzig, aufgeschlossen, locker. Keine Frage, so war ich auch! Aber eher für mich allein und nicht so plump und ungeniert vor anderen. Das gefiel mir ganz und gar nicht.
Spontaneität war für mich das Schrecklichste, was jemals auf diesem Planeten erfunden wurde. Sie sprengte meine Skala der Schrecklichkeiten mit einer 1000! Was wollte dieser Kerl hier? Konnte er uns nicht einfach in Ruhe lassen? Ich verfluchte mich dafür, Johanna nicht schon an der Haustür den Laufpass gegeben zu haben. So unauffällig wie möglich musterte ich diesen widerlichen „Einmischer“. Kräftig und gesund sah er aus. Seine frische Gesichtsfarbe untermalte das noch. Aber sein helles Shirt war leider ein wenig zu klein. Die Knopfleiste am Ausschnitt ging gar nicht zu. Sie spannte über der Brust. Seine dunkelbraunen kräftigen Haare wippten in üppigen Strähnen immer hin und her, wenn er sich bewegte. Tse… Stillsitzen war eine Tugend, die er wahrlich nicht beherrschte. Zum Frisör konnte der auch mal wieder. Und seine Augen? Blau. Ha! Oh mein Gott! Unsere Blicke trafen sich. Gleich muss ich mich übergeben, dachte ich. Ich fühlte, wie meine Wangen immer stärker durchblutet wurden und zu leuchten begannen. Ich musste sofort hier weg! Aber wie? Mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, meinen Beinen die Information mitzuteilen, wie „gehen“ funktionierte.
Es klapperte. Die Bedienung brachte unsere Getränke. Zum Glück konnte ich jetzt auf mein Wasserglas starren. Es rauschte in meinem Kopf, als ich mit anhören musste, wie Raffael ein Bier bestellte. Den wurden wir nie wieder los! Johanna und dieser Eindringling unterhielten sich angeregt. Für meinen Geschmack ein wenig zu laut. Wir hatten ja nicht das ganze Lokal reserviert. Schonungslos jagte der Horror durch mein Gehirn, dass Raffael mich gleich ansprechen würde. Meine Befürchtungen arbeiteten auf Hochtouren. Folglich sollte ich mich auch noch in dieses fragwürdig laute Gespräch einklinken? Unpassender ging es wirklich nicht! Johanna hatte ich eigentlich etwas ganz anderes zu erzählen, schließlich wollte ich sie loswerden. Und Mister Spontan hatte ich absolut nichts zu sagen. Wenn man mal außer Acht ließ, dass er verschwinden sollte. Wie er schon dasaß! So lässig, als würde ihm die Welt gehören. Der glaubte allen Ernstes, dass er einfach so in mein Leben platzen konnte. Ungehobelt, wirklich ungehobelt dieser Raffael!
»Schön, dich kennenzulernen, Rosa«, hörte ich plötzlich.
Alarm! Ich wünschte mir ein Kreuz und Knoblauch herbei. Aber nichts passierte. Ich schnappte nach Luft.
»Ja, auch schön«, stammelte ich.
Mein Wortschatz schrumpfte in Sekunden auf Überlebens- Notration. Bevor ich überhaupt meinen Lächelbefehl abrufen konnte, breitete sich ein übertriebenes, fratzenhaftes Grinsen von ganz allein über meinem Gesicht aus und blieb dort hängen. Meine Körpertemperatur drohte, den Siedepunkt zu erreichen. Es half nichts, ich musste sofort hier weg!
Ich zwang mich, meinen Blick von Katastrophenherd Raffael zu lösen. Dann schlug ich mir mit der flachen Hand vor die Stirn und riss meinen Mund auf. Ich rollte mit den Augen und wandte mich hektisch Johanna zu:
»Stimmt ja, ich muss doch heute meiner Mutter helfen!«
Irritiert zog Johanna die Augenbrauen zusammen. Schnell stand ich auf. Ich griff meine Handtasche und quetschte mich ein wenig ungeschickt, aber dafür rasend schnell, an Johannas Stuhl vorbei.
»Das hatte ich ganz vergessen, Entschuldigung«, erklärte ich mich.
Ich donnerte mit meinem Oberschenkel gegen Johannas Stuhllehne. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen kochenden Körper. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.
