Mela Nagel
Nachtgefangen
(Burning Magic 2)
Roman
Digitale Originalausgabe
Impressum
Ein Imprint der Arena Verlag GmbH, Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg
Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2019
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Covergestaltung: Arena Verlag GmbH 2019, unter Verwendung von Fotos von © stock.adobe.com, Dublin: Bastian Weltjen, klikk, vladmark
Alle Rechte vorbehalten
E-Book Herstellung: Arena Verlag 2019
E-Book Auslieferung: readbox publishing, Dortmund
ISBN: 978-3-401-84065-9
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Kapitel 1
Schnipp - und weg
Ich bin eine tickende Zeitbombe.
Nachdem Robin zusammen mit Phil, Mayhem und Slado das Hauptquartier der Nachtvollen verlassen hatte, versuchte sie genau diesen Gedanken zu verdrängen - nicht sehr erfolgreich. In beeindruckender Geschwindigkeit brach er ständig durch Robins Gedanken-Chaos und setzte sich an die Pole-Position, direkt vor ihre Nase. Wie ein lästiger Streber. Die Panik, die er auslöste, würde bestimmt bald eine Sicherung in ihrem Gehirn durchbrennen lassen.
Es regnete in Strömen, aber keiner der anderen drei schien das zu bemerken. Phil trottete neben ihr her und hing an seinem Smartphone, während Mayhem und Slado vorausgingen, weg vom Bloomberg Gebäude, weg von dem Keller, in dem ihr Leben eine Kehrtwendung gemacht hatte.
Hinein in eine vielleicht sehr kurze Zukunft … Was war da schon ein kleiner Wolkenbruch? Wenigstens befanden sie sich wieder an der frischen Luft. Ein Pluspunkt, der einzige.
Phils Gesichtsausdruck war eine Mischung aus »Das darf nicht wahr sein!«, »Okay, wo ist die Pointe?« und »Fickt euch!«.
Ab jetzt war er ihr Babysitter. Niemand anderes konnte ihr helfen, ihre Magie unter Kontrolle zu bringen, nur er.
Er allein war in der Lage ihr dabei zu helfen, ihre Magie-Quelle zu schließen. Tat er das nicht in regelmäßigen Abständen, würde sie aufreißen, Magie unkontrolliert durch Robin fließen lassen und dabei sie selbst und alles in ihrer Nähe zerstören. Illuminieren. So nannten die Magier es, wenn die Magie einen von innen heraus in Stücke riss. Seit Robin miterlebt hatte, wie ihre Mutter illuminiert war, wusste sie, dass sie so nicht enden wollte, auf keinen Fall.
Für Phil, der ihr einfach nur das Leben retten wollte, hatte sein Eingreifen langfristige Konsequenzen. Glückwunsch zu so viel Zivilcourage.
Auf seine neue Rolle als Babysitter und Retter-in-der-Not hatte er keinen Bock, das hatte er nur zu deutlich gemacht. Eigentlich war er Kampfmagier – was immer das genau bedeutete. Zu seiner Jobbeschreibung gehörte es jedenfalls nicht, sich um Magiegeborene zu kümmern. Er warf ihr einen finsteren Blick zu, seufzte und sagte etwas in sein Handy. Als ob Robin Lust auf diese ganze Kiste hatte. Sie war es, die jederzeit illuminieren konnte, quasi einem Fuß im Sarg stand.
Und mit dir auch alle Bewohner Londons. Und somit auch Phil.
Ob die Haare in ihrem Nacken sich wegen ihrer Gedanken oder wegen des kalten Regens, der ihr den Rücken hinablief und ihre Klamotten durchtränkte, aufstellten, wusste Robin nicht.
Wenn sie es nicht schaffte zu lernen, ihre Quelle zu schließen – ohne Phils Hilfe – würde sie enden wie ihre Mutter. Tot. Und dabei wie eine Massenmörderin Menschenleben und ganz London auslöschen. Wie sollte sie es nur hinbekommen, ihre Magie unter Kontrolle zu kriegen? Was, wenn sie es nicht schaffte? Wenn sie wirklich sterben musste! Der Gedanke raubte Robin fast den Atem. Kein Wunder, dass Slado ihr immer wieder nervöse Blicke zuwarf. Sein Schicksal und das seiner Freunde hing an einer untrainierten Magierin.
