A. J. Steiger: Jeder von uns ist ein Rätsel

Andere Menschen zu verstehen ist für Alvie eine Herausforderung. Ihr Lieblingsbuch ist die Kaninchensaga »Unten am Fluss« und richtig wohl fühlt sie sich nur in ihrem Job im Zoo, bei den Tieren. Doch als sie Stanley kennenlernt, ist alles anders: Er interessiert sich nicht nur für Quantenphysik wie sie, sondern ist auch unendlich geduldig. Aber auch Stanley fällt es schwer, sich zu öffnen. Und es ist ein langer, zum Teil sehr komischer, manchmal trauriger und wunderschöner Weg, der sie am Ende zusammenbringt – zu so etwas Ähnlichem wie Glück.

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Für Joe.

 

Bei Kaninchen dauern Werbung und Paarung insgesamt ungefähr dreißig bis vierzig Sekunden.

Ich bin kein Kaninchen. Wenn ich eins wäre, wäre mein Leben um einiges leichter.

»Willst du das auch wirklich?«, fragt Stanley. »Du kannst es dir auch immer noch anders überlegen, weißt du.«

Ich ziehe zweimal an meinem linken Zopf. »Wenn ich es nicht wollte, hätte ich nicht gefragt.« Ich hatte allerdings auch nicht damit gerechnet, dass er Ja sagen würde.

Wir sind in einem Motelzimmer, mit einem uralten, ratternden Heizlüfter und dem Billigdruck einer Windmühle an der Wand. Stanley rutscht nervös auf der Bettkante hin und her, die Krücke neben sich gelehnt. Die Hände hat er fest im Schoß verschränkt.

Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Er hebt die Arme, hält dann aber inne. »Nicht anfassen, stimmts?«

»Nicht anfassen«, erwidere ich. So lautet die Vereinbarung. Ich fasse ihn an. Aber er mich nicht.

Seine Halsschlagader pocht. Ich zähle zwanzig Schläge in zehn Sekunden. Hundertzwanzig pro Minute.

Das geht wohl alles ein bisschen zu schnell. Genau genommen sind wir uns heute zum ersten Mal begegnet. Aber ich will es unbedingt versuchen. Wenigstens ein Mal. Eigentlich ist das alles vom Instinkt geleitet. Jedes Tier ist dazu in der Lage. Also werde ich das doch wohl auch irgendwie hinkriegen. So kaputt bin ich nun auch wieder nicht.

Zögernd greife ich nach seiner Hand und umschließe sie mit meinen beiden Händen. Er macht ein Geräusch, als müsste er niesen – so ein scharfes Einsaugen der Luft. Ich betrachte seine Finger, die lang und schmal sind. Ich werde nicht gern berührt, weil mir das wehtut, aber wenn die Berührung von mir ausgeht, ist es erträglich. »Wusstest du«, sage ich, »dass es nur weibliche Rennechsen gibt. Sie pflanzen sich durch Klonen fort. Die Weibchen besteigen sich gegenseitig, um die Produktion der Eizellen anzuregen.«

Er sagt nichts, sieht mich nur an.

»Und bei Seepferdchen sind die Geschlechterrollen vertauscht. Das Weibchen spritzt ihre Eier in das Männchen, das dann die Jungen austrägt und gebärt.«

Stanley legt sich die freie Hand auf den Bauch.

»Kaiserpinguine haben in jeder Brutsaison denselben Partner. Die Paare erkennen sich an ihrem individuellen Ruf. Das Männchen bleibt einfach irgendwo stehen und stößt so lange seinen Brunftschrei aus, bis das Weibchen ihn gefunden hat. Dann verbeugen sie sich voreinander, stellen sich Brust an Brust und singen.«

»Sie singen?«

»Ja.«

Ich frage mich, was ich wohl bin. Ein Kaninchen, ein Pinguin, eine Hyäne, ein Affe? Oder irgendwas ganz anderes? Nur eins ist sicher: Mit Menschen habe ich nicht sehr viel gemein.

»Willst du das auch wirklich?«

Die Frage stellt er mir schon zum zweiten Mal, aber vielleicht hat er recht. Ich frage mich schließlich auch, ob ich verrückt geworden bin. Das Ganze könnte leicht in einer Katastrophe enden.

»Lass uns anfangen«, sage ich.

1. KAPITEL

Drei Wochen vorher

Zu bestimmten Tageszeiten riecht es in meiner Wohnung nach ranzigem Käse. Offenbar hat das sonst noch niemand im Haus bemerkt. Ich habe schon vier Briefe an Mrs Schultz, meine Vermieterin, geschrieben, es dann aber gelassen, als mir klar wurde, dass die alle in einem Aktenordner mit der Aufschrift VERRÜCKT landen, den ich zufällig entdeckt habe, als ich bei ihr im Büro war, um die Miete zu bezahlen.

Deshalb gehe ich jetzt, wenn der Geruch zu penetrant wird, einfach in den Park und spiele Online-Go auf meinem Laptop.

Heute ist der 5. Oktober, 17 Uhr und 59 Minuten. Die Temperatur im Park liegt bei etwa 13 Grad. Stille erfüllt meine Ohren. Wenn ich tiefer in sie hineinhorche, höre ich die Geräusche, die mit ihr verflochten sind: das dumpfe Dröhnen des Verkehrs, das Schhh-schhh der Blätter im Wind, das Blut, das durch meine Adern rauscht – aber keine menschlichen Stimmen.