Geschafft! Ich war hinter dem Tisch heraus. Ich schaltete meinen Bewegungsapparat auf Turbo und setzte an, in großen Schritten den Raum zu verlassen. Mir schoss in den Kopf, dass ich ja noch meine Bestellung bezahlen musste. So drehte ich mich noch einmal zu Johanna um, während ich schon Vollgas gab. Dann krachte es! Ich spürte einen dumpfen Aufprall. Es klirrte und klapperte, und ich sank zu Boden. Mein Kinn schlug als Erstes auf dem eigentlich von mir als urgemütlich eingestuften Holzdielenboden auf. Aua! Dann polterte es in meinem Gehirn. Noch mal aua! Ein Silbertablett traf mich auf den Kopf, bevor es laut scheppernd auf den Dielenboden fiel. Ich realisierte, dass ich direkt in die Kellnerin gelaufen sein musste, die unser Essen bringen wollte. Dies rekonstruierte ich auch anhand der Muscheln, der Seezunge und den Salatblättern, die sich auf meinem ganzen Körper verteilten. Ich versuchte, mich aufzurappeln.
Ausgerechnet Störenfried Raffael hockte sich umgehend zu mir nach unten auf den Boden und beugte sich ganz dicht vor mich. Er legte seine Hand ganz behutsam an meine Wange und sah mich fürchterlich besorgt an.
»Alles okay bei dir?«
Okaaaayyy?!, schrie ich innerlich. Nichts war okay! Ich wollte sterben. Gleich hier. Ganz unspektakulär. Einfach Lichter aus und ab ins Jenseits.
»Geht schon«, stieß ich gequält hervor.
Nach gefühlten Stunden der Seelenfolter kam ich endlich wieder auf die Beine. Nachdem Johanna erkannt hatte, dass es mir gut ging, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie krümmte sich vor Lachen. Auch die anscheinend unverletzte Bedienung stimmte mit ein. Es schien ihr gar nichts auszumachen, dass die mühsam in der Küche zubereiteten Speisen mehr oder minder vollständig an mir dran hingen und nicht mehr genießbar waren. Raffael griff an meinen Arm und zupfte sich eine Garnele von meinem Blusenärmel.
»Darf ich?«
Jetzt lachte die gesamte „Bevölkerung“ des Restaurants. Na großartig! Ich sah an mir herunter. Ganz ehrlich, witzig war das nun wirklich nicht. Ich sah aus, als hätte ich in einer Mülltonne gebadet. Und überhaupt. Es war nicht nett, jemanden auszulachen, dem das Leben so übel mitgespielt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ ich mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf den Seestern. Ich nahm mir vor, die Dauer-Tischreservierung telefonisch aufzuheben. Ich war schrecklich wütend. Raffael war der Verursacher dieser Katastrophe. Dieser Mistkerl! Ich wusste schon, warum ich ihn von Anfang an hasste!
Immer noch bunt dekoriert rannte ich zu meinem Auto. Dabei verlor ich zum Glück schon etliche Reiskörner. Ich fuhr heim und bewegte mich dabei so wenig wie möglich, um meinen Fahrersitz vor der Sauerei zu ververschonen. Ich war unsagbar froh, als ich endlich die Haustür aufsperren konnte und Unterschlupf in meiner sicheren „Höhle“ fand. Sorgsam zog ich meine Stiefel auf der Matte aus und ging ganz vorsichtig ins Badezimmer. Ich schaffte es, ohne auch nur ein einziges Lebensmittel-Stückchen auf den Boden fallen zu lassen, den Läufer vor der Dusche zu erreichen. Endlich zog ich meine essenverschmierten Kleider aus, warf sie in die Wäsche und stellte mich in die Duschkabine. Ich ließ das heiße Wasser ewig über meinen Körper laufen. Während ich eine Krabbe aus meinen Haaren pulte, ärgerte ich mich, dass ich hier unter der Dusche stand. Ich hatte mich ja heute Morgen schon zurechtgemacht. Und nun musste ich nur wegen dieses blöden Vorfalls erneut duschen. Ich mochte es nicht, wenn mein Säuberungsrhythmus durcheinandergeriet. Denn morgen früh vor der Arbeit wollte ich schon wieder duschen, um gut gestylt und akkurat im Betrieb zu erscheinen. Genauso wenig, wie ich das Duschen einen Tag ausfallen lassen würde, wollte ich einen Extra-Waschgang einlegen. Es war zum Heulen.