Robin ballte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich auf den Regen. Schwer, kalt und nass prasselte er auf sie herab. Kälte hatte ihr schon immer geholfen, einen klaren Kopf zu bekommen, aber heute schaffte es selbst der Londoner Winterregen nicht.
Einatmen. 5, 4, 3, 2, 1. Ausatmen. 5, 4, 3, …
Zu ihrer Linken tauchte zwischen zwei Hochhäusern die Kuppel der St Paul’s Cathedral auf, die Robin zuvor fast dem Erdboden gleich gemacht hatte. Sie rieb sich über die Innenfläche ihrer Hand. Das Feuer, so nannte Robin ihre Magie, hatte das getan. Es war durch Robin geschossen, als wäre sie nichts weiter als ein Verbindungsstück – willenlos und ohnmächtig - und hatte den Stein der Kathedrale in Staub verwandelt, als wäre er nichts anderes als trockenes Toastbrot. Dass die Kuppel noch immer in den grauen Winterhimmel ragte, verdankte sie allein Phil. Er hatte ihre Quelle geschlossen und das Schlimmste verhindert. Es war nur ein kurzer Ausblick auf das gewesen, was Robin London antun könnte. Und es hatte alle bis ins Mark erschüttert. Nie wieder wollte sie sich ihrer eigenen Magie so ausgeliefert fühlen. Nie wieder.
Ihr Herz stolperte. Das Gefühl der Hilflosigkeit tobte wie ein Tornado in ihr. Eins nach dem anderen. Atmen … das ist ein guter Anfang.
Sie holte tief Luft. Du bist eine tickende Zeitbombe. Aber – sie stieß die Luft aus – du kannst es lernen. Konzentrier dich.
»Wann fangen wir mit dem Üben, dem Quellenschließen an?« Je schneller, desto besser.
»Sobald es möglich ist«, erwiderte Phil, was Robin nicht zufrieden stellte.
»Und das ist wann?« Wieso musste er sich jede Info aus der Nase ziehen lassen?
»Es gibt ein Protokoll, wie Dinge abzulaufen haben.«
»Ach? Für mich? Die erste Magiegeborene?«
Phil verdrehte die Augen. »Du musst untersucht werden. Verarztet.«
»Mir geht es gut, ich brauche keinen Arzt. Wir sollten so schnell wie möglich-« Weiter kam sie nicht.
Phil blieb stehen und seine Hand legte sich auf ihren Unterarm und hob ihn an. »Das ist nichts?«
Robin starrte auf ihre Fingerkuppen. Die Haut war blutig und offen, einige Fingernägel waren abgebrochen. Sie hatte das gar nicht bemerkt. Es sah aus, als hätte sie versucht ihre Haut mit Sandpapier abzureiben. Es fühlte sich auch genauso an. Ihre Gedanken spulten wie von allein an die richtige Stelle in ihrer Erinnerung: Auf der Flucht vor Mayhem und ihren Feuerbällen, aus der Bibliothek der Pulham Society, war sie eine Mauer hinabgeschrammt. Sie hatte es vollkommen vergessen. Es fühlte sich so weit weg an, als wäre es Teil eines anderen Lebens.
»Von deinem Gesicht brauche ich gar nicht erst anzufangen. Du siehst aus, als wärst du in eine üble Prügelei geraten«, sagte Phil leise. »Woher hast die blauen Flecken?«
Robin versteifte sich. Tim. Der Typ, für den sie das Buch aus der Bibliothek gestohlen hatte, wegen dem all das überhaupt erst ins Rollen gekommen war. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte er mit aufgerissenen Augen dagestanden und zugesehen, wie Robin St Paul’s fast in ihre Einzelteile zerlegt hätte. Das war hoffentlich das letzte Mal, dass sie diesen Mistkerl gesehen hat. Klar, er hatte ihr ein Dach über dem Kopf geboten, als Robin mehr oder weniger auf der Straße gehaust hatte, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, die Hand gegen sie zu erheben.