Ich ziehe mir die Kapuze meines Hoodies über den Kopf, was den doppelten Vorteil hat, nicht nur meine Ohren warmzuhalten, sondern auch mein Gesicht zu verbergen, sodass ich etwas mehr für mich bin. Der Park ringsherum liegt friedlich da, eine weite Fläche aus schläfrigem grünen Gras. Ein paar Ahornbäume werfen schon die ersten blutroten Blätter ab. In der Nähe glitzert ein kleiner Teich. Ein paar Exemplare von Anas platyrhynchos gleiten übers Wasser und die Köpfe der Erpel schimmern wie geschliffener Smaragd, in den glänzende Onyx-Augen eingelassen sind. Wenn sie die Flügel ausbreiten, fangen ihre schillernden blauschwarzen Spiegelfedern das Licht ein.

Ich werfe einen Blick auf die Bank am Teich und sehe auf meinem Smartphone nach, wie spät es ist. Ich warte auf den Jungen mit dem Stock.

Jeden Tag um Punkt sechs Uhr verlässt dieser Junge – ungefähr in meinem Alter, vielleicht auch ein paar Jahre älter – das lachsfarbene Haus auf der anderen Straßenseite, kommt in den Park gehumpelt und setzt sich hier auf die Bank. Manchmal liest er. Manchmal beobachtet er auch nur die Enten. In den letzten drei Wochen hat er das jeden Tag gemacht.

Anfangs habe ich ihm dieses Eindringen in mein Revier ziemlich übel genommen. Ich wollte nicht mit ihm reden – ich rede nicht gern mit Leuten –, aber ich wollte auch nicht meine Parkecke aufgeben. Also habe ich mich versteckt. Nach einer Weile hat sich das dann geändert, irgendwann wurde er ein Teil der Landschaft, wie die Enten, und ich fand seine Anwesenheit nicht mehr lästig. Im Gegenteil, sein uhrwerksmäßiges Erscheinen wirkte fast schon … beruhigend.

Und tatsächlich, auch heute tritt er wieder um Punkt sechs aus der Tür und sieht genauso aus wie immer: schlank, blass und nicht allzu groß, mit hellbraunem Haar, das offenbar schon länger nicht mehr geschnitten wurde. Seine offene blaue Jacke flattert im Wind. Ich beobachte, wie er auf die Bank zugeht, auf seinen Stock gestützt, und sich dann hinsetzt. Zufrieden wende ich mich ab. Ich lehne mich an einen Baum, klappe den Laptop auf meinen Knien auf und spiele Go gegen irgendeinen Zufallsgegner.

Der Junge ahnt nichts von meiner Anwesenheit und ich achte sorgfältig darauf, dass das auch so bleibt.

Es ist fast schon dunkel, als ich schließlich den Park verlasse. Auf dem Heimweg gehe ich noch kurz beim Tankstellen-Shop vorbei und kaufe zwei Packungen Fertignudeln, ein Weißbrot, eine Orangenlimo und einen eingeschweißten Vanille-Cupcake.

Ich kaufe jedes Mal das Gleiche, deshalb weiß ich auch genau, was es kostet: sechs Dollar siebenundneunzig. Bevor ich zur Kasse gehe, zähle ich die Münzen ab und schiebe sie dann hastig zusammen mit den Einkäufen dem Kassierer hinüber.

»Sonst noch was?«, fragt er. Ich schüttele den Kopf.

Das Haus, in dem ich wohne, steht gleich an der nächsten Ecke, ein gedrungenes Backsteingebäude mit einem einzigen, mickrigen Baum davor. An einem der obersten Äste flattert ein blaues Kondom wie eine winzige Flagge; es hängt dort schon, seit ich mich erinnern kann. Braune Glasscherben glitzern auf dem Fußweg.

Ich gehe auf die Haustür zu und bleibe plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein magerer Mann um die vierzig mit schütter werdendem Haar, Nickelbrille und Pullunder wartet draußen auf mich, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Dr. Bernhardt«, stoße ich hervor.

»Gut, dass ich dich noch erwische. Ich habe schon ein paarmal bei dir geklingelt und wollte gerade aufgeben.«

Ich drücke meine Lebensmittel an die Brust. »Unser Treffen ist am Mittwoch. Heute ist Montag. Sie sollten gar nicht hier sein.«

»Ich musste den Termin verschieben. Ich habe mehrmals bei dir angerufen, aber du gehst ja nie dran. Mir ist klar, dass du keine Überraschungen liebst, aber gerade deshalb solltest du vielleicht ab und zu mal deine Mailbox abhören.« Seine Stimme hat einen Unterton, den ich inzwischen als ironisch erkenne.

Dr. Bernhardt ist Sozialarbeiter. Und er ist auch der Grund, dass ich eine eigene Wohnung habe, obwohl ich noch minderjährig bin.

»Und?«, sagt er. »Willst du mich nicht reinlassen?«

Ich seufze genervt und schließe die Tür auf. »Na gut.«

Wir treten ins Haus und steigen die abgewetzten Stufen in den ersten Stock hinauf. Der Teppich im Treppenhaus ist beige-blau gemustert und hat vor meiner Tür einen dunklen, breit zerflossenen Fleck – irgendeine verschüttete Flüssigkeit oder getrocknetes Blut. Wie das Kondom im Baum ist auch dieser Fleck schon da, seit ich eingezogen bin. Dr. Bernhardt rümpft die Nase und macht einen großen Schritt über ihn hinweg, in meine Wohnung hinein.

Drinnen schaut er sich prüfend um. Auf dem Boden liegt eine ungewaschene Jeans neben einem Stapel Sudoku-Hefte. Ein halb volles Glas mit Orangenlimo steht auf dem Couchtisch, inmitten von Krümeln. Ein Sport-BH liegt quer über dem Fernseher.

»Man sollte meinen«, sagt er, »dass jemand, der so viel Wert auf einen geregelten Alltag legt, auch ein bisschen mehr auf Hygiene achten würde.«

»Ich wollte noch putzen, bevor Sie kommen«, murmele ich. Unordnung stört mich nicht, solange es meine eigene ist. Das Chaos in meiner Wohnung ist mir vertraut und leicht zu durchschauen.

