der_wassermann
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Diese Geschichte ist eine symbolische Geschichte.
Das heißt, dass jedes einzelne Wort seine Bedeutung hat einerseits durch sich selbst und andererseits eine neue, umfassendere Bedeutung gewinnt durch die Verbindung, die es mit der Gesamtheit aller anderen Wörter (in dieser Geschichte) eingeht. Dies heißt umgekehrt, dass ebenso die gesamte Geschichte ihre Bedeutung durch jedes einzelne Wort in ihr verkündet.
Alles ist Eins, und in jedem Einen ist Alles.
Ganz pragmatisch und ganz praktisch heißt das, dass ein Jeder nachdenken und sich eine Frage stellen kann, die er oder sie schon immer beantwortet haben wollte. Schlägt man nun dieses Buch an einer willkürlichen Stelle auf, kann man dort die Antwort finden.
Auf die gleiche Art lässt sich dieses Buch auch allgemein lesen. Denn mir ist klar, dass es sich hierbei um ein äußerst komplexes, manchmal verwirrendes oder gar langatmiges Werk handelt. Doch genau wie dieses Buch mein Leben begleitet hat, kann es auch das Leben jedes Lesers begleiten. Man kann es einfach irgendwo aufschlagen, die jeweilige Seite lesen und sich dort zu eigenen Gedanken inspirieren lassen. Jede Seite ist ein Universum für sich.
Kein Wesen kann ohne sich bestehen. Will ich also, dass ich Wesen habe, so muss ich mich mir selbst geben. (Meister Eckhart)
Dies ist kein normaler Roman. Er ist sowohl inhaltlich als auch strukturell konzipiert als ein Spiegelbild des Universums. Er erzählt also nicht einfach nur eine Geschichte mit Anfang und Ende, sondern versucht, diese auch sinngebend durch seinen Aufbau zu veranschaulichen. Der Roman beschreibt in seiner Gesamtheit eine unendliche Kreisförmigkeit, welche an sich und aus sich selbst heraus lebendig ist.
Ich persönlich bin über die Formulierung dieses Romans zu einer neu- und andersartigen Welt- und Selbstanschauung gelangt, die mich in die Lage versetzt, aus jedweder denkbaren Einzelheit –sei sie nun geistig oder tatsächlich greifbar- sämtliche metaphysischen Fragen dieser Welt zu beantworten; zumindest für mich selbst. Das klingt verrückt, ist es vermutlich auch; in früheren Zeiten nannte man so etwas allerdings Religion.
Wie kann das sein?
Es ist alles eins, und in jedem Einen ist Alles.
Der Moment, als ich diesen Satz im Sommer 1998 zum ersten Mal gelesen habe, hat mein Leben auf unvorstellbare Art und Weise verändert. Mit mir und durch mich ist etwas passiert, von dem ich niemals geglaubt hatte, dass es überhaupt möglich sein könnte. Innerhalb weniger Sekunden haben sich mein gesamtes Wissen, mein Glauben und sogar meine Gefühle zu einer Einheit absoluter Gewissheit verwoben, und mir war sofort klar, dass es sich dabei nur um so etwas wie ein religiöse Erweckung handeln konnte – oder um den Ausbruch einer sowieso schon immer latent vorhandenen Geisteskrankheit.
Denn interessanterweise habe ich mich schon als Kind gefragt, warum die Dinge so geschehen, wie sie es tun, und warum ich der bin, der ich bin. Im Laufe meines Erwachsenwerdens wurde die Suche nach wissenschaftlich fundierter und zugleich gefühlter Gewissheit zu einer Obsession, und meine gesamte literarische Arbeit sollte diesen Zweck erfüllen. Mein Ziel war es, einen Satz zu finden, der die Wirkweisen des Universums und seiner Bestandteile umfassend ausdrücken kann.
Es ist alles eins, und in jedem Einen ist Alles.
In einem einzigen Moment meines Lebens habe ich diesen Satz tatsächlich gefunden. Dieser Roman beschreibt den Weg bis dorthin und die Konsequenzen, die sich im Folgenden daraus ergeben haben.
Was ich damit bezwecke, könnte man vielleicht mit Religionsstiftung bezeichnen. Doch das ist zugleich zu viel und auch zu wenig. Denn dieser Roman ist gleichsam auch eine Reise in den Wahnsinn – und wieder aus ihm heraus.
Ich möchte nur ich selbst sein; ich möchte Wesen haben.
Ich möchte Liebe – nicht nur haben, oder geben – ich möchte Liebe sein.
Dieser Roman hat für mich persönlich diesen Zweck erfüllt.
Nun gut, worum geht’s?
Der Roman besteht ursprünglich aus zwei komplett unterschiedlichen Teilen, die dennoch miteinander verbunden sind, weil Teile des einen im anderen verborgen sind – und anders herum genauso. Als schon erwähnte Spiegelbildlichkeit universeller Gesetze kann man sich das vorstellen wie das Symbol von Ying und Yang. Ich möchte betonen, dass es dabei nicht etwa um eine sonstwie vergeistigte, esoterische oder anderweitig pseudo-moderne Welt- und Selbstanschauung geht – ich habe wissenschaftlich fundierte Evidenz erfahren und möchte hiermit alle Wissens- und Glaubensgebiete miteinander vereinbaren.
Diese beiden ersten Teile beschreiben deshalb sowohl in ihrer Namensgebung als auch in der Abfolge ihrer Kapitel universelle Gesetze; sie spiegeln die Struktur des Universums wider. Der dritte Teil dieses Romans war niemals geplant, er ist im Laufe meiner Arbeit als Folgerichtigkeit aus den ersten beiden Teilen entstanden; er ist das Moment des Lebendigen. Und als Spiegelbild eines lebendigen Universums beinhaltet er noch einmal sämtliche Kapitel der ersten beiden Teile – wie ein Kind beide Teile seiner Eltern enthält und dennoch jemand Neues ist.
Soweit zur Struktur; nun zum Inhalt:
Auch inhaltlich besitzt dieser Roman zwei Ebenen: eine erste Ebene der Realität, genannt „Materie“, in welcher einige Jahre aus dem Leben eines gewissen Jan beschrieben werden; und eine zweite Ebene der Surrealität, genannt „Energie“, die quasi in Jans Kopf spielt und eine fiktive Reise durch die europäische Geschichte geistiger Kultur erzählt.
Jan wächst auf in einer norddeutschen Kleinstadt. Er ist ein junger, ruhiger, dennoch zerrissener und depressiver Mensch, der seine Kraft schöpft aus Träumereien und Sehnsüchten. Er möchte Schriftsteller werden, schreibt Kurzgeschichten und träumt davon, einmal einen großen, philosophischen Roman schreiben zu können, durch den er gleichzeitig sich selbst und auch die gesamte Welt erklären und verstehen würde. Und er liebt Blues-Musik; insbesondere jene Schallplatte, die er mit 14 Jahren aus Versehen und von seinem ersten, jemals selbst verdienten Geld gekauft hat: „Live at Fillmore East“ von der Allman Brothers Band. Jedem Kapitel des ersten Teils dieses Romans ist sowohl eine von Jans Kurzgeschichten als auch ein Lied von besagter LP zugeordnet. Beides soll die inneren Welten es Protagonisten beleuchten. Ebenso hat Jan in jedem Kapitel einen Traum, welcher dann vorbereitet auf den zweiten Teil.