Phils Augen verengten sich, als spürte er die Wut, die Robin durchzuckte. Sie wollte nicht über Tim reden, nicht über ihr Leben, über all das, was diesen Phil überhaupt nicht zu interessieren hatte. Robin machte sich los von ihm. Er war ein Reader, jemand, der mit Magie Gedanken lesen konnte. Auf keinen Fall wollte sie, dass er in ihren Gedanken sah, wie jämmerlich ihr Leben bisher gewesen war. Aber etwas in seinem Blick sorgte dafür, dass Robin ihn weiter anstarrte. Seine Locken klebten, nass vom Regen, auf seiner Stirn. Dabei sah er alles andere als unsexy aus. Phil ungleich sexy, verstanden Gehirn?! Sie musste von ihm lernen, und das schnell. Alles andere war nicht wichtig. Punkt. Ob er auch ohne Körperkontakt Gedanken lesen konnte? Schnell sah Robin weg, zu Slado und Mayhem, die zwischen zwei modernen Wohnblocks verschwanden.
»Das muss sich auf jeden Fall jemand ansehen«, sagte Phil, als hätte er tatsächlich mitgelesen und setzte sich wieder in Bewegung. Robin folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Weiß er Bescheid? Er wirkte so unnahbar wie zuvor. »Du wirst untersucht, um zu sehen, ob du Schlimmeres als das da abbekommen hast. Danach sehen wir weiter. Das hat nichts damit zu tun, dass du eine Magiegeborene bist. Denn dafür«, Phil seufzte, »gibt es kein Protokoll.«
»Kein Magiegeborenen-tickende-Zeitbomben-Protokoll. Check. Ihr solltet euch besser vorbereiten – für die Zukunft.«
Phils Kiefermuskeln spannten sich an. »Wenn es eine Zukunft gibt, bin ich mir sicher, dass sich Q darum kümmert. Und das wiederum liegt ganz an dir, Magiegeborene.«
Bevor Robin antworten konnte, beschleunigte er sein Tempo und schloss zu Mayhem auf, die ein paar Meter vor ihnen wartete.
Magiegeborene am Arsch. Sie war der Freak unter den Freaks. Ihr Traum, irgendwann ein stinknormales, langweiliges Leben zu führen, ohne Magie, war mit dieser Magiegeborenen-Neuigkeit geplatzt.
Selbst für die Nachtvollen, die Hüter der Magie Londons, war das alles neu. Und sie existierten anscheinend schon so lange wie London selbst. Die geisterhaften Abbilder von Queen Victoria, Churchill, Shakespeare, Cupido, einem Löwen vom Trafalgar Square und einem Kerl in Toga waren mindestens genauso geschockt wie Robin über diese Erkenntnis. Denn klipp und klar gesagt bedeutete das, dass diese unsterblichen Wesen, die die Kontrolle über die Magie besaßen, zu Sterblichen werden konnten. Durch sie, Robin Harlow, 17, Möchtegern-Magierin.
Ich bin der unlustigste Witz der Magiegeschichte.
Ein Magiegeborenen-Witz. Der erste ihrer Art, vielleicht auch der letzte. Auf jeden Fall war sie die erste Magiegeborene, die ihre eigene Geburt überlebt hatte. Deshalb waren ihre Zellen mit Londons Magie, die unter der Stadt in einem magischen Strom floss, verwoben. Für immer. Gekettet an eine Stadt, verbunden durch unsichtbare Magie-Fasern – wenn man das so nennen konnte. Niemand wusste, dass Magiegeborene existieren konnten. Dass ein ungeborenes Kind die Magie seiner Mutter aufnehmen konnte, ohne zu sterben oder bei der Geburt zu illuminieren. Robins Vorteil war gewesen, dass sie außerhalb Londons zur Welt gekommen war. Fernab vom Magiestrom, der bisher jedes magiegeborene Kind sofort in Licht aufgehen ließ.
Ihr Herz hüpfte in ihrer Brust. Es fühlte sich an, als wäre es ein Igel auf einem Trampolin. Während alle Magier ihre Magie durch die Nachtvollen bekommen und – viel wichtiger - wieder verlieren konnten, gab es diesen Ausweg für sie nicht. Nicht, dass diese Magie-Junkies das je wollen würden.
Sie sah Mayhem, Phil und Slado zu, wie sie leise diskutierten. Magier. Wie sie. Nur: Sie liebten die Magie. Sie sahen sie als ein Geschenk an. Sie stellten ihr Leben freiwillig in ihren Dienst. Anders als Robin, die nie eine Wahl gehabt hatte.