Als ich in die Küche komme, huscht ein Ohrenkneifer ins Spülbecken und verschwindet eilig im Abfluss. Ich werfe meine Einkäufe auf den Küchentresen, öffne den Kühlschrank und stelle die Orangenlimo hinein.

Dr. Bernhardt wirft über meine Schulter hinweg einen Blick auf den Kühlschrankinhalt: ein Pappkarton mit den Resten eines chinesischen Essens, ein verschimmeltes Schinken-Sandwich, ein Becher Cool Whip-Sahneersatz und etwas Senf. Er hebt die Augenbrauen. »Gibts hier auch irgendwas Gesundes?«

Ich schließe die Tür. »Ich gehe morgen einkaufen.«

»Ein bisschen Obst und Gemüse könnte sicher nicht schaden.«

»Müssen Sie auch über meine Essgewohnheiten Bericht erstatten.«

»Nicht vergessen: Bei Fragen immer ansteigende Satzmelodie. Sonst wissen die Leute nicht, ob du sie was fragst oder nicht.«

Meiner Meinung nach ist das eindeutig am Satzbau zu erkennen, aber ich wiederhole trotzdem brav, die letzten beiden Worte betonend: »Müssen Sie auch über meine Essgewohnheiten Bericht erstatten

»Nein, ich gebe dir nur einen Rat. Das ist schließlich mein Job, oder?«

»Ist das eine Frage.«

»Nur eine rhetorische.« Er geht ins Wohnzimmer. »Darf ich mich setzen?«

Ich nicke.

Er lässt sich auf dem Sofa nieder, verschränkt die Finger ineinander und mustert mich über den Rand seiner kleinen, runden Brille hinweg. »Wie läuft die Arbeit im Tierpark?«

»Gut.«

»Hast du noch mal über ein Studium nachgedacht?«

Das hat er mich schon öfter gefragt und meine Antwort ist immer die gleiche. »Das kann ich mir nicht leisten.« Und ein Stipendium werde ich wohl kaum bekommen, da ich kurz vorm Abschluss noch die Schule geschmissen habe – nicht wegen schlechter Noten, sondern weil ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Ich habe dann ein außerschulisches Abitur gemacht, aber den meisten Colleges ist ein normaler Abschluss lieber. »Außerdem arbeite ich gern mit Tieren.«

»Dann bist du mit deiner Situation also im Moment ganz zufrieden?«

»Ja.« Besser als vorher ist sie allemal.

Bevor ich diese Wohnung bekommen habe, war ich in einer Wohngruppe für verhaltensauffällige Jugendliche untergebracht. Das Mädchen, mit dem ich mir das Zimmer teilen musste, hat sich die Nägel blutig gekaut und mich nachts mit ihrem Geschrei zu den unmöglichsten Zeiten aus dem Schlaf gerissen. Das Essen war grauenvoll, die Gerüche noch schlimmer.

Dreimal bin ich dort weggelaufen. Beim dritten Mal haben sie mich auf einer Parkbank aufgegriffen und wegen Landstreicherei vor Gericht gestellt. Auf die Frage, warum ich denn immer wieder weglaufen würde, habe ich der Richterin erklärt, dass ich lieber obdachlos wäre, als dort zu wohnen. Ich habe einen Antrag auf vorzeitige Geschäftsfähigkeit gestellt – das hatte ich vorher recherchiert –, damit ich mir eine eigene Wohnung suchen konnte.

Sie willigte ein, unter der Bedingung, dass jemand regelmäßig nach mir sieht. So kam es, dass Dr. Bernhardt mein Betreuer wurde, zumindest auf dem Papier. Er ist verpflichtet, mir mindestens zweimal im Monat einen Besuch abzustatten, aber davon abgesehen haben wir kaum etwas miteinander zu tun, was mir sehr entgegenkommt.

Trotzdem ist mir immer auch unterschwellig bewusst, dass er mich jederzeit ins Wohnheim zurückschicken kann. Oder Schlimmeres.

»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen, Alvie?«

»Ändert es etwas, wenn ich Nein sage.«

Er mustert mich kurz, mit gerunzelter Stirn. Vielleicht ist er enttäuscht. Oder auch gekränkt, ich weiß es nicht. Ich schaue weg. »Also gut, fragen Sie.«

»Hast du eigentlich Freunde?«

»Ich habe die Tiere auf der Arbeit.«

»Ich meine, Freunde, die sprechen können? Papageien zählen nicht.«

Ich zögere. »Ich brauche keine.«

»Bist du glücklich?«

Wieder eine rhetorische Frage. Natürlich bin ich nicht das, was die meisten Leute als glücklich bezeichnen würden. Aber das tut auch überhaupt nichts zur Sache. Glück hat keinerlei Priorität. Überleben würde mir völlig reichen. Und geistige Gesundheit. Mir vorzuhalten, ich sei nicht glücklich, ist so ähnlich, als würde man einem Obdachlosen vorhalten, dass er nicht regelmäßig für seine Rente einzahlt. Das mag stimmen, geht aber völlig am Problem vorbei. »Ich bin stabil. Ich habe schon seit Monaten keinen Zusammenbruch mehr gehabt.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht, Dr. Bernhardt.«

Er seufzt. »Ich bin natürlich kein Therapeut, aber ich habe schon die Aufgabe, über dein Wohlergehen zu wachen. Ich sehe, dass du deine Unabhängigkeit genießt, aber mir wäre wesentlich wohler, wenn du wenigstens einen Menschen hättest, auf den du dich verlassen kannst. Wann hast du, außerhalb der Arbeit, zuletzt mal mit jemandem gesprochen?«

Bisher hat ihn mein Sozialleben, oder vielmehr das Fehlen desselben, nicht weiter interessiert. Wieso ist das plötzlich ein Thema? Ich wippe auf den Fersen vor und zurück. »Ich bin nun mal nicht wie die andern. Das wissen Sie doch.«

»Ich glaube, du überschätzt diese Unterschiede. Vielleicht könntest du es für den Anfang mit, was weiß ich, einem Chatroom versuchen? Online-Kommunikation ist für Leute mit Kontaktschwierigkeiten meist weniger problematisch. Und es wäre doch eine gute Möglichkeit, jemanden mit ähnlichen Interessen kennenzulernen.«

Ich reagiere nicht.