Alles, was Jan tut, scheitert: Er ist schon früh an Diabetes erkrankt, er erleidet eine Vielzahl von Unfällen, Knochenbrüchen und anderen Verletzungen, alle seine Frauen verlassen ihn wieder, er verfällt dem Alkohol und den Drogen. Wie zu allem hat Jan auch zu seiner Familie ein gespaltenes, von dem gemeinsamen Wunsch nach Harmonie geprägtes Verhältnis. Nach einem zutiefst verstörenden Erlebnis im Delirium ändert Jan sein Leben; er macht eine Entzugstherapie und trifft seine ehemalige Freundin Monika wieder. Eines Nachts liest er in ihrer Wohnung jenen schon erwähnten Satz:
Es ist alles eins, und in jedem Einen ist Alles.
Damit verändert sich das gesamte Universum. Der zweite Teil des Romans beginnt, und das, was zuvor nur in Jans Träumen existierte, wird zur Realität. Jan befindet sich nun in einer von ihm selbst als Raumlosen Raum oder als Becken der Unterbewusstheiten bezeichneten Welt. Für ihn erscheint diese Welt wie ein komplettes, zweites Universum - nur dass dieses Universum als ein rein energetisches, eine Singularität, keine wirkliche, sondern nur eine gedachte raum-zeitliche Ausdehnung besitzt. Von Kapitel zu Kapitel unternimmt Jan dort, also quasi in seinem Kopf, eine Reise durch die Geistesgeschichte des Abendlandes vom Mittelalter bis heute.
Und auch für den Leser beginnt nun eine komplett neue Geschichte; denn jeder sollte sich, um den weiteren Verlauf dieses Romans wirklich verstehen zu können, mit den dort erscheinenden, historischen Personen zumindest ansatzweise beschäftigen. Auch ein Grundwissen über den Verlauf der Zeitgeschichte ist nützlich. Denn diente der erste Teil noch dazu, in die Gefühlswelt eines leidenden, depressiven Menschen einzutauchen, sozusagen Empathie zu lernen; so soll der zweite Teil ein komplett neues Welt- und Selbstbild entwerfen, welches ohne die Arbeit des Lesers keinen Sinn ergeben würde.
Namentlich handelt es sich bei diesen historischen Persönlichkeiten um: Meister Eckhart, Wilhelm von Ockham, Martin Luther, Jakob Fugger, Hernan Cortes, Oliver Cromwell, Rene Descartes, Baruch de Spinoza, Isaac Newton, Immanuel Kant, Martin Lampe (der Diener Kants) und Georg Büchner; auch Duane Allman hat einen kurzen Auftritt.
Mit einem Essen bei Immanuel Kant endet der zweite Teil dieses Romans. Nun spiegelt sich das Universum ein zweites Mal; es wird im dritten Teil -wie zuvor schon angedeutet- lebendig. Dort unternehmen alle Personen des zweiten Teils gemeinsam eine Reise in die Neue Welt, nach Amerika. Sie treffen weitere, symbolträchtige Figuren der Zeitgeschichte: Thomas Alva Edison, Sigmund Freud, Albert Einstein, Niels Bohr, Joseph Goebbels, und Adolf Hitler.
Auch mit diesen Persönlichkeiten sollte sich der Leser beschäftigen, wenn er das Buch verstehen will, denn ich beschreibe nicht wirklich die Aussagen oder Lehren aller dieser Menschen, sondern ich benutze diese Dinge, um zu dem Kern der Charaktere vorzudringen, zu ihrem wirklichen Wesen. Mir geht es also nicht um die Diskussion von Werken berühmter Persönlichkeiten, sondern um die Entwicklung einer völlig neuen, anderen Denk- und Fühlwelt, welche sich für mich persönlich und in folgerichtiger Weise durch das Studium und damit aus sich selbst heraus ergibt.
Im Verlauf des dritten Teils bekommt der Roman einen sehr visionären Charakter (wenn das vorher nicht auch schon der Fall war); und wie es sich für eine echte Vision gehört, endet die Geschichte mit einem Blick in die Zukunft der Menschheit.
Eingerahmt wird dieses Ensemble der drei Teile von einem Prolog und einem Epilog, die jedoch umgekehrt ihrer eigentlichen Bedeutung angeordnet sind: Der Epilog steht also am Anfang des Romans, der Prolog am Ende. Dies symbolisiert die grundsätzliche Kreisförmigkeit allen Seins, denn derart kann der Anfang nur das Ende von etwas Anderem und das Ende nur der Anfang von etwas Neuem sein.
Ich erwähne hier absichtlich sehr wenige Dinge über den Fortgang der Geschichte, denn ich möchte -wie schon angedeutet-, dass der Leser sie versteht. Und das kann nur geschehen, wenn er aktiver Teil davon wird. Denn dadurch wird auch dieses Buch lebendig; es pflanzt sich im Leser als eine Form der immerwährenden, geistigen Evolution fort.
Der Roman heißt „Der Wassermann“, weil er Ausdruck dieser geistigen Evolution ist. Nach den Fischen kommt der Wassermann.
Jörg Schneider, im Sommer 2013
Es war ein wundervoller Sommer damals - der letzte freie Sommer vor meiner Einschulung und ein heißer obendrein. Ich sprang am Morgen aus dem Etagenbett, das ich mir mit meinem älteren Bruder teilte, schlang ein wenig Brot mit Marmelade hinunter und ließ mich von meiner Mutter über festes Schuhwerk und den Unbill des Lebens belehren. Noch im Hausflur begann ich, mein Lieblingslied zu pfeifen. Es hieß Hänschen Klein, und ich pfiff es mit Inbrunst, aber auch mit einer verborgenen Enttäuschung darüber, dass der Name nicht Janni Klein war; denn schließlich war ich es ja, der in die große weite Welt hinaus wollte.
Dann machte ich mich fröhlich auf den Weg zu den sogenannten Marien-Wiesen einige hundert Meter entfernt, um dort meine Freunde zu treffen. Unser Plan war es, jene Höhlen weiter zu graben, deren Bau wir am vorherigen Tag begonnen hatten und deren Sinn es war, einen gemeinsamen Ort der Ruhe und des Rückzugs zu schaffen, falls unsere Eltern einmal mehr das Konzept der Liebe als gescheitert betrachten wollten.
Auf dem weitläufig unbebauten Gelände angekommen, hielt ich Ausschau nach den Nachbarsjungen, konnte aber bis auf die Sträucher und Gräser, Disteln und Brennnesseln, den aufgewühlten und nur spärlich bewachsenen Sandhügeln mit ihren kleinen Kinderwegen dazwischen nichts entdecken.