Vielleicht wachte Robin doch noch irgendwann auf und lag in ihrem Bett, zuhause in Lemington. Ihre Mutter nicht tot, ihr Vater kein Arsch und sie ein ganz normales Mädchen, dessen größtes Problem ein Pickel auf der Nase war.
Träum weiter!
Robin schnaubte wütend. Das Wasser in ihren Sneakern fühlte sich verdammt real an. Slado warf ihr zum gefühlt fünfzigsten Mal einen Blick zu, der abschätzte, wie lange er wohl noch hatte, bevor ihn das Zeitliche segnete. Wegen Robin. Als sich ihre Blicke trafen, wandte er sich ertappt ab. Robin versuchte ihn zu ignorieren, aber ihr Herz-Igel konnte es nicht, sondern legte noch einen Zahn zu.
Jeden Tag würde er sie so ansehen. Jeden Tag. Als wäre sie ein rosarot-grün-gestreiftes Zebra, das drohte, ihn bei lebendigem Leib aufzufressen. Und er hatte verdammt nochmal ein Recht dazu, sie genauso anzusehen. Sie atmete gegen die Panik an, die in ihren Verstand kroch, aber es half nichts. Tränen stiegen in ihre Augen und Gänsehaut raste über ihren Rücken.
Du kannst es lernen. Du kannst lernen, das Feuer zu kontrollieren. Sie blinzelte die Tränen weg. Sie würde nicht weinen. Nein. Dass jetzt auch Mayhem zu ihr sah und dabei ihre Lippen schmaler wurden, gab dem Gefühl von Hilflosigkeit noch mehr Raum.
»Hört auf mich so anzustarren!«, fauchte sie. Alle sahen sie jetzt an. Toll.
»Du bist eine einmalige Sensation. Gewöhn dich lieber daran«, rechtfertigte sich Mayhem mit einem Grinsen, während Saldo ein »Sorry« murmelte. Phil seufzte nur.
»Vielleicht solltet ihr Eintritt verlangen«, sagte Robin. »Fünf Minuten Magiebombe gucken für fünf Pfund.«
»Hm«, überlegte Mayhem. »Gute Idee! Sollten wir alle das hier überleben, fahren wir damit dann in Urlaub.«
»Mayhem!«, sagten Slado und Phil gleichzeitig. Letzterer schüttelte den Kopf. »Halt den Mund und beweg deinen Arsch.«
»Zu Befehl, Mister Lexikon.« Mayhem salutierte und schritt auf eine Häuserreihe zu. Alte, schmale Häuser, mit weiß-rotem Fachwerk und so schief, dass sie jeden Moment umkippen könnten.
»Wohin genau gehen wir eigentlich?« Bisher war Robin viel zu beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken.
Mayhem drehte sich um und lief rückwärts weiter. »Zu uns. Zu Q.«
Erst jetzt bemerkte Robin, dass sie auf ein uraltes Eisentor unter einem der Fachwerkhäuschen zuliefen. Es war geöffnet und führte in den grünen Vorhof einer Kirche. Vorhof? Es war ein Friedhof. Grabsteine, schief und verwittert, ragten aus der grünen Wiese vor dem Kirchenportal. Ein Kirchturm bohrte sich in den Himmel. Erst jetzt begriff Robin, dass sie auf dem Weg zurück zu Q, der Organisation, die hinter allem Magischen in London steckte, waren. »Zu eurer super-geheimen Magier-Polizei?« Nichts anderes war diese mysteriöse Ein-Buchstaben-Organisation in Robins Kopf.
Mayhem grinste. »Ja, genau. Warte, bis du unser Batmobil siehst. Grandios!«
Mayhem war … speziell. Ihr filigranes Porzellanpuppengesicht täuschte, denn vermutlich war bei ihr eine Sicherung durchgebrannt. Ach was, eine? Mehrere! Kein Wunder, bei den Feuerbällen, die sie werfen konnte. Robin würde ihr Kennenlernen nie vergessen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, aber seit ihrem Einbruch in die Bibliothek der Pulham Society waren gerade mal vierundzwanzig Stunden vergangen. Höchstens.
»Was bedeutet Q?«, fragte sie, um sich weiter abzulenken. Die Grabsteine halfen nicht unbedingt dabei.
»Schola Curiosa.« Es war das erste Mal, dass Phils Miene sanfter wurde, seitdem die Nachtvollen ihm eröffnet hatten, dass er ab jetzt hauptberuflich Babysitter für Robin spielen würde. Dieses Gesicht stand ihm viel besser, fand Robin.