»Ich will dir doch nur helfen, Alvie, auch wenn dir das vielleicht nicht so vorkommt …«

Den Satz habe schon so oft gehört, den glaube ich längst nicht mehr.

»… aber dein Leben im Moment, das ist einfach nicht … gesund. Wenn sich das nicht ändert, muss ich dem Richter empfehlen, dich zu einer Therapie zu verpflichten, sofern du weiterhin allein wohnen willst.«

Panik steigt in mir auf, doch ich gebe mir alle Mühe, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten. »Sind wir fertig.«

Er seufzt. »Ich schätze schon.« Er nimmt seine Aktentasche und geht zur Tür. »Bis in vierzehn Tagen.« Im Treppenhaus bleibt er kurz stehen und schaut sich über die Schulter zu mir um. »Ach, und übrigens: Herzlichen Glückwunsch.«

Die Tür schließt sich.

Als er weg ist, bleibe ich noch eine Weile mitten im Zimmer stehen und warte darauf, dass das Engegefühl in meiner Brust verebbt.

Ich packe den Cupcake aus, den ich vorhin gekauft habe, stelle ihn auf den Couchtisch und stecke eine Kerze hinein. Genau um 19 Uhr 45 zünde ich die Kerze an und puste sie dann wieder aus.

Noch ein Jahr, dann brauche ich mich nicht mehr mit Dr. Bernhardt oder sonst irgendeinem nervigen Betreuer herumzuschlagen. Ich muss es nur schaffen, bis zu meinem achtzehnten Geburtstag weder meinen Job noch meine Wohnung zu verlieren. Dann bin ich volljährig. Dann bin ich frei.

2. KAPITEL

Im Hickory Tierpark steht neben dem Hyänengehege ein Schild:

GLÜCKLICH? TRAURIG? WÜTEND?

Und darunter, etwas kleiner:

Wenn man Tieren menschliche Gefühle zuschreibt, nennt man das Anthropomorphisierung. Statt zu fragen »Was fühlt ein Tier?«, sollte man lieber fragen: »Wie verhält es sich?«

Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit komme, sehe ich dieses Schild. Ich hasse es.

Elefanten trauern um ihre Toten. Affen können sich genauso geschickt über Zeichensprache verständigen wie ein Kind im Alter von fünf Jahren. Krähen sind hervorragende Problemlöser; in Laborversuchen hat man festgestellt, dass sie Hilfsmittel wie Steine oder Strohhalme nicht nur nutzen, sondern auch modifizieren können, um damit an Nahrung zu gelangen. Bei Tieren wird so eine Fähigkeit als instinktives oder konditioniertes Verhalten abgetan, während sie beim Menschen als unzweifelhafter Beweis seiner Überlegenheit gilt. Nur weil Tiere ihre Gedanken und Gefühle nicht mit Worten ausdrücken können, scheinen manche Leute zu glauben, sie hätten keine.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich nachts in den Tierpark einbreche, das Schild entwende und im nächsten Fluss versenke.

Ich sitze in meinem khakifarbenen Arbeitsanzug auf einer Bank und esse ein Sandwich mit Mortadella und Senf, wie in jeder Mittagspause. Die Hyänen streunen schnuppernd durch ihr Gehege, das an eine Felsenhöhle erinnert, und kratzen an den Wänden. Kiki, das dominante Weibchen, nagt an den Gitterstäben.

Eine Frau eilt an mir vorbei und zieht einen pummeligen kleinen Jungen hinter sich her, vielleicht sieben Jahre alt, der ein Waffeleis isst.

»Hallo!«, zwitschert die Mutter und lächelt breit. Ihr Mund ist mit knallrotem Lippenstift vollgeschmiert. »Könnten Sie wohl kurz auf ihn aufpassen? Ich muss zur Toilette.« Sie stürmt los, bevor ich irgendetwas erwidern kann.

Der kleine Junge steht vor mir, das Eis in der Hand, und mustert mich misstrauisch.

Was denkt sie sich eigentlich dabei, ihr Kind mit einer wildfremden Person allein zu lassen? Ich könnte schließlich eine Kinderschänderin sein. Oder so sturzbesoffen, dass ich mit hängender Kinnlade zuschaue, wie ihr Sohn ins Hyänengehege klettert. Bin ich nicht, aber darum gehts ja auch gar nicht.

»Hallo«, sagt der Junge.

Ich habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll, deshalb esse ich einfach weiter und behalte ihn nur so weit im Auge, dass er mir nicht weglaufen kann.