Ich war zu spät -oder zu früh- und marschierte enttäuscht aber zielstrebig die wenigen Meter in die Wiese hinein bis zu jenem Punkt, an dem wir bereits mit Löffeln, kleinen Schaufeln oder mit den bloßen Händen ein beachtliches Stück röhrenartig in die Tiefe vorgedrungen waren.
Der Eingang zu unserer Höhle war ein dunkles Loch, über dem wie unbeteiligt ein altes Holzbrett lag. Rundherum hatten wir die Ergebnisse unserer Arbeit verteilt: Sand, Erde, Steine, Unkraut.
Hier ging es in den Untergrund.
Ich schmiss das Brett beiseite und zwängte mich durch die schwarze Öffnung. Es roch nach schwerem Boden, Wasser und Wurzeln, nach Schweiß und Staub, nach Tier und mir. Ein schmaler Schlauch führte leicht abschüssig vielleicht ein bis anderthalb Meter hinab und vergrößerte sich an seinem Ende zu einer erdigen Blase. Dort konnte ich fast aufrecht sitzen und zurückblicken zu dem nunmehr hellen, jedoch noch immer wie eine Wunde klaffenden Loch, durch das fahles Licht glomm und meine enttäuschten Füße wärmte.
Ich wartete eine Weile, unschlüssig ob noch jemand kommen mochte -irgendjemand- oder ob ich weitergraben sollte.
Allein.
Schließlich wurde es wärmer und wärmer dort unten, und ich kroch zurück ins Freie.
Draußen auf der Marien-Wiese brannte die Sonne heiß und trocken. Ich klopfte mir den Staub und die Erde von Hose und T-Shirt, verrieb alles zu graubraunen Streifen auf meinen nackten Armen. Dann begann ich, wie zum Takt einer imaginären Melodie über dem schlauchartigen Gebilde zu tanzen, so dass unter mir die von Wurzeln und Gras gehaltene Decke der Höhle schaukelte und schwang wie der Tidenhub im Ozean. Mit Traurigkeit und Wut in meinem Herz tanzte und lachte ich, bis der Boden unter mir endgültig nachgab und ich mit beiden Beinen tief in der Erde versackte. Ich befreite mich -und sprang wieder hinein in mein Zerstörungswerk. Immer tiefer versank ich in Fauna und Flora, arbeitete mich wieder hinaus und versank erneut zu meiner selbstgewählten Leidensmelodie.
Abends lag ich unruhig im Bett; über mir atmete heftig mein Bruder und ließ sich nicht stören vom Streit meiner Eltern, der wie Kirchenglocken durch die Wand hallte. Meine jüngere Schwester schlief noch im großen Schlafzimmer, und ich ärgerte mich zum ersten Mal über mich selbst. Ich fragte mich, warum ich die Höhle zerstört hatte, warum ich hätte heulen können und es doch nicht tat, warum ich würde sterben müssen.
Ich hatte schon einmal etwas von einem Gott gehört, der lieb sein sollte; und ich wusste, dass ich lebe. Doch sollte dieser Gott -so wie man erzählte- nur ein großer, dicker, gutmütiger und bärtiger Mann sein, der oben in den Wolken saß?
Wohl kaum.
Gab es ihn überhaupt?
Ich wusste es nicht.
Doch falls ja; würde er mir helfen, nicht sterben zu müssen?
Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, hilflos und ohne Antworten. Meine Eltern hörte ich nicht mehr streiten, denn ich befand mich nun allein in mir.
Tief in mir und voller Angst.
Heftiger Schweiß trat mir aus allen Poren, und für einen kurzen, ewigen Moment wurde mir die Angst vor meinem Tod zu einer Übermacht, zu einem monströsen, unkontrollierbaren Gebilde, das kommen würde, um mich zu holen.
Irgendwann.
Vielleicht sogar sofort.
Doch dann war plötzlich etwas in mir, kam empor aus mir und wuchs an zu einem Gegenentwurf meiner Angst:
‘Ich weiß nicht genau’, dachte ich.
‘Oder vielleicht weiß ich es doch genau. Wenn überhaupt, dann ist der liebe Gott in mir!’
Noch eine Weile genoss ich mein Vertrauen, dann schlief ich endlich ein.
Im Traum balanciere ich auf einer Mauer. Ich sehe mich wie von weit entfernt, und die Mauer ist eigentlich nur ein Schemen, ein dunkler Umriss oder eine Kulisse. Sie führt in Stufen weit hinauf, und ich habe Angst vor jedem einzelnen Schritt, denn am Ende fällt die Mauer ab und endet im Nirgendwo.
Dennoch gehe ich weiter.
Dann stehe ich inmitten von Menschen, die sich alle um mich herum bewegen, ein Ziel, eine Aufgabe haben.
Ich nicht.
Ich schaue nur zu, und ich möchte mit ihnen gehen, kann mich aber kaum bewegen. Als wäre ich gefesselt, lähmt irgendeine starke Kraft meine Muskeln. Ich ärgere mich, kämpfe dagegen an; doch umso mehr Energie ich für den Kampf aufwende, desto stärker werde ich zurückgehalten. Es ist, als würde ich selbst diese Kraft sein.
Plötzlich sind alle Menschen weg, umd ich befinde mich unter Wasser.
Allein und nackt.
Ich schwimme.
Schneller, als ich mich eben noch an frischer Luft bewegen konnte.
Dann fällt mir ein, dass man unter Wasser gar nicht atmen kann. Für einen winzigen Moment fühle ich Angst und Erschrecken. Dann mache ich den Mund auf, …
… und ich kann atmen.
Am Anfang wehte ein böiger, fast fieser Wind und blies das erste Herbstlaub durch die winkligen Gassen. Jans Blick folgte ihren Wegen, wie es rauschend tanzte und einer sonderbaren Energie folgte, sich aufbäumte zu kleinen, schiefen Hosen, dann herab fiel wie braun-graue Damenröcke, um schließlich und immer wieder sein musikalisches Spiel zu spielen.
Als wären die Blätter Teile eines großen, unsichtbaren Mobiles, knisterten und raschelten sie um Häuserecken herum, richteten sich zu kleinen, unbeständigen Hügeln auf und setzten dann ihren Weg der immerwährenden Melodie fort; wie eine unendliche Anzahl tango-tanzender Pärchen, die im Ballsaal ab und zu an einem Tisch Rast machten, um Atem zu holen.
Jans alte Turnschuhe schwammen ungelenk über die schiefen Bürgersteige, während seine Augen weiter dem Laub folgten; im Geiste war er so haltlos wie die Blätter, auf dem Weg zu seiner kärglichen Behausung.
Der Wind zerzauste sein schulterlanges, dunkelblondes Haar, so dass er sich reflexartig immer wieder die langen Strähnen aus den Augen wischte. Er schritt über die dunklen Pflastersteine des Trottoirs, der mehr hingeworfen als geordnet eine schmale Gasse beränderte und zu dem fachwerkenen Mietshaus führte, in dessen erster Etage sich Jans kleine Ein-Zimmer-Wohnung befand. Der Eingang des Hauses bestand aus sieben feuchten Stufen und einer alten, holzgerahmten Glastür, die ganzjährig offenstand und den Blick einlud in einen dunklen, muffigen Flur mit schimmelfleckigen Wänden. Insgesamt vier Parteien bewohnten das Gebäude, welches nur eines war in einer buckligen Reihe aneinander gelehnter und scheinbar wie willkürlich zusammengeklebter, ja fast gewachsener Fachwerkhäuser. Nicht wenige solcher Hausbänder bildeten dann das Zentrum jener norddeutschen Kleinstadt, in der Jan zwar nicht geboren, die aber seit der Scheidung seiner Eltern vor fast 15 Jahren zu seinem heimatlosen Domizil geworden war.