»Achtung!«, rief Mayhem und hob schützend die Hände vor ihr Gesicht. »Lexikon-Alarm!«
Phil verdrehte die Augen. »Q steht für curiosum. Das ist Latein und bedeutet so viel wie neugierig und eigenartig. Da man uns Magier für sehr seltsam hielt, wurde die Akademie, an der Magier ausgebildet werden, Schola Curiosa, also Die seltsame Schule genannt. Aus der offiziellen Bezeichnung Schola Curiosa wurde dann Q, wegen der Aussprache von curious. Nur wenn es richtig wichtig-offiziell ist, verwendet wir den alten Begriff. Ansonsten sagen alle Q.«
»Applaus!« Doch nur Mayhem klatschte.
»Ich habe sogar gehört, dass die Queen nur noch Q sagt«, mischte sich Slado ein. »Vielleicht wegen dem Q am Anfang. Sie soll ja Humor haben.«
»Die Queen? Ist sie auch eine …?« Robin stockte.
»Nein.« Mayhem lachte. »Aber was für eine Vorstellung!« Sie legte ihre Hände an ihren blonden Afro. »Krönchen festhalten!«, rief sie mit verstellter Stimme. Sie klang wirklich ein bisschen wie die Queen. »Hier kommt ein Feuerbällchen!«
Slado lachte, aber Phil schüttelte den Kopf. Er senkte die Stimme als zwei Touristen, ganz klar durch den Reiseführer und den Union-Jack-Regenschirm erkennbar, aus Richtung Kirche an ihnen vorbeigingen. »Die Krone unterstützt und schützt Q von Beginn an. Rahere, ein Mönch, hat im Mittelalter das Kloster - und somit Q – gegründet, um metahumanen Wesen ein Zuhause zu geben. Es gab zwar schon immer Magier, aber zu manchen Zeiten war es mehr als gefährlich dazuzugehören.«
»Hashtag Inquisition«, warf Mayhem von vorne ein. »Die Krone fand uns ganz praktisch. Mit dem ganzen Gedankenlese-Zeug und so lässt es sich leichter regieren.« Als sie weitersprach verstellte sie wieder ihre Stimme. »Hallo, Herr Rebellionsführer. Wollen Sie einen Tee? Ja, wunderbar, setzen Sie sich doch. Hier nehmen Sie mal die Hand dieses netten Herren, der rein zufällig ein Reader ist. Ja, genau, richtig, die Rebellion ist groooßer Unsinn. Zack!« Ihre Stimme klang wieder so wie immer. »So einfach.«
»Heute natürlich streng verboten«, erinnerte Phil sie.
»Natürlich.« Mayhem zog eine Grimasse als Phil von ihr zu Robin sah.
Robin musste kurz grinsen. Auch wenn Mayhem voll drüber war, irgendwie mochte Robin ihre lockere Art. »Ein uralter Verein, der im Auftrag der Nachtvollen für Recht und Ordnung sorgt. Wenn das mal nicht nach Superhelden klingt.«
»Meine Rede!« Mayhem hielt Robin die Hand für ein High-Five hin. Robin wich ihrer Hand gerade noch rechtzeitig aus. Dankbar sein, okay. High-Five? No way! Diese Hände hatten Robin schon mit Feuerbällen beworfen! Eine gewisse Distanz konnte also nicht schaden.
»Ach, komm schon!« Mayhem ließ ihre Hand erst nach ein paar Sekunden sinken. »Na gut. Wir werden schon noch Freunde. Lieber zusammen sterben, als allein.«
Ihr letzter Satz versetzte Robin einen Stich.
»Hör auf, Mayhem«, fauchte Phil. »Lass sie mit deinen Witzen in Ruhe.« Oh, das war ja richtig nett von ihm. »Wenn du sie nervös machst, haben wir nur noch weniger Chancen, sie in den Griff zu kriegen.«
»Spielverderber«, konterte Mayhem.
»Und wie bekommt ihr mich in den Griff? Steckt ihr mich wieder in die Gummizelle?«
»Du bist keine Gefangene«, raunte Phil.
»Ah ja, ich vergaß. Alles freiwillig, total ungezwungen.« Als ob.