Er leckt an seinem Eis. »Bist du so was wie ein Dompteur? Bringst du den Tieren Tricks und Kunststücke bei?«

»Nein. Ich füttere sie und mache ihren Käfig sauber.«

Er zeigt auf Kiki, die immer noch am Gitter nagt. »Warum macht der das?«

Ich schlucke einen Sandwich-Bissen hinunter. »Das nennt man stereotypes Verhalten. Das ist so eine Art nervöser Tick, wie Nägelkauen.«

»Dann ist er also irgendwie krank?«

»Nein. Bei Tieren in Gefangenschaft sind Zwangshandlungen sehr verbreitet. Eine normale Reaktion auf eine unnormale Umgebung.« Dann füge ich noch hinzu: »Außerdem ist das kein Er, sondern eine Sie. Ihr Name ist Kiki.«

»Nie im Leben. Der hat doch ein Ding. Einen Penis.« Er spricht das Wort sehr deutlich aus, als wüsste er nicht genau, ob ich es kenne.

Ich beiße von meinem Sandwich ab und sage mit vollem Mund: »Das ist kein Penis.«

Er legt sein sommersprossiges Gesicht in Falten. »Sondern?«

»Eine phallusartige Klitoris.«

»Eine was

»Weibliche Hyänen nehmen im Tierreich eine Sonderstellung ein. Sie sind größer als die Männchen und dominant, und ihre Klitoris hat fast die gleiche Größe wie …«

Ich unterbreche mich, als die Mutter des Jungen, mit hochrotem Gesicht und verkniffenen Lippen, seine Hand nimmt und ihn von mir wegzerrt.

»Mama«, sagt der Junge laut, »was ist eine Klitoris?«

»Irgendein Vogel«, murmelt sie.

»Die Frau hat aber was anderes gesagt.«

»Tja, dann müssen wir wohl mal mit ihrer Chefin sprechen, was?«

Ein Tropfen Senf löst sich von meinem Mortadella-Sandwich und landet auf den Pflastersteinen zwischen meinen Füßen. Ich beiße noch mal ab, aber das Brot schmeckt plötzlich wie Staub. Es bleibt mir in der Kehle stecken.

Am Nachmittag, kurz vor dem Ende meiner Schicht, ruft mich Miss Nell, die Eigentümerin des Hickory Tierparks, in ihr Büro. Finster starrt sie mich über ihren Schreibtisch hinweg an und trommelt mit ihren lackierten Fingernägeln auf die Armlehne ihres Stuhls. Miss Nell ist stämmig und kurzhaarig und ihre Kleidung tut einem in den Augen weh. Heute trägt sie eine Jacke in Neonpink, Ton in Ton mit Duke, dem Papagei, der in dem Käfig hinter ihr sitzt. Auf der Brust hat er eine kahle Stelle, wo er sich immer die Federn ausrupft, auch so eine Zwangshandlung.

»Du weißt, warum du hier bist, oder?«, fragt sie.

Ich rutsche auf meinem Stuhl herum. »Wegen etwas, das ich gesagt habe. Aber er hat mich schließlich gefragt und …«

»Alvie.«

Ich verstumme.

»Ich weiß verdammt gut, dass du nicht halb so blöd bist, wie du dich manchmal anstellst.« Sie flucht immer nur, wenn sie schon ziemlich aufgebracht ist. Das macht mich nervös. »Und selbst dir muss doch wohl klar sein, dass man einem wildfremden Kind nicht gleich die Sache mit den Bienchen und Blümchen erklärt. Schon gar nicht, wenn die Mutter in Hörweite ist.«

»Ich habe ihm die Anatomie der Hyänen erklärt. Es gehört zu meinem Job, alle Fragen der Besucher zu den Tieren zu beantworten. Das haben Sie selbst gesagt.«

Sie schließt kurz die Augen und kneift sich in den Nasenrücken. »Red keinen Scheiß!«

Und Duke, der Papagei, ruft krächzend aus seiner Ecke: »Red keinen Scheiß!«

Ich starre auf meine Füße. »Soll ich mich bei der Mutter des Jungen entschuldigen?«

»Nein, dann machst du es bestimmt nur noch schlimmer.«

Ich erwidere nichts, denn sie hat recht.

»Nebenbei bemerkt«, fährt sie fort, »ist das auch nicht die erste Beschwerde über dich, die mir zu Ohren kommt.«

Ich erstarre. »Bitte geben Sie mir noch eine Chance. Ich werde …«

Sie hebt die Hand. »Entspann dich, ich habe nicht die Absicht, dich zu feuern. Aber ab jetzt hältst du bitte deinen vorlauten Mund, wenn Besucher in der Nähe sind. Konzentrier dich aufs Füttern und Saubermachen.«

Ich zögere. »Und wenn ich etwas gefragt werde.«

»Stellst du dich taub.«

»Wie mache ich das.«

»Keine Ahnung. Mach irgendwelche Zeichen.« Sie fuchtelt mit den Händen, als würde sie Schweinchen-auf-der-Leiter spielen oder jemanden verzaubern. »So zum Beispiel.«

»Ich kann keine Gebärdensprache.«

»Dann tu halt so, als ob«, faucht sie.

Ich nicke nur, aus Angst, dass sie, wenn ich widerspreche, noch mal ihre Meinung ändert.

Ich arbeite hier zwar schon seit über einem Jahr, aber mir ist durchaus bewusst, dass mein Job ständig auf der Kippe steht. Und ich habe kaum etwas gespart. Mein Verdienst reicht gerade so eben für Miete, Essen und Auto, und wenn ich meine Rechnungen nicht bezahlen kann, setzt der Staat wieder einen Vormund ein. Schlimmer noch: Wenn ich es nicht schaffe, ein halbwegs normales Erwachsenenleben zu führen, könnte ein Richter mich für geschäftsunfähig erklären, was den endgültigen Verlust meiner Freiheit bedeuten würde. Angesichts meiner Vorgeschichte wäre das nicht ausgeschlossen. Womöglich würde ich wieder in irgendeiner Wohngruppe landen, und das nicht nur bis ich achtzehn werde, sondern für den Rest meines Lebens.

Ich darf diesen Job nicht verlieren.