Zur Welt gekommen war er in einer anderen norddeutschen Kleinstadt, am achten neunten neunzehnhundertdreiundsechzig. Es war das Jahr, in dem Kennedy ermordet wurde. Kennedy, der gesagt hatte, dass die USA zum Mond wollten, nicht weil es einfach wäre, sondern ganz im Gegenteil, weil es schwer sein würde.
Jan wollte auch zum Mond, und manchmal sagte man, dass für jeden Toten ein neuer Mensch geboren wird.
Jan hatte seine vier Grundschuljahre in vier verschiedenen Städten und aufgrund eines endlosen Gezerres seiner Eltern um das Wohl ihrer Kinder auch auf vier verschiedenen Schulen verbracht. Neuzehnhundertdreiundsiebzig hatten er und seine Geschwister im zweiten Jahr nach der Scheidung für zwölf Monate bei ihrer Mutter gelebt, die als Verkörperung des Liebevollen nur das Gute wollte und doch gleichzeitig dem Schlechten in dieser Welt völlig hilflos ausgeliefert war. Nachdem sie zuvor schon ein Jahr bei ihrem Vater verbracht hatten, war dies der zweite Versuch gewesen, für alle eine einigermaßen zufriedenstellende Lösung zu finden.
Ein seltsam belangloses Erlebnis war Jan aus dieser Zeit immer im Gedächtnis haften geblieben: Als er eines nachmittags in diesem grauen Jahr allein zuhause gesessen, sich einen Apfel genommen und diesen weit aus dem Fenster der Wohnung im elften Stock hinaus in die Kälte und Funktionalität neu erbauter Wohnblocks geschmissen hatte, war dieser große, runde, pralle Apfel schnurstracks in eine sich unter dem Fenster befindliche, kleine Baumgruppe gesegelt, hatte einen einzelnen, hervorstehenden Ast getroffen und sich wie durch einen gezielten Axthieb in zwei exakt gleich große Hälften gespalten, die dann beide lautlos im Unterholz verschwunden waren.
Mehr nicht.
Beiden Hälften des Apfels waren einfach im Unterholz verschwunden.
Und nachdem sein Vater später endgültig den Prozess um das Sorgerecht für die Kinder gewonnen hatte, war Jans tiefgründige, unformulierbare und doch in allem präsente Erfahrung die des unweigerlichen Scheiterns aller seiner Wünsche und Träume gewesen.
So hatte für ihn das Experiment der Liebe deren Abwesenheit hervorgebracht und gleichzeitig eine unstillbare Sehnsucht nach eben dieser verschwundenen Liebe geschaffen.
Zehn Jahre später hatte das Experiment der Liebe aus den sechziger und siebziger Jahren auch auf gesellschaftlicher Ebene nur noch dessen Sehnsucht danach bewirkt; es war der Geistig-Moralischen-Wende gewichen. Jan hatte Abitur gemacht, obwohl nicht einmal er selbst, geschweige denn sein Vater -ein wilder, dennoch verantwortungsvoller, medikamentenabhängiger Quartalssäufer, ehemaliger Sportler, Koch, Versicherungskaufmann, Playboy und Erzieher dreier nicht minder eigenwilliger Kinder- ihm das zugetraut hätten; während seine Mutter am nicht mehr wieder gut zu machenden Verlust ihrer Kinder tief unten in Süddeutschland, ihrer eigenen Heimat, ein ums andere Mal vor Schmerz zu zerbrechen drohte.
Allein.
Und Jan war an Diabetes erkrankt. diesem seltsamen Ausdruck industrialisierter Gesellschaften, den niemand verstand, aber alle behaupteten zu wissen, worum es sich dabei handelte. Er hatte anfangs nicht einmal gewusst, wie man das Wort Diabetes schrieb, sondern an seinem neunzehnten Geburtstag in völliger geistiger Leere im Krankenhaus gelegen und den aufgehenden Vollmond angestarrt.
Allein.
Der einzig positive Aspekt, den er damals aus diesem Schicksalsschlag hatte ziehen können, war die Tatsache gewesen, dass er somit von der Wehrpflicht befreit worden war; immerhin.
Seitdem lebte er jedoch mit einem Diätplan, den er nicht wollte und den er hasste, weil er jegliche Planung als nicht variabel genug ablehnte. Er lebte mit einem alltäglichen Ritual des Insulinspritzens, also Schmerzzufügens, dem unauslöschlichen Gefühl des Krank-, des Andersseins, der Ungenügendheit. Also ging er noch ein wenig gebeugter durch die Kopfsteinpflastergassen seiner Nicht-Heimatstadt, so als hätte ihm ein Zyklop, ein behaarter Riese, wieder einmal mit seinem großen Knüppel einen Schlag verpasst, der ihn noch tiefer in die Knie gehen ließ.
Und dort stand er nun: vor den sieben Stufen, die hinauf zum Eingang des Mietshauses und hinein in das stinkende Treppenhaus bis zu seiner eigenen, kleinen Wohnung führten. Noch immer wehten die Blätter vereinzelt oder in Gruppen um ihn herum und ließen nicht ab von ihrem imaginären und dennoch sehr realen Musikantenspiel. Er trat ein in das düstere, schlauchartige Gebilde, das nach allem roch, was das Leben oder auch der Tod zu bieten hatte und grüßte einen seiner Nachbarn; einen alten, stinkenden und immer betrunkenen Mann, der wie der moderige Geruch auch schon zum Inventar des Hauses zählte. Wie so oft stand der Säufer in sich selbst versunken, vor sich hin fluchend und einfach dort in seinen eingenässten Hosen.
“Moin”, sagte Jan.
“Mmh…”, kam es zurück, und er konnte die Laute mehr riechen als hören.
