Kriegsende im Wendland

„Gefangenenlager Gorleben“

Entstehung des Lagers bis zum Abzug der 29. US-Infanterie-Division
und Übergabe der Lagerverwaltung an das 333. US-Infanterie-Regiment
(84. US-Division) sowie die Notwendigkeit zur Erweiterung; des Lagers.

26. April bis 4. Mai 1945

von Karl-Heinz Schwerdtfeger

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Gegen das Vergessen

Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird
die Zukunft nicht in den Griff bekommen!

Golo Mann

Inhaltsverzeichnis, Teil 1

Einleitung

Geschichtliche Einzel-Ereignisse dürfen nicht separat, sondern müssen im weiteren Umfeld eines Geschehens betrachtet werden. Sonst würde eine regional bezogene Abhandlung über Kriegsereignisse unverständlich bleiben. Denn jedes Einzel-Geschehen hat seine Vorgeschichte.

Werden die Hintergründe, zu denen eine gewisse Kriegshandlung letztendlich geführt hat, nicht genannt, dann ist jede historische Schilderung über Ereignisse lediglich eine isolierte „Bestandsaufnahme“ und Fragen bleiben unbeantwortet.

Wie konnte es geschehen, daß hier in Gorleben die Kapitulation der kompletten deutschen ZV-Division (V2-Mannschaft) mit Anhang als einzige Ausnahme an der Elbe von den Amerikanern akzeptiert wurde?

Denn außer dieser wurde an keiner weiteren Stelle die Kapitulation von geschlossenen deutschen Einheiten von den Amerikanern zugelassen. Die Amis nahmen an der Elbe nur „einzelne“ deutsche Soldaten als Kriegsgefangene an, wenn die mit eigenen Mitteln das amerikanisch besetzte Westufer der Elbe erreichten, nicht jedoch geschlossene Verbände.

Vorgeschichte:

Am 28. März 1945 hatte General Dwight D. Eisenhower, oberster Befehlshaber der westalliierten Streitkräfte, eigenmächtig, ohne Rücksprache mit seinen politischen Auftraggebern in Washington und London zu nehmen, und ohne seine Truppenkommandeure über seine persönlich getroffene Handlung zu unterrichten, per Fernschreiben dem Diktator Stalin fest zugesichert, daß seine westalliierten Truppen die Elbe nicht überschreiten würden.

Sein Vorgesetzter in Washington, George Marshall (War Department = Kriegsministerium), forderte zornig von „Ike“ sofortige Rechenschaft über sein geradezu selbstherrliches, eigenmächtiges Vorgehen. Ike verschanzte sich hinter der Aussage seines Generals Omar Bradley, daß die Einnahme Berlins etwa 100.000 Mann an Verlusten kosten würde.

Winston Churchill soll in London wütend geäußert haben, mit dieser politischen Dummheit des Amerikaners Eisenhower hätten die Westalliierten die Früchte ihres Sieges über Deutschland ohne Gegenleistung endgültig an die Sowjets verschenkt.

Die Weitsichtigen unter den Politikern in Washington und besonders die Briten in London rauften sich gewissermaßen die Haare.

Das alles sind bekannte Tatsachen, die mehr oder weniger offen in vielen historischen Abhandlungen veröffentlicht wurden.

Erst am 13. April 1945 (einen Tag nach dem Tod von Präsident Roosevelt), bei einem Treffen aller Armee-Kommandeure der Westalliierten im Hauptquartier Reims (Supreme Headquarters), erfuhren dort die erstaunten Generäle von Eisenhower, was er Stalin zugesagt hatte.

Offenbar äußerte Eisenhower dieses vor seinen versammelten Generälen nur deshalb, weil er ihnen die neue Strategie mitteilte. Die bisherige Planung, Berlin einzunehmen, wurde komplett aufgegeben.

Der britische Feldmarschall Montgomery, der bisher für den Vorstoß auf Berlin durch Mecklenburg-Brandenburg vorgesehen war, mußte mit seiner 2. Britischen Armee nach Norden einschwenken und sollte eine Front gegen die Sowjets von Dömitz, Ludwigslust, Schwerin bis Wismar bilden. Dadurch blieb südlich der Elbe das Dreiecksgebiet des Wendlandes für ein paar Tage „Niemandsland“, bis die US-Truppen den Gefechtsstreifen übernahmen. Montgomery erhielt die 8. US-Luftlande-Division als Unterstützung, die dann auf der rechten Flanke eingesetzt wurde.