Nach Feierabend tausche ich meine Uniform gegen normale Kleidung, gehe in den Park mit dem Ententeich und setze mich an meinen gewohnten Platz unterm Baum. Nach einer Weile schaue ich auf die Uhr: Fünf nach sechs, und der Junge mit dem Stock ist immer noch nicht da.

Dass er zu spät kommt, gefällt mir gar nicht. Ich weiß nicht, was genau mich daran stört oder warum es mich überhaupt interessiert, aber nach dem unerfreulichen Gespräch mit Dr. Bernhardt und der Standpauke von Miss Nell habe ich ohnehin schon das Gefühl, dass meine Welt aus den Fugen gerät. Seine Verspätung ist nur ein weiterer Missklang, ein weiteres Zeichen der Disharmonie.

Eine Zeit lang laufe ich rastlos auf und ab, dann setze ich mich ins Gras und pule an dem Loch im linken Knie meiner Strumpfhose herum, bohre den Finger hinein und weite es, bis der Junge schließlich aus dem Gebäude kommt. Ich flitze hinter einen Baum und beobachte von dort aus, wie er über die Straße humpelt und den Park betritt.

Irgendwie kommt er mir heute anders vor. Ganz langsam und steif, als hätte er Schmerzen, lässt er sich auf der Parkbank nieder. Das Gesicht hat er von mir abgewandt, deshalb kann ich seinen Ausdruck nicht erkennen.

Mit angehaltenem Atem spähe ich hinter dem Stamm hervor und warte ab.

Erst rührt er sich nicht, starrt einfach nur vor sich hin. Dann legt er den Kopf in die Hände, und seine Schultern werden von lautlosen, bebenden Krämpfen erschüttert.

Er weint.

Ich bin ganz still und wage kaum zu atmen. Nach ein paar Minuten lässt das Zucken seiner Schultern nach und er sitzt reglos da, in sich zusammengesunken. Dann steht er mühsam auf, zieht sein Handy aus der Tasche und wirft es in den Teich. Das Platschen erschreckt ein paar Enten, die mit vielstimmigem Geschnatter davonfliegen.

Hinkend verlässt er den Park. Ich warte noch kurz, dann gehe ich denselben Weg zurück zu dem lachsroten Haus. Hinter der gläsernen Doppeltür befindet sich ein Empfangsbereich mit Fernseher und künstlichen Blumen. Ich berühre die raue Backsteinwand, lasse die Hand über den glatteren Stein des Türschilds gleiten und ziehe die eingemeißelten Buchstaben nach: ELKLAND MEADOWS.

Meinen Laptop habe ich nicht dabei, also hole ich mein Handy heraus. Es ist ein Prepaid-Handy und ich zahle pro Minute, weshalb ich sehr darauf achte, wann und wie ich es benutze, aber man kann damit ins Internet. Laut Online-Suche ist das Elkland Meadows ein Pflegeheim für Leute mit Hirnschäden oder neurodegenerativen Erkrankungen und ich überlege kurz, ob er dort Patient ist. Aber die Klinik hat keinen ambulanten Bereich. Was nur einen Schluss zulässt: Er besucht hier jemanden.

Als ich zum Teich zurückgehe, sehe ich im Uferschlamm den silbernen Rand seines Handys blinken. Ich will nicht mit der Hand ins Wasser greifen – ich mag Wasser nicht so gern –, also suche ich mir einen Stock mit gebogenem Ende und angele damit das Handy aus dem Teich.

Hintendrauf steht, in Druckschrift auf einem Streifen Klebeband: EIGENTUM VON STANLEY FINKEL. Darunter eine Mail-Adresse.

Dass er seine Kontaktdaten auf sein Handy schreibt, kommt mir ein bisschen albern vor. Wenn er solche Sorge hat, dass es verloren geht, warum wirft er es dann einfach weg? Ich drücke auf den Einschaltknopf. Der Bildschirm flackert kurz auf und erlischt dann endgültig. Ich will es schon wieder in den Teich zurückwerfen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Nach kurzem Zögern stecke ich es ein.

3. KAPITEL

Es ist spät.

Ich sitze im Schneidersitz auf der Matratze in meinem Schlafzimmer und löffele Cool Whip-Sahneersatz direkt aus dem Plastikbecher. Ein Klecks davon fällt mir aufs T-Shirt; ich nehme ihn mit dem Finger auf und lecke den dann sorgfältig ab. Es brennt kein Licht, der Raum wird nur vom schwachen Schein meines Laptops erhellt, der auf meinem Kopfkissen liegt. Ich spiele Go.

Unvermittelt drängt sich Dr. Bernhardts Stimme in meine Gedanken: Wenn sich das nicht ändert, muss ich dem Richter empfehlen, dich zu einer Therapie zu verpflichten, sofern du weiterhin allein wohnen willst.

Ich mache einen unbedachten Zug und mein Gegner erbeutet mehrere meiner Steine. Vor lauter Ärger über mich selbst melde ich mich ab und klappe den Laptop zu. Mir ist noch nicht nach Schlafen, deshalb ziehe ich mein vergilbtes, eselsohriges Exemplar von Watership Down aus dem Regal und fange an zu lesen. Ich versuche, den vertrauten Rhythmus der Sätze aufzunehmen. Die gelben Schlüsselblumen waren verblüht. Am Rande des Gehölzes, wo es sich weitete und gegen einen alten Zaun und einen dornigen Graben dahinter abfiel, zeigten sich nur noch ein paar verwelkende blassgelbe Flecken …

Ich habe das Buch schon unzählige Male gelesen. In die Welt dieser klugen Kaninchen einzutauchen ist für mich zu einem tröstlichen Ritual geworden. Doch an diesem Abend schweifen meine Gedanken ständig ab. Mit einem Seufzer klappe ich das Buch wieder zu.