Oben angekommen, öffnete er eine ehemals grün lackierte Eingangstür und trat ein in sein Reich: Durch ein winzigen, fast quadratischen und fensterlosen Flur ging es geradewegs in ein ebenso kleines Duschbad, dessen stumpf-gelbliche Kacheln vermutlich mehr Lebensjahre als Jan selbst auf dem Buckel hatten. Nach links öffnete sich türlos ein Küche, die mit nicht viel mehr als einem dreckigen Elektroherd, einer nicht minder verschmutzten Spüle, einem Kühlschrank und einem kleinen Holztisch mit zwei dazugehörige Stühlen schon gefüllt war. Ein schmieriges Fenster forderte den Blick hinaus in den von Wildwuchs, Mülltonnen und ausgeweideten Fahrradleichen bevölkerten Hinterhof. Zur Rechten des Flurs befand sich das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer; ein cirka zwanzig Quadratmeter großer, rechteckiger Raum mit zwei Fenstern zur Straße, einem selbstgezimmerten, unlackierten Bett, mehreren schiefen Regalen und wie wahllos und überall verteilten Bildern, Photos oder Zeichnungen an den Wänden. In der Mitte des Raumes stand ein dreibeiniger Nierentisch, dessen Formschönheit allerdings immer wieder zerstört wurde von gefüllten Aschenbechern, zerdrückten Bierdosen, Zeitschriften, Büchern mit oder ohne Notizen darin, Zetteln mit angefangenen oder sogar beendeten Sätzen darauf. Eingefasst wurde der Tisch von zwei blauen und bequemen, aber abgewetzten Polstersesseln, und getragen wurde er von einem roten, viereckigen Teppich mit kubischen Mustern.
Außerdem gab es noch einen alten Schreibtisch vom Sperrmüll, der beladen war mit zumeist Sachbüchern, Duden oder Lexika. Das Wissen vom logischen Verständnis dieser Welt war hier versammelt: Die Geschichte der Philosophie, auch die der Psychologie, Darstellungen des Bohr’schen Atommodells und Beschreibungen quantenphysikalischer Phänomene, Einsteins raum-zeitliche, Materie und Energie verbindende Formeln und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen daraus, Geschichten vom Krieg und dessen vermeintlicher Religiosität, vom Entdecken und Zerstören Amerikas, von der Kultur der Demokratie und des Streits darüber, Abhandlungen über den Nationalsozialismus, Wörterbücher der englischen und der spanischen Sprache und sogar Zeugnisse einer deutschen Literaturgeschichte, allen voran Büchners gesammelte Werke. In den hakeligen Schubladen lagerten einige zerknitterte Mappen aus Jans Schulzeit, seine pubertären und kläglich gescheiterten Versuche, selbst etwas zu Papier zu bringen, ein missratener, immerhin hundert Seiten umfassender Roman, aber auch drei oder vier seiner Meinung nach schon annähernd gelungene Kurzgeschichten.
Eine davon nannte sich: ‘Der Zwiespalt des Daseins’, und sie sollte nicht mehr, aber auch nicht weniger zu Ausdruck bringen, als die Tatsache, dass Jan sich ganz grundsätzlich als ein zerrissenes Individuum empfand, welches dadurch zu der Auffassung gelangt war, es gäbe eine zweite, hinter dem bloßen Anschein verborgene Wirklichkeit. Er hatte die Geschichte gleich im Anschluss an sein Abitur während einer halbjährigen Anstellung als Elektrikerhelfer mit einem Zimmermannsbleistift auf die Rückseite eines großen Schaltplans geschrieben. Erst nach dieser ersten handschriftlichen Fassung, sozusagen einer Gedankensammlung und einem Formulierungsversuch, hatte er die Story mit Hilfe einer alten, aber schon elektrischen Schreibmaschine in ihre endgültige Form gepresst.
Sie ging ungefähr so:
Der Zwiespalt des Daseins
“Sie nehmen den Bus und fahren raus zur Baustelle.”, sagte sein Chef.
“Um Acht kommt der Monteur aus Hamburg, mit dem gehen sie runter in den Tank und machen die Anschlüsse klar.”
Eine kleine Pause entstand, in der beide kurz überlegten: sein Chef, ob er nichts vergessen hatte und Kurt, ob er vielleicht nicht doch wieder nach Hause fahren sollte.
“Gut?”
“Kein Problem.”
Er zog sich die Daunenjacke über und nahm den Autoschlüssel. Als er die Firma verließ, schlug ihm der Wind entgegen.
Kalt.
So als fehlte es an Beweisen, dass der Winter auch wirklich kommen würde.
Kurt verstaute das Werkzeug im Laderaum -die Zangen, Schraubendreher, Kabelklemmen, Rohrbieger usw.- und ließ den Wagen an; einen japanischen Kleinbus mit Lenkradschaltung, eine Apfelkiste, die man schon bei vierzig in den Vierten schalten musste, weil sie sonst das Radio übertönte.
Er fuhr los, und es dauerte zwanzig Minuten bis zur Baustelle, irgendwo draußen zwischen den Feldern. Der Wagen schlingerte im Wind und übertönte auch im Leerlauf das Radio; Herbststurm fing sich in der kubischen Form des Japaners wie in einem Segel.
Kurt hatte Schmerzen.
Im Kopf.
Er war erst um zwei ins Bett gekommen, hatte in Kneipen gesessen, als müsste er suchen, was ihm während der Arbeit zwischen den Verkabelungen, Bohrungen und Anschlüssen verlorengegangen war, hatte gesoffen, als könnte er das, was er gesucht hatte, dann wieder vergessen und hatte geschwiegen, als hätte er nur zu reden gedurft, wenn er gefragt worden wäre.
Er kam an; der Wind blies hier kräftiger als in der Stadt, noch kräftiger.
Weit und breit war kein Gebäude zu sehen, nicht einmal ein Scheune, in der Schweine unter ihrem dreckverkrusteten Speck hätten frieren können. Rechts von Kurt war mehr oder weniger planierter Bausand aufgeschichtet. Eine braun-graue Masse, wie zum Modellieren geschaffen.
Reifen- und Fußabdrücke füllten die Fläche als einzige Zeichen menschlicher Existenz. In der Mitte des fußballfeldgroßen Areals stand ein verlassener Schaufelbagger. Gelbliche Farbe blätterte an ihm herunter, und wie vom Wind erodiert, zeigten sich eiternde Rostflecke auf dem spröden Lack. Noch weiter rechts zogen sich Kuhwiesen fast bis zum Horizont; so weit entfernt, dass die wenigen noch verbliebenen Tiere im Grau des Himmels untergingen.
Links von ihm lag ein kahler Acker. Zu Streifen verworfene, schwarze, steinige Erde, über die der Wind rollte und Blätter mit sich zog, welche aus dem Mischwald stammten, der das Kartoffelfeld begrenzte.
Direkt vor Kurt führte der sandverschmierte Teerweg, auf dem er gekommen war, leicht abschüssig in einen Wald hinein.
Dort war der Tank in der Erde vergraben wie ein toter Hund.
Die schmale Straße wurde beidseitig von flachen Gräben begrenzt, die durch eine Vielzahl von Sträuchern, Büschen und Gräsern überwuchert waren. Ab und zu kullerten die Blätter des Mischwaldes von links nach rechts über den Teer.
Der Monteur verspätete sich; Kurt fror trotz seiner Daunenjacke, der langen Unterhose und den Arbeitsschuhen mit den dicken Socken. Das Radio rauschte, unterbrach gelegentlich den Empfang. Es hustete wie ein alter Raucher am Morgen. Kurt nahm eine Filterlose, zündete sie an und blies Ringe gegen die beschlagenen Scheiben. Er blieb im Japaner.