(Die 8. US-Luftlande-Division war keine Fallschirmjäger-Einheit, sondern war Infanterie, die vorgesehen war, mit Lastenseglern hinter feindlichen Linien abgesetzt zu werden. Seit „Covent Garden“ nicht mehr eingesetzt stand diese Division aufgefrischt, ohne Lastensegler aber voll motorisiert, als Reserve zur Verfügung.)

Die Truppen der 9. US-Armee sollten die Elbe nicht überschreiten. Der Dreisterne-General Simpson, Befehlshaber der 9. US-Armee, wollte Eisenhowers Bewilligung zum schnellen Vorstoß nach und zur anschließenden Eroberung der Reichshauptstadt Berlin haben. Das wurde im Zuge der neuen Strategie abgelehnt.

So mußte General Simpson seinen für den 14. April 1945 geplanten Brückenschlag bei Sandau / Havelberg und anschließenden Sturmangriff auf die Reichshauptstadt Berlin schwer enttäuscht absagen.

Für die in höchster Alarmbereitschaft an der Elbe zwischen Magdeburg und Wittenberge stehenden zwei Panzerdivisionen (2. + 5. PD), fünf Infanteriedivisionen (30., 35., 83., 84. + 102. ID), acht Artillerie- und sechs Pionier-Bataillone, sowie drei Reserve-Infanteriedivisionen wurde der Angriffsbefehl zum Sturm auf Berlin am 15. April 1945, um 2 Uhr nachts, abgeblasen.

(Ein Tag bevor der sowjetische Großangriff am 16. April 1945 an der Oder begann!)

Auch das ist eine historisch bekannte Tatsache.

Aber das „Schlitzohr“ Stalin hatte offenbar dem politisch „naiven“ General Eisenhower eine weitere Zusage abgerungen:

Alle deutschen Truppen, die bislang an der Ostfront gegen die Rote Armee gekämpft hatten und danach versuchen sollten, sich in amerikanische Gefangenschaft zu flüchten, sollten mit Hilfe der Amerikaner in sowjetische Kriegsgefangenschaft gebracht werden.

Diesen von Stalin geforderten und von Eisenhower zugesagten „Quatsch“ wollten aber die höheren Stäbe Der US-Truppen in Hinsicht auf Einhaltung der Regeln der Genfer Konvention nicht mitmachen. Sie schwächten Eisenhowers Zusage dahingehend ab, daß „einzelne“ deutschen Soldaten, wenn sie das amerikanisch besetzte Elbwestufer erreichten, als Kriegsgefangene der Amerikaner akzeptiert wurden.

Nur deutschen Truppen, die sich kämpfend von den Russen abgesetzt hatten, und die sich in geschlossener Einheit den Amerikanern ergeben wollten, denen wurde die Kapitulation von den Amis verweigert.

Aber eine scheußliche Ausnahme ist geschehen. Als am 7. Mai 1945 bei Tangermünde sowjetische Kommandeure die Auslieferung der ans amerikanische Flußufer geflüchteten deutschen Soldaten forderten, da wurden annähernd 10.000 deutsche Kriegsgefangene von der 30. US-Infanterie-Division (Deutsche Soldaten, die sich teilweise bereits seit 15. April 1945 in amerikanischer Gefangenschaft befanden!) an die Russen ausgeliefert.

Nun erschien am 30. April 1945 in Gorleben bei den Amerikanern der 29.ID eine Parlamentär-Delegation von drei deutschen Offizieren mit dem Vorschlag, die komplette ZV-Division in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu bringen. Unter der Bedingung, daß die Amerikaner mit Fähren die deutschen Soldaten über die Elbe in amerikanische Gefangenschaft holen sollten.

Die deutschen Unterhändler stellten den Amis Bedingungen? Was mögen Ami-Offiziere der unteren Ränge da gedacht haben! Denn Kapitulations-Angebote geschlossener deutscher Einheiten, die von der russischen Front kamen, welcher Größe auch immer, waren konsequent abzulehnen!

Aber die deutschen Unterhändler machten ein verlockendes Angebot:

Die Amerikaner sollten alle geheimen Unterlagen und Dokumente über die V2-Überschall-Raketen übergeben bekommen, wenn sie mit Fähren die Soldaten der ZV-Division zu sich herüberholten.

Die Offiziere der 29. ID konnten das nicht entscheiden und fragten deshalb den Stab der 9. US-Armee um Rat. Auch dort schien man überfragt gewesen zu sein. Die fragten dann Leute vom Oberkommando der US-Truppen Europa „Supreme Headquarters Europe“, und die erteilten in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai die Bewilligung für Durchführung der Aktion.