»Da du in meiner Nähe bleiben musst, ziehst du bei uns ein«, erklärte Phil. »Anordnung von B.«
»Bei euch dreien?« Robin deutete in die Runde. »Das ist ein Witz, oder?« Sie wollte nicht in die Freak-WG ziehen. Dass B, die Chefin der Truppe, sie ungefragt dort reinstecken wollte, ging ihr gegen den Strich.
»Nein. Witze wären lustig«, sagte Phil. »Du wohnst ab jetzt bei Slado, Kerra und mir, auf dem Gelände von Q.«
»Kerra? Die Messer-Tante mit dem Aufschlitz-Tick, der ich vermutlich die Nase gebrochen habe?«
»Jap.«
»Scheiße.« Robin wünschte sich, dass sich die grauen Wolken auftaten und sie wegschwemmten.
»Ja«, Phil seufzte. »Das wird interessant.«
Interessant? Kerra wird mich umbringen. Nur zu gut konnte sich Robin an das Geräusch erinnern, als sie die Tür der Gummizelle, in die Kerra sie hatte sperren wollen, in ihr Gesicht gerammt hatte. Robin war davongestürmt, während Kerra mit blutüberströmtem Gesicht am Boden liegengeblieben war. An ihrer Stelle wäre Robin mehr als stinksauer. Sie wollte sich nicht vorstellen, was Kerra mit ihrem Messer anstellen würde, wenn sie Robin wiedersah.
»Gibt es keine andere Möglichkeit, mich unterzubringen?« Alles wäre besser, als mit Kerra unter einem Dach zu schlafen. Nie im Leben würde Robin ein Auge zubekommen.
»Du hast die Wahl«, sagte Phil und der sarkastische Unterton in seiner Stimme gefiel Robin gar nicht. Als wären seine Handflächen Waagschalen hob und senkte er sie. »Kerra. Oder Illuminieren.«
»Wahnsinnsoptionen …«
Sie musste in Phils Nähe bleiben. Das oder – BUMM!
Das Rauschen des Regens klang hier auf dem Friedhof noch viel lauter. Es ähnelte dem, das die Nachtvollen von sich gegeben hatten, als Robin sie vor weniger als zwei Stunden gebeten hatte, sie von dem Feuer zu erlösen. Sie waren gescheitert. Ihr kleiner Tross hielt direkt auf die Eingangstür der Kirche zu. Robin wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Sie war abhängig, von Phil. Egal, wie sie das alles fand, es würde so laufen wie er – und Q – es für richtig hielten. Abhauen war unmöglich. Sie konnte die Stadt – und Phil - nicht verlassen. Robins Blick blieb an einem der Grabsteine hängen, ein verwittertes Steinkreuz, die Buchstaben darauf waren nicht mehr zu entziffern. Die blauleuchtende Gestalt ihrer Mutter zuckte durch ihre Gedanken. Von ihrer Mutter war nichts übriggeblieben, das man hätte beerdigen können. Robin blieben nur die Erinnerungen. Und die Magie, die Robin in sich trug, denn die hatte eigentlich ihrer Mutter gehört. Die Nachtvollen hatten sie ihrer Mutter übertragen, genau in dem Zeitraum, als sie mit Robin schwanger gewesen war. Nur hatte das niemand gewusst, und so hatte Robin unbemerkt einen Großteil der Magie abbekommen.
Und dafür hast du deine Mutter zerstört! Du hast ihr den Großteil ihrer Magie entrissen, sie zu einem Schatten ihrer selbst gemacht. Kein Wunder, dass dein Vater dich hasst!
Sie hasste sich selbst dafür. Robins Kehle schnürte sich zu. Sie sehnte sich nach einer ruhigen Ecke, wo sie niemand fand, wo sie den ganzen Frust, die Wut und ihre Angst herausschreien konnte. Zuhause, in Lemington, hätte sie sich auf ihre Bank unter der Trauerweide am Fluss verzogen. Robin schüttelte sich. Ihre magische Quelle, dort wo die Magie in Robins Körper strömte, war ein genaues Abbild ihres Lieblingsortes. Selbst das hatte die Magie ihr vermiest. Robin seufzte und blickte nach oben. Über den Zinnen des mächtigen Kirchturms jagten graue Wolken dahin und der Regen fiel in tausenden kleinen Fäden auf sie herab. Jeder Tropfen, der ihr Gesicht traf, fühlte sich lebendig an. Ganz anders als sie selbst sich fühlte. Der Kloß in ihrem Hals wuchs. Wie oft würde sie den Regen noch auf ihrer Haut spüren? Der Cocktail aus Wut, Angst und Tatendrang in ihr kam wieder in Bewegung. Robin schwankte. Sie wollte losbrüllen und -
Und was bringt das? Eins nach dem anderen. Heute stirbst du nicht. Vermutlich.