Er fühlte sich verloren, und es war nicht so sehr sein Kater, der ihn störte, auch nicht der Monteur, der ihn warten ließ; es war -wie so oft nach einer durchzechten Nacht- eine träge, schmerzvolle Einsamkeit, die ihm förmlich das Gleichgewicht raubte, als hätten Ali Baba und seine Kumpanen ihm einen Besuch abgestattet und ihn in einem Loch ganz tief unten zurückgelassen. Er fühlte sich allein in dieser Welt, und alle anderen Menschen waren oft nur Staffage, Kulisse für seine eigenen Träume und Wünsche. Es war ein Gefühl, das direkt aus dem Bauch zu ihm empordrang - so als wäre es ein Produkt der Verdauung von Alkohol.
Und hier, in dieser einsamen Trostlosigkeit eines kalten Norddeutschland, wurde dieser Eindruck stärker und größer.
Bedrohlicher?
Oder einfach nur wichtiger?
Der Wind schüttelte den Kleinbus wie die Katze den sterbenden Vogel, und der Himmel hatte die Farbe von feuchtem Zement in einer Mischmaschine.
Kurt wurde müde, sein Magen knurrte einen Kanon mit dem Wind und dem Rauschen des Radios.
Auf dem Kartoffelacker lagen vier Feldsteine, so groß wie Medizinbälle.
Rund und groß und glatt.
Sie lagen in einer Reihe wie die Zahlen einer einfachen Addition, dicht nebeneinander. Sie hatten sich zu einem Drittel in die feuchte, krustige Erde gegraben.
Sinnlos, dachte Kurt. Wie sinnlos doch eine gerade Reihe in einer zerzausten Trostlosigkeit ist.
Magen und Wind knurrten.
Irreal, kam es ihm in den Sinn. Das war so irreal wie das Gruselkabinett im dritten Fernsehprogramm. Oder es war die pure Realität, die in Form von Ideen und Bildern aus dem Hirn floss wie die heiße Lava aus dem Mittelpunkt der Erde.
Gerade weil er sich fast jeden Morgen etwas weltfremd vorkam, erschienen ihm der rollende Wind, der rollende Magen, die Kälte und Müdigkeit und der Himmel aus Mörtel wie Gedanken ohne Sinn und Verstand.
In solchen Momenten, dachte er, könnte die Erde auch eine Scheibe sein oder Gott eine läufige Hündin.
Er lächelte.
Und fror.
Vor ihm auf dem Teerweg -vielleicht fünf oder zehn Meter entfernt- kullerte ein schwarzes Blatt schwerfällig von links nach rechts. Es kullerte langsam, ganz langsam.
Langsamer als der Wind.
Wie ein Stein oder ein Stück Teer.
Oder wie ein großer Käfer mit buckligem Rücken.
Kurt dachte an eine Frau, keine bestimmte, irgendeine. Morgens dachte er oft an Frauen. Morgens und abends. Er hatte lange nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Die letzte hatte ihn verlassen, weil er keine Lust gehabt hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Da gab es bessere Entertainer.
Ihm wurde warm. Wie immer, wenn er an Sex dachte. Besonders nachts, wenn er nicht einschlafen konnte und ihm nichts Besseres einfiel als zu onanieren und ganz einfach eine tiefe Beziehung zu einer Frau auf den Sex mit ihr zu reduzieren. Denn das war das Einzige, was man vom Onanieren bekam.
Keinen Wasserkopf.
Keinen Hirnschwund.
Keinen buckligen Rücken.
So wie der Käfer.
Er ließ sich nicht vom Wind beeindrucken, sondern kroch noch immer in fast rhythmischen Abständen über den Asphalt.
Er war ein großer Käfer. Groß und Schwarz.
Ein phlegmatischer, dennoch zielgerichteter, hinterlistiger, ja vielleicht sogar räuberischer Käfer, der Regenwürmer fraß und mit etwas Glück auch einen kleinen Vogel reißen konnte.
Er würde bald über die Straße hinweg und im Gebüsch verschwunden sein.
Verschwunden.
Und dort nichts Besonderes tun, sondern sich mit Banalitäten zufriedengeben.
Im Gegensatz zu Kurt, der noch immer in seiner Daunenjacke fror, noch immer den Geräuschen des Windes lauschte, nicht mehr an Sex dachte und seine Erektion mit Gedanken an die Irrationalität der Welt zu vertreiben suchte.
Es kam ihm vor wie ein großer Trick, eine Falle, die man sich selbst stellte, wenn man nur seinen Augen traute und einfach davon ausging, das die Realität genau das war, was man von ihr hielt.
Objektiv und längst bewiesen.
Denn war es nicht genug zu sehen, dass hier zwischen böigen Winden, zwischen Trägheit, Müdigkeit und Trostlosigkeit vier Steine in einer Reihe lagen und dicke Käfer über den Teer krochen?
Er zündete sich noch eine Filterlose an, blies wieder Rauchringe gegen die Scheiben.
Doch diesmal hätten die Ringe genauso gut auch eckig sein können.
Es war absurd, so absurd wie die menschliche Existenz. Er lebte in einer Welt, deren Geheimnisse sich in dem Maße vermehrten, in dem man versuchte, sie zu lösen.
Gott war nur eine Idee von vielen, und der Sinn des Lebens bestand darin, auf Monteure zu warten, die nicht kamen, Käfer zu beobachten und den Himmel mit Mörtel in einer Mischmaschine zu vergleichen.
Kurt stieg aus; der Wind dröhnte wie Schiffsmotoren. Er machte einige Schritte auf und ab, Sand knirschte unter seinen Schuhen.
Der Käfer hatte fast den rechten Straßenrand erreicht, nur ein paar Steine musste er noch umgehen, um schließlich…
Aus weiter Entfernung näherte sich ein Wagen, ein VW-Bus. Keine Minute später hielt der Deutsche neben dem Japaner, und ein Mann stieg aus.
…zwischen den Sträuchern zu verschwinden…
“Moin!”, sagte Kurt.
“Moin!”, sagte der Monteur.
…verschwinden.
Das Blatt lag am rechten Straßenrand. Es war ein Blatt.
Die Welt war wieder rund und Gott auch keine läufige Hündin.
Und doch…
Und doch besaß das Gesicht des Monteurs; besaß das, was Kurt mit eigenen Augen sehen konnte, etwas eigenartig Starres. Es hatte die Züge eines großen, schwarzen, regenwurmfressenden Käfers.
Also stand er dann in seinem kleinen Flur, der virtuellen Mitte seiner Wohnung, von der aus alle Wege wegführten und alle Türen offenstanden. Er wusste nicht, wohin mit seiner Einsamkeit und seinem Wunsch nach Gemeinsamkeit. Das Schreiben bereitete ihm eine gewisse Form melancholischer Freude, mit der er sich seinem tief empfundenen Leid nähern konnte. Doch bis dato hatte er noch nichts verfasst, was in der Lage gewesen wäre, dieses Leid zu verringern, es aber immerhin für kurze, sehr glückliche Momente in Stolz verwandeln konnte.
Allerdings träumte Jan spätestens seit seinem ersten, misslungenen Versuch davon, einen zweiten Roman zu schreiben, der sich dann ebenso wie ‘Der Zwiespalt des Daseins’ mit den zwei Seiten einer einzigen Wirklichkeit beschäftigen sollte; auch wenn er weder wusste, wie er hätte beginnen, geschweige denn ein Ende finden können.