Dr. Bernhardt kann das nicht verstehen und ich kann es ihm nicht erklären. Er glaubt, meine Abneigung, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, sei einfach nur Angst vor Zurückweisung. Dabei geht es sehr viel tiefer.

In meinem Kopf gibt es einen Ort, den ich als die Gruft bezeichne. Dort bewahre ich bestimmte Erinnerungen auf, sicher abgeschottet von meinem übrigen Verstand. Psychologen nennen das Verdrängung. Ich nenne es überlebensnotwendige Maßnahme. Ohne die Gruft wäre ich immer noch im Heim, oder aber mit so vielen hoch dosierten Medikamenten vollgepumpt, dass ich kaum noch meinen Namen wüsste.

Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, sehe ich sie vor mir: eine riesige Doppeltür aus Stahl am Ende eines langen, dunklen Gangs. Die Türflügel sind wuchtig, massiv und mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert, das mich vor allem beschützt, was dahinterliegt. Ich habe Jahre dafür gebraucht, diesen Schutzwall aufzubauen, Stein um Stein, eine Art mentale Quarantäne-Station.

Wenn Dr. Bernhardt mich zwingt, eine Therapie anzufangen, wird der Therapeut an diesen Türen lauschen und rütteln und versuchen, die Festung einzureißen, die ich zu meinem Schutz errichtet habe. Psychologen denken immer, Reden sei die Lösung für alles.

Meine Hände zittern. Ich muss die Reizflut vermindern.

Hätte ich ein Bett, würde ich mich darunter verstecken, aber ich habe nur eine Matratze auf dem Boden. Also gehe ich ins Bad, rolle mich in der leeren Badewanne zusammen und wickele mich in mehrere Decken, die ich mir ganz fest um den Körper und auch übers Gesicht ziehe, bis nur noch ein schmaler Spalt zum Luftholen bleibt. Der Druck tut gut. Ganz allein und von Dunkelheit umgeben atme ich ein und aus.

In ruhigen, abgeschlossenen Räumen habe ich mich immer schon sicher gefühlt. In der zweiten Klasse hat meine Lehrerin, Mrs Crantz, eine Pappwand rund um mein Pult aufgestellt und ein kleines Fenster reingeschnitten, sodass ich nur nach vorn gucken konnte. Weil mein Blick ständig abschweifte, dachte sie, meine Umgebung würde mich vielleicht zu sehr ablenken und die Kiste könnte mir helfen, mich zu konzentrieren. Ihr war nicht klar, dass ich in meine eigenen Gedanken versunken war. Abgeschnitten von der Außenwelt war es für mich noch viel leichter, mich in mich selbst zurückziehen. Ich habe die ganze Zeit nur Labyrinthe und dreidimensionale Sechsecke in mein Heft gemalt, was viel mehr Spaß machte, als Mrs Crantz zuzuhören, wenn sie uns mit ihrer näselnden, einschläfernden Stimme aus Unsere kleine Farm vorlas. Eines Tages wollte sie die Kiste dann wieder wegnehmen und ich fing an zu schreien. Als sie mir die Hand auf die Schulter legte, trat ich sie gegen das Knie. Daraufhin schleifte sie mich ins Büro des Direktors und rief meine Mutter an.

Als Mama kam, trug sie eine Jogginghose und ihr Haar war noch feucht, weil sie gerade geduscht hatte. Ich sehe sie vor mir, wie sie im Büro des Direktors sitzt, die grauen Augen weit aufgerissen, die Finger um den Riemen ihrer Handtasche gekrampft. »Alvie«, sagte sie leise, »warum hast du deine Lehrerin getreten?«

»Sie hat mich ganz fest an der Schulter gepackt«, erwiderte ich kleinlaut. »Das tat weh.«

»Ich habe sie kaum berührt«, protestierte Mrs Crantz. »Das kann unmöglich wehgetan haben.«

Hatte es aber doch. Vieles tat mir weh – grelles Licht, laute Geräusche, kratzige Stoffe –, aber das wollte mir nie jemand glauben. »Es hat gebrannt«, sagte ich beharrlich.

»Gebrannt?« Mrs Crantz runzelte die Stirn.

Der Direktor räusperte sich. »Miss Fitz … vielleicht sollten Sie Ihre Tochter mal einem Facharzt für Psychiatrie vorstellen.«

Mamas Stirn legte sich in Falten. »Einem Arzt? Wieso?«

»Sie hat ja nun schon seit Längerem Probleme in der Schule. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch eine Telefonnummer geben.« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch. »Verstehen Sie uns richtig … wir wollen nur helfen. Und jetzt sollten Sie sie vielleicht erst mal mit nach Hause nehmen.«

Ich saß währenddessen auf meinem Stuhl, mit gesenktem Kopf, die Hände im Schoß zu Fäusten geballt.

Während der Fahrt nach Hause war Mama ganz still und sah immer nur geradeaus. An einigen Stellen in ihrem Haar fing sich das Sonnenlicht und ließ es noch rötlicher leuchten. »Tut es auch weh, wenn ich dich anfasse?«, fragte sie.

»Nein. Bei dir nicht.«

Ihre Schultern entspannten sich. »Das ist schön.« Dann schwieg sie wieder eine Weile.

Im Auto war es heiß. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken. »Warum schickt der Direktor mich zum Arzt? Ich bin doch gar nicht krank.«

»Kann sein, aber …« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht sollten wir trotzdem mal hingehen. Nur zur Sicherheit.« Ihre Augen tränten von der grellen Sonne. »Ich liebe dich sehr, Alvie. Das weißt du, oder?«

Der muffige Geruch der Decken sickert mir ins Bewusstsein und holt mich in die Gegenwart zurück. Plötzlich kommt mir der Stoff um mich herum nicht mehr wie ein Schutz, sondern wie ein Gefängnis vor. Ich schnappe nach Luft, überwältigt von dem Gefühl zu ersticken, fahre hoch und reiße mir die Decken vom Leib.