Ein Lachen glitt über ihre Lippen. Wie witzig es wäre, wenn ihr Todesurteil von einer Lungenentzündung besiegelt werden würde und nicht durch Magie.
Ein Quietschen ertönte und Robin sah zu Phil, der die schwere Holztür der Kirche öffnete und als erstes eintrat.
»Da wären wir«, sagte Mayhem und folgte Slado durch die Tür.
Robin zögerte. Am liebsten würde sie hier im Regen stehen bleiben, für immer. Den Moment einfrieren und sich nur auf die Regentröpfen konzentrieren, alles andere vergessen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.
»Komm schon!«, rief Phil ungeduldig von der Tür. »Wir haben nicht ewig Zeit.«
Robin stöhnte, öffnete die Augen und setzte sich in Bewegung. »Ich wusste nicht, dass der Herr einen so vollen Terminkalender hat, Entschuldigung.«
»Du weißt einiges nicht …«, knurrte Phil und ließ die Tür hinter sich zufallen, kaum dass Robin in der Kirche war.
»Was freue ich mich auf unsere gemeinsamen Stunden«, murmelte Robin.
»Ich erst.«
Eine Frau mit weißen Haaren und dicker Brille, die an der Kasse im Vorraum saß, blickte auf, als Phil mit Robin durch den kleinen Eingangsbereich der Kirche an ihr vorbeiging. Als sie Phil erkannte, lächelte sie und widmete sich wieder dem Buch auf ihrem Schoß.
Zusammen betraten sie den Hauptraum der Kirche. Sofort umfing Robin Ruhe und das erste Mal seit Stunden verlangsamten sich ihre Gedanken. Robin blieb stehen. Das Prasseln des Regens trat in den Hintergrund und vermischte sich mit der Orgelmusik, die anscheinend vom Band kam. Es roch nach Weihrauch. Müdigkeit und Erschöpfung krochen urplötzlich in Robins Glieder. Sie gähnte, während sie sich umsah.
Auf beiden Seiten der Kirche spannten sich breite Bögen über massiven Säulen und trennten so zwei Seitenschiffe vom hohen Hauptraum der Kirche. Zwei weitere Etagen mit Säulen türmten sich zu einer Decke aus bunt bemalten Holzkassetten. Gewölbe ruhten auf unverputzten Backsteinwänden, an denen Bildern von Heiligen hingen, die Robin nicht kannte. Vor einer Marienstatue steckten lodernde Kerzen in einem Bett aus Sand. Die vielen Holzbänke waren leer, bis auf eine Frau, in der ersten Reihe. Sie bemerkte die vier gar nicht.
»Eure Kirche ist offen für Touris? Ist das nicht etwas … nachlässig?« Robins Stimme hallte leise von den Wänden wieder.
Mayhem zuckte mit den Schultern. »Menschen sind blind, wenn es um die Magie geht. Wer würde eine alte, renovierungsbedürftige Kirche mit Magie in Verbindung bringen?«
Robin musste ihr Recht geben. Wenn Robin irgendwo nach Magie suchen würde, dann nicht hier. »Gehört die alte Frau am Eingang auch zu eurem Verein?«
»Oh ja«, antwortete Mayhem. »Agnes ist ein absoluter Schatz. Sie backt die besten Marzipan-Erdbeer-Törtchen der Welt. Verdirb es dir nicht mit ihr!«
Robin biss sich auf die Zunge. Marzipan-Erdbeer-Törtchen backende Magierinnen. Ohne Scheiß, das musste sich doch irgendwann alles als großer »Verstehen Sie Spaß?«-Gag herausstellen! »Ich glaube, ich brauche eine Mütze Schlaf.«
»Kriegst du schon noch. Zuerst!« Mayhem breitete die Arme aus. Sie sah dabei ziemlich beeindruckend aus. Groß, schlank, zwischen den Locken ihres blonden Afros glitzerten die Regentropfen im Kerzenlicht und in ihrem Gesicht lag nichts als Glück und Zufriedenheit. »Saug das hier ein! Ich liebe die Atmosphäre! Hier liegen die Wurzeln von Q. Spürst du das? Wenn du das hier verstehst, verstehst du die Magie.«
Robin blinzelte Mayhem an. »Eine Kirche? Wie soll ich eine Kirche verstehen?« Zugegebenermaßen mochte auch Robin die Ruhe und Wirkung der Kirche. Aber sie würde es nie zugeben. Nicht vor Mayhem oder Phil.