Jan ging vorerst noch unschlüssig in die Küche, blickte verloren in den spätnachmittäglichen Hinterhof und dessen Stilleben des Verfalls und nahm sich dann eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Gierig sog er die ersten, schaumigen Schlucke aus dem Metall, ging hinüber zum Dreibeiner und setzte sich in einen der Blauen. Auf dem Tisch lagen -neben dem üblichen Müll- zwei Insulinfläschchen und einige noch verschlossenen oder schon gebrauchte Einweg-Spritzen. Er zog sich etwas Alt-Insulin auf entsprechend seiner Vermutung, dass es heute nicht bei diesem einen Bier bleiben würde; angelehnt an die vierstündige Wirkdauer des Medikaments. Ebenso dachte er an seinen Blutzuckerspiegel, nahm jedoch keinen Urinstick, um damit zumindest einen groben Anhaltspunkt über die Höhe des Zuckers zu gewinnen. So genau wollte er es eigentlich gar nicht wissen, und außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass er einigermaßen im grünen Bereich lag.
Der Alkohol entfernte ihn vom Krampf in seinem Kopf, und wenig später ging er erneut in die Küche, um sich eine zweite Dose Bier zu holen. Auf dem Rückweg machte er am Plattenspieler halt, der neben dem roten Teppich direkt an seinem Bett stand. Er drückte auf den Startknopf und setzte sich wieder. Die Allman Brothers spielten ‘At Fillmore East’, es lag die zweite Seite von vieren dieser Doppel-LP auf dem Teller; ‘You don’t love me’ hieß das Stück. Es war ein fast zwanzig-minütiger Blues mit Jazzelementen, nicht enden-wollenden Improvisationen der beiden Lead-Gitarristen und einem aktiven, nach vorne drängenden Rhythmus zweier Schlagzeuger.
Er liebte dieses Stück, und er liebte die gesamte LP. Es war seine erste, jemals eigenhändig erworbene Schallplatte, und er hatte sie aus Versehen gekauft. Weil er damals mit vierzehn Jahren weder englisch konnte, noch überhaupt Ahnung von Musik hatte, sondern einfach nur von seinem älteren Bruder und dessen Freunden tief beeindruckt war. Die Platte hatte sich jahrelang in irgendwelchen Kisten versteckt, weil Jan nach dem ersten Hören zutiefst enttäuscht von der Wild- und Wirrheit der Musik gewesen war. Als er sie dann doch wieder hervorkramt hatte, um zu überprüfen, ob sie wirklich so beschissen war, wie er glaubte, wurde er sofort überwältigt von der Intensität und treibenden Stärke der Musik, der Harmonie der Bandmitglieder, der wunderschönen Melodien, der Tiefgründigkeit und Bedeutungsschwere des Vortrags. Dieses dort aufgezeichnete Konzert wurde im Lauf der Jahre, je mehr er in sich eine Vorliebe für Blues entwickelte, zum ultimativen Derivat all dessen, was Jazz, Rock und Blues gemeinsam zu sagen hatten.
Er selbst spielte auch ein wenig Gitarre.
Sein sechsseitiges, blaues und billiges Cutaway-Modell lag tagsüber einsam und verloren auf dem Bett; dort, wo er die Nächte meist im gleichen Zustand verbrachte. Er hatte kein Ehrgeiz, wirklich zu üben, wenig Talent und noch weniger technische Fertigkeiten. Das einzige Talent, was er hatte -so schien es ihm- war, sich danach zu sehnen, welches zu haben.
Nach dem dritten Bier und der ersten Wiederholung von “You don’t love me” schaltete er die Deckenbeleuchtung ein; eine kahle, nackte Glühbirne an zwei Drähten ohne Erde. Kurze Zeit später gesellte sich zu diesem grellen Licht der matte Schein einer krummen Straßenlaterne, die einige Meter weiter das Kopfsteinpflaster entlang ihre elektrische Energie in die feuchte Abenddämmerung entließ, und Jan sah einmal mehr das düstere Ende eines Tages auf sich zukommen.
“You don’t love me,” sang Greg Allman unnachahmlich lässig und doch schwer.
“You don’t love me, yes I know.”
Jan bezog wie alles in seinem Leben zuerst einmal auf sich selbst. Er wurde also nicht geliebt.
Doch von wem wurde er nicht geliebt? Denn im Moment gab es keine Frau in seinem Leben, die ihn hätte lieben können. Oder eben nicht.
“But if you leave me, pretty baby, dont’t you know, you gonna hurt me so.”
Und plötzlich dachte er das erste Mal -nachdem er das Lied schon dutzende Male, vielleicht sogar hunderte Male, gehört hatte-, dass es nicht unbedingt jemand anderes sein müsste, der oder die ihn entweder liebte oder nicht, sondern dass vielmehr er es wohl selbst war, der sich nicht liebte. Und dass er zusätzlich und gleichzeitig auch nicht von sich selbst verlassen werden wollte.
Er steckte sich eine Zigarette an, filterlos, und schwitzte leicht. Das wäre eine sehr unangenehme Bedeutung dieser auf den ersten Blick so banalen Textzeilen.
Rauchend ging er in die Küche und nahm sich noch ein Bier, das letzte im ansonsten sowieso fast leeren Kühlschrank. Dann trank er, fühlte sich unglücklich mit sich selbst und mit der Tatsache, dass offenbar nicht nur die Welt sich gegen ihn verschworen hatte, sondern er selbst auch. Er schnürte seine alten Turnschuhe, hob seine Daunenjacke vom Boden auf; von dort, wo er sie zuvor einfach hatte fallenlassen.
Schon leicht torkelnd, steckte er sein Insulin, etwas Traubenzucker und seinen Schlüssel ein, löschte das Licht und begab sich hinaus in die hereinbrechende Nacht.
Draußen hatte es leicht zu nieseln begonnen, es war klamm, und die Straßen, Gassen und Twieten zwischen den Fachwerkhäusern waren nass und glitschig. Er rutschte ein wenig über die Steine, fing sich aber sofort wieder und schlingerte dann etwas benommen durch die Altstadt.
‘Ich liebe mich nicht’, dachte er.
‘Wie kann ich dann von einer Frau erwarten, dass sie mich liebt?’
Eigentlich hätte er jetzt heulen können, doch er schluckte nur einmal kurz und begnügte sich damit, die kleinen, herabgeregneten Wassertropfen von seiner Oberlippe zu lecken.
Nicht weit vor sich sah er im Dunkeln ein rotes Neonlicht glitzern. Es war ein kreisrundes Emblem, knapp einen Meter im Durchmesser, und es ragte in die schmale Straße hinein, als würde es an der krummen Hauswand hinab- oder hinaufrollen. In der Mitte dieses leuchtenden Ringes zeugte eine ebenfalls elektrisierte neunundsechzig, sixty-nine, vom Namen der Bar, aber auch von der scheinbaren Erotik des Biertrinkens. Kurz darauf öffnete Jan die schwere Eichentür, die ihm Zugang bot zu einem lauten, verqualmten und stickigen Raum.