Die hochrangigen Stabs-Offiziere erkannten sofort, welch eine wertvolle Beute ihnen da in die Hände fiel! Diese unbezahlbar wertvolle Beute wollten sich die Amerikaner unter gar keinen Umständen entgehen lassen.

Um aber den Verstoß gegen die Vereinbarung (Stalin – Eisenhower) möglichst vor den Russen zu verheimlichen, sollten die Pioniere alles Fährgerät noch vor dem Erscheinen der Russen beseitigen.

Deshalb mußte die Fährtätigkeit am 3. Mai 1945 um 12 Uhr mittags abgebrochen werden.

Gorleben blieb der einzige Ort, wo entlang der Elbe die Kapitulation einer kompletten Division mit Anhang, schließlich die Stärke von 10.000 Mann, von den Amerikanern akzeptiert wurde.

26. April bis 4. Mai 1945

Entstehung des Kriegsgefangenenlagers in Gorleben an der Elbe.

Am 26. April 1945 war das 175. Regiment der 29. US-Infanterie-Division an die Elbefront verlegt worden. Das 2. Bataillon (175. Rgt.) erhielt den Abschnitt Laase – Gorleben – Vietze zugeteilt.

Dem 3. Bataillon war das Elbufer vom Höhbeck über Pevestorf, Holtorf bis Schnackenburg als Einsatzgebiet zur Verteidigung zugewiesen worden.

Das 1. Bataillon blieb als Reserve im Hinterland, im Gebiet zwischen den Dörfern Schweskau, Puttball, Trabuhn, Dangensdorf, Rebensdorf, Bösel, Reddebeitz, Loge, Kolborn und Tarmitz.

Der Regimentsgefechtsstand befand sich in Tobringen. Bataillons-Gefechtsstände waren vom 1. Bataillon in Simander, vom 2. Bataillon in Gorleben, vom 3. Bataillon in Kapern.

In diesem Elbabschnitt von Schnackenburg flußabwärts bis Grippel gab es seit dem 25. April nicht die geringsten Kampfhandlungen mehr, denn am Elbnordufer waren hier sämtliche deutschen Truppen abgezogen worden.

Bis spätestens zum 24. April war die gesamte Zivilbevölkerung aus einem 5km breiten Streifen entlang der Elbe nach Süden zwangsevakuiert worden. Die Amis des 175. Regiments kamen in ein menschenleeres Gebiet. Sie fanden dort keine Zivilisten, außer plündernde Polen, die aus dem für polnische Zwangsarbeiter schnell eingerichteten DP-Lager Groß Garz (Altmark) kamen, und von den Amerikanern nicht am Plündern der Ortschaften gehindert wurden.

Die Geschichte der 29. US-Infanterie-Division „29 LET´S GO!“ berichtet ab Seite 256 folgendes:

„…. Am frühen Abend des 30. April überquerten drei deutsche Stabsoffiziere den Fluß in einem Ruderboot unter einer weißen Flagge und unterrichteten die Vorposten an der Front der G-Kompanie vom 175. Regiment, daß sie den „kommandierenden Offizier“ zu sehen wünschten.

Diese Botschaft wurde per Hochleistungs-Lautsprecher an Captain Hugh Brady, den Kommandeur der G-Kompanie, übermittelt. Der informierte seinerseits den Bataillons-Gefechtsstand.

Captain Sam Dinerman, in Abwesenheit des Bataillons-Kommandeurs Major Wolff stellvertretender Befehlshaber, fuhr hinab zum Flußufer, um die Sache zu überprüfen.

Die drei außerordentlich präzise gekleideten deutschen Offiziere (ein SS-Oberstleutnant, ein G3-Major vom Ausführungsstab seiner Division, und ein Leutnant) waren ein wenig überrascht, als Captain Dinerman nur in seiner üblichen Kampfkleidung erschien.

„Welchen Rang haben eure Bataillons-Kommandeure?“ wollten sie wissen. Jedoch wurde ihnen unmißverständlich klargemacht, daß sie entweder mit dem Captain sprechen könnten, oder unverrichteter Dinge zum anderen Flußufer zurückkehren sollten. Darauf bat der ranghöchste deutsche Offizier den Captain Dinerman zur Seite und zeigte ihm sehr zögerlich ein Papier – eine Vollmacht von seinem Divisions-Kommandeur zur Kapitulation der vollständigen Division mit einer Mannschaft von annähernd zehntausend Mann. Halb flüsternd sagte er auf Englisch, das sei die V2-Raketen-Division, und daß die Deutschen das letzte Geheimnis der Raketentechnik für die westliche Zivilisation erhalten wollten.