Mayhem seufzte. »St. Bartholomew the Great ist sozusagen der Ursprung von Q.« Sie deutete auf die größte Holzkassette der Decke: Ein kunstvoll geschnitztes Q wand sich in einem Sechseck. Darunter eine Hand, deren Finger sich um einen Dolch schlossen. »Alle Magier, die von den Nachtvollen Magie erhalten, lernen und arbeiten hier, schon seit dem frühen Mittelalter. Nach außen hin war es nur ein einfaches Kloster. Damals war das hier noch nicht das Zentrum von London. Die Kirche und das Kloster wurden 1124 -«
»1123«, korrigierte Phil sie.
»Nicht jeder kann sich auf Zuruf in ein Lexikon verwandeln. Also«, sie drehte sich wieder Robin zu. »1123 gegründet, am Stadtrand. Seitdem ist es unser Sitz.«
Mayhems Begeisterung sprang nicht auf Robin über. »Und meine Mum und mein Dad wussten davon«, murmelte Robin und starrte auf das Q über sich. Unglaublich, dass ihre Eltern ihr diesen wichtigen Teil ihres Lebens verschwiegen hatten. Der Kloß in ihrem Hals kehrte zu seiner vollen Größe zurück. Alles hätte anders sein können! Ihre Mutter könnte noch am Leben sein! Robin hätte ihr vielleicht nie die Magie genommen. Aber dann wärst du selbst schon längst tot …
Robin fand es schwer zu atmen. Wenn sie ihr wenigstens davon erzählt hätten, wenn sie gewusst hätte, dass sie nicht alleine war, dann … hätte das rein gar nichts geändert.
Sie wäre immer noch der Freak, der sie war. Selbst unter Magiern, zu denen sie eigentlich gehören sollte, war sie die Außenseiterin. Sie gehörte nicht dazu. Sie gehörte nirgendwo dazu. Es war schon immer so gewesen und es würde immer so bleiben. Sie war keine von ihnen.
Phil setzte sich wieder in Bewegung und sie gingen einen düsteren Flur hinab. Die breiten, bunten Fenster in den Rundbögen zur rechten Seite waren blind vor Schmutz und es roch nach Schimmel. Ohne die drei wäre Robin sicher nicht auf die Idee gekommen, gerade diesen Weg einzuschlagen. Für die drei war es Alltag.
»Seit wann habt ihr eure Magie?«
»Ich seit fast fünf Jahren«, antwortete Mayhem stolz. »Phil vier. Kerra erst seit einem Jahr und Slado seit drei, oder?«
»Yes, Ma’am!«
Das war nicht lange und doch hatten sie ihre Magie vollkommen unter Kontrolle. Wahnsinn. »Wie geht das jetzt mit mir weiter?«
»Wir üben«, antwortete Phil. »Außerdem wirst du an unserem ganz normalen Alltag teilnehmen.« Dass er eine Grimasse schnitt, ließ trotz aller Müdigkeit Wut in Robin aufflammen.
»Eurem strenggeheimen Alltag? Wow. Ich bin beeindruckt. Es bleibt mir wohl auch nichts erspart.«
»Schieß los, was denkst du tun wir den ganzen Tag?« Seine Augen funkelten. »Sitzen im Kreis und beschwören Geister? Oder suchen arme Unschuldige aus, die wir mit Magie quälen?«
So ungefähr? »Ich hatte eher an so etwas wie das An-sich-Reißen der Weltherrschaft gedacht.« Tatsächlich stellte sie sich das Leben bei Q als ernst und traurig vor. Ein Haufen verrückter Nerds, die den ganzen Tag Magie benutzen wollten. Weil es ihnen irgendeine Art von Kick zu geben schien, den Robin nicht nachvollziehen konnte.