Es war ein schmaler, fast fensterloser Ort mit einem langen, hölzernen Tresen zur Linken und den dazu passenden, obligatorisch harten Barhockern, spärlich besetzten, kleinen Tischen gleich rechts und an der Wand entlang, sowie einem weiteren, hinten gelegenen Raum, der den Zugang zu den Urinalen bot. Die meisten der Besucher waren männlich, rauchten, hörten der Musik zu -Soul, Funk, Jazz oder Reggae-, nippten an ihrem zumeist schalen Bier und schauten dem Mädchen hinter der Bar auf die Titten oder den Hintern; einige von ihnen tranken außerdem Kurze oder Whiskey. Auch Jan war wohl hauptsächlich wegen der Bedienung hier, beziehungsweise wegen der Sehnsucht, die ihn erfüllte, wenn er die Zahl über dem Eingang sah und diese in Verbindung setzte mit dem Mädchen.
“Moin, ‘n Halben”, begrüßte er sie, nachdem er seine Daunen an einen der Haken gleich rechts neben dem Eingang gehängt hatte. Dann nahm er -noch klamm vom Nieselregen- Platz auf einem der hölzernen Hocker am Tresen.
“Hallo”, erwiderte das Mädchen und begann zu zapfen.
Sie lächelte, strich sich ihre langen blonden Strähnen aus der Stirn und sah ihn an.
Jan lächelte zurück. Das konnte er. Auch wenn er glaubte, seine innere Verkrampfung und Gehemmtheit würde ihm ins Gesicht geschrieben sein.
Es lief Jazz heute; melodiöse Saxophone und Gitarren mit vielstimmigen Akkorden. Genau das Richtige, um sich zu besaufen und dabei von einer besseren Welt zu träumen.
“Du heißt Jan, nicht wahr?”, stellte sie fest, während sie sein Bier vor ihm auf die Theke stellte, und er nickte etwas verlegen. Fast fühlte er sich ein wenig gestört, so als wollte er lieber von dem Mädchen träumen, als ihr in der Realität begegnen.
Sie war wunderschön.
“Ich bin Monika”, stellte sie sich vor, hantierte mit irgendwelchen Gläsern, Getränken, mit ihren glänzenden Haaren, zupfte an ihrem engen, braunen Wollpullover mit V-Ausschnitt, unter dem ihre nicht allzu großen Brüste harmonisch wippten. Dann verschwand Sie mit einem Tablett im hinteren Teil der Kneipe.
Sie trug keinen BH.
Jan zündete sich eine Filterlose an, sog gierig daran, bis ein leichter Schmerz durch seine Lungen fuhr; dann trank er einen Schluck Bier. Seine Achselhöhlen juckten vor Nervosität. Er fragte sich, warum er nicht wie andere Männer in der Lage war, auf das zuzugehen, was er wollte, sondern immer nur warten konnte, bis irgendetwas passierte, mit dem er dann entweder unzufrieden oder glücklich sein konnte.
Sein Agieren in dieser Welt bestand lediglich aus Reaktion.
Monika kam zurück und lächelte ihn wieder an, was ihm ein Stück Sicherheit vermittelte.
“Alles in Ordnung mit dir?”, fragte sie ihn, und er fühlte sich peinlich berührt, weil ihm seine Unsicherheit und fortwährende Depressivität nun wohl doch anzusehen war.
“Nicht unbedingt”, antwortete er und war im selben Moment erschrocken von seiner eigenen Offenheit, fügte dennoch hinzu:
“Mir gehts beschissen!”
Sie lachte nur, was Jan erröten ließ, und verschwand wieder mit mehreren Gläsern in den hinteren, nur von Kerzen beleuchteten Gefilden der Bar. Er blickte ihr nach, sah ihren kleinen, kräftigen Hintern in ihren engen Jeans wackeln und ahnte, dass sie seine Blicke spürte. Als sie zurückkam, sagte sie:
“Du solltest nicht soviel nachdenken und nur trinken, wenn du Lust dazu hast.”
Wieder errötete er, kratzte sich seine juckenden Achselhöhlen.
“Na ja”, versuchte er Zeit zu gewinnen.
“Das scheint mir eine meiner schlechten Angewohnheiten zu sein.” Noch einmal war er überrascht von seiner lapidaren Ehrlichkeit.
Doch er schmunzelte:
“Doch würde ich das nicht tun, dann wäre ich jetzt nicht hier.”
Monika stockte für einen Moment in dem, was sie tat, und Jan war fasziniert von ihren Lippen, unter denen sich wie hingeküsst ein kleines, zartes Grübchen bildete.
“Wenn du willst, kannst du richtig süß sein”, sagte sie, lächelte und neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, so dass ihre blonden Haare im diffusen Schimmer der speckigen Lampen und halb heruntergebrannten Kerzen golden glänzten.
Ihre Brüste wippten leicht im Takt der Musik.
‘Das ist schon fast gemein von dir’, dachte Jan in Anbetracht seiner Sehnsucht nach Liebe. Er lächelte zurück und wäre gern nicht einfach nur süß gewesen, sondern auch ein Stück weit auch stark. Er wollte immer etwas mehr sein als der, der er war.
Dann trank er den letzten Schluck von seinem Bier, entzündete sich eine weitere Filterlose. Monika stellte ihm ein neues Glas auf den Tresen und verschwand erneut zwischen den Gästen, durchschnitt den Rauch und die Stimmen so elegant wie ein Wellenreiter die salzige Brandung. Als sie zurückkam, stellte sie sich an seine Seite; dort, wo soeben wie zufällig ein Platz freigeworden war. Sie roch nach Zimt und frischgekämmten Haaren, nach Haut und Zigarettenqualm. All das liebte Jan. Ihre kleine Nase kam nah heran an sein rechtes Ohr, er spürte ihren Atem warm in seinem Nacken. Eine Gänsehaut überrollte ihn, und sie legte ihren Arm um seine Schultern.
“Richtig süß”, hauchte sie, und eine kleine, unendliche Pause entstand, in der Monika kommentarlos wieder an ihren Arbeitsplatz ging. Dort angekommen, fragte sie:
“Weißt du eigentlich, was du willst?”
Er überlegte nicht lange.
“Im Grunde nicht; ich glaube, deswegen bin ich ja hier.”
Sie entgegnete:
“Das dachte ich mir, denn das unterscheidet uns: Ich bin hier, weil ich weiß, was ich will, und du, weil du es nicht weißt.”
An jedem anderen Tag hätte Jan sich nun seiner eigenen Erbärmlichkeit wegen geschämt; heute fragte er:
“Und was willst du?”
Zuerst ging sie weiter ihrer Beschäftigung nach, ohne ihm zu antworten: Sie zapfte, mixte Drinks, kassierte oder machte Zettel, lächelte, wackelte mit dem Hintern. Dann kam sie wieder auf seine Seite der Theke, ganz nah an Jan heran, und sie sagte:
“Dich!”