Der Erhalt von deutschen Raketen-Geheimnissen fiel natürlich nicht in den Aufgabenbereich der 29. Division, doch die Annahme der feindlichen Kapitulation lag innerhalb der Grenzen seiner Aufgaben. Die deutschen Offiziere wurden deshalb zum Gefechtsstand des 2. Bataillons gebracht (Anmerkung: in Gorleben).

In dieser Nacht diskutierten die deutschen Offiziere mit Colonel McDaniel, dem Regiments-Kommandeur, im Gefechtsstand des 175. Regiments (Anmerkung: in Tobringen) die Einzelheiten und Bedingungen der Kapitulation. Es wurde vereinbart, daß die deutsche Division, die sich zu dem Zeitpunkt mit ihren nächstgelegenen Einheiten wenigstens noch 20 Meilen von der Elbe entfernt befand, sich zum Ostufer des Flusses bewegen sollte. (Anmerkung: Die schwachen Kampfeinheiten dieser Division befanden sich derzeit in harten Rückzugskämpfen gegen die Sowjets im Raum Friesack undKyritz.)…“

Gorleben. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1945 am Gefechtsstand des 2. Bataillons, 175. Regiment, 29. US-Infanterie-Division. Ein namentlich nicht genannter deutscher Offizier zeigt auf einer Karte dem Bataillons-Kommandeur Wolff das derzeitige Aufenthaltsgebiet seiner V2-Division (Anmerkung: auf deutscher Seite ZV-Division genannt. Die deutschen Parlamentäre waren SS-Oberstleutnant Wolfgang Wetzling und der Major Matheis. Auf dem Foto wahrscheinlich Major Matheis).

Foto: National-Archiv Washington

„… Beim Erreichen des Flusses hätten die vordersten Spitzen der deutschen Division vier große weiße Tücher im Abstand von 50 Yards am Boden auszulegen, um ihre Anwesenheit kenntlich zu machen. Entwaffnung und Übersetzen der Truppen würde unverzüglich danach beginnen.

Es war 2 Uhr früh geworden, als das Treffen der Kapitulationsverhandlung endete.

Alle Mannschaften des Regiments wurden in Alarmbereitschaft versetzt und vor der Möglichkeit einer deutschen Strategie gewarnt, obwohl irgendeine Verschleierungstaktik oder ein Täuschungsmanöver auf der Seite des Feindes als unwahrscheinlich betrachtet wurde.

Die Überquerung wurde im Frontbereich des 2. Bataillons vom 175. Regiment vorgesehen.

Die bevorstehende Kapitulation der deutschen Division mit der Aussicht auf Andenken versetzte die Männer des 175. Regiments in einen Zustand großer Erwartung. Aber die Hochstimmung wurde beträchtlich gedämpft, als der Befehl durchgegeben wurde, daß nur der Munitions- und Pionierzug des 2. Bataillons für Bewachung und Geleit der Deutschen am Flußufer eingeteilt war.

Allen übrigen Infanterie-Einheiten wurde befohlen, in ihren Stellungen zu bleiben.…“

„…Während der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1945 meldeten Vorposten die Geräusche von Fahrzeugen und von Aktivität jenseits des Flusses. Für die Männer des 175. Regiments und auch für andere war es eine ungewohnte Begebenheit in ihren Kriegserfahrungen. Wie die gespannte Erwartung vor einer großartigen Theater-Vorführung, hielt es die Männer in den Nacht- und Morgenstunden im Zustand einer freudigen Aufregung. Alle Furcht war vorüber. Gefahr war vorbei. Eine gesamte deutsche Division gab auf. Die ganze Situation schien das Ende des Krieges zu symbolisieren.

Früh am Morgen des 2. Mai konnten Vorposten erkennen, daß deutsche Soldaten weiße Flaggen am Ostufer auslegten. Es war kurz nach 8 Uhr, als das 121. Sturmpionier-Bataillon begann, die entwaffneten deutschen Truppen über den Fluß herüberzubringen. Sobald die kapitulierenden Soldaten die Boote am Westufer verlassen hatten, marschierten sie zu einem Sammelpunkt, um in Lastwagen verladen ins Hinterland gebracht zu werden. Sie waren bescheidene und unterwürfige, aber nicht unglückliche Feinde, als sie aus den Booten stiegen, schwer beladen mit persönlichen Habseligkeiten, die in Handtaschen, Pakete und Koffer gestopft waren.

Mit den deutschen Gefangenen kamen ungefähr 30 Schäferhunde herüber, von denen einige später in den Vereinigten Staaten ihre Heimat gefunden haben.