Mondlicht fällt durch das winzige Fenster, lässt die Fliesen glänzen und beleuchtet das Muster aus Rissen an den Wänden und die Rostflecken auf der Wanne.

Ich lasse mich zurücksinken und lehne den Kopf an die Wand. Einen Moment lang schnürt sich meine Kehle zusammen, aber ich schlucke das Gefühl hinunter. Mama ist nicht mehr da. Der Vergangenheit nachzutrauern, hilft mir kein bisschen weiter. Ich schiebe die Erinnerung an diesen Tag in die hinterste Ecke meines Verstandes, wo sie hingehört.

Konzentration. Isolier das Problem: Dr. Bernhardt will, dass ich ein Sozialleben habe. Wenn die Leute jedoch von sich aus den Kontakt mit mir ablehnen, kann er mir wohl kaum einen Vorwurf machen. Ich muss ihm also nur beweisen, dass ich mich bemüht habe, dann lässt er mich vielleicht in Ruhe.

Das Handy, das ich aus dem Teich geholt habe, liegt auf dem Sofatisch. Ich nehme es in die Hand und lese die Angaben auf der Rückseite.

Stanley Finkel. So heißt der Junge im Park, der Junge mit dem Stock. Aber was soll ich bloß zu ihm sagen?

Ist doch völlig egal, ermahne ich mich selbst. Ich klappe meinen Laptop auf, logge mich ins Mailprogramm ein und hämmere Stanleys Adresse ins Empfängerfeld. Dann tippe ich die erste Frage, die mir in den Kopf kommt:

–  Was hältst du von der Kopenhagener Deutung?

Stanley wird das bestimmt für eine Spam-Nachricht halten. Und selbst wenn nicht, weiß er ja gar nicht, wer ich bin, also wird er wohl kaum reagieren.

Ich berühre das Touchpad und ziehe den Cursor in die Bildschirmecke, um das Mailprogramm zu schließen. Doch im gleichen Moment erscheint eine Nachricht im Posteingang:

–  Hallo, TausendFeinde. :) Interessanter Name. Ähm, kennen wir uns irgendwoher?

Ich sitze wie erstarrt. Schweiß rinnt mir an den Seiten hinunter, kleine kalte Tropfen. Er hat mich etwas gefragt, da sollte ich wenigstens antworten. Ich schreibe: Nein.

–  Woher hast du meine Adresse?

–  Stand auf deinem Handy. Das habe ich im Park gefunden. Es ist kaputt.

Pause.

–  Oh, das ist gut. Ich wollte mir schon längst mal ein neues kaufen. Was ist denn diese Kopenhagener Deutung?

Ich hatte nicht erwartet, dass er überhaupt reagiert. Es dauert ein paar Minuten, bis ich mich wieder gefangen habe, dann antworte ich, während meine Finger nur so über die Tasten fliegen:

–  Das ist eine berühmte Theorie aus der Quantenmechanik. Ihr zufolge verhalten sich Quantenteilchen nicht einer einzigen objektiven Realität entsprechend, sondern existieren als multiple Wahrscheinlichkeiten. Erst wenn man sie beobachtet oder eine Messung an ihnen vornimmt, bringt man sie dazu, in eine einzige Realität zu kollabieren. Das bekannteste Beispiel ist ein Gedankenexperiment namens »Schrödingers Katze«. Dabei geht es um eine Katze in einer geschlossenen Kiste, deren Leben vom Verhalten eines einzelnen, subatomaren Teilchens abhängt. Zerfällt das Teilchen, öffnet sich eine Flasche mit Giftgas und die Katze stirbt. Zerfällt es nicht, bleibt die Flasche zu, die Katze überlebt. Der Kopenhagener Deutung zufolge existieren, solange die Kiste geschlossen bleibt, beide Möglichkeiten nebeneinander, die Katze ist also gleichzeitig tot und lebendig. Erst wenn man die Kiste öffnet, tritt eine einzige Realität zutage.

Ich drücke auf Senden. Meine Handflächen sind feucht und ich reibe sie an meiner Hose trocken.

Eine Minute später kommt seine Antwort:

–  Das ist eindeutig der originellste Gesprächsanfang, den ich je gehört habe. Normalerweise reden die Leute übers Wetter. Oder über Sport. Wobei ich, offen gestanden, auch da nie weiß, was ich antworten soll.

Alles klar. Quantenmechanik interessiert ihn nicht. Die meisten Leute interessiert das nicht.

–  Soll ich dich damit in Ruhe lassen?, sende ich.

–  Nein, antwortet er rasch. Von mir aus kannst du mir die ganze Nacht von Kopenhagen erzählen. Aber magst du dich vielleicht bei Google Chat anmelden? Das wär einfacher.

–  Ist gut. Ich melde mich an.

–  Und wie lautet dein richtiger Name?, tippt er.

Es kann wohl nichts schaden, wenn ich ihm das verrate.

–  Alvie Fitz.

–  Alvie, echt? Wie dieser Typ aus »Stadtneurotiker«?

–  Das kann auch ein Mädchenname sein.

–  Ach, du bist ein Mädchen?

–  Ich bin weiblichen Geschlechts, ja.

–  Find ich gut, schreibt er. Den Namen, meine ich. Jedenfalls besser als meiner. Stanley Finkel, also echt! Klingt nach dem schmierigen Gast einer Spieleshow oder so. Außerdem reimt es sich auf »pinkeln«. War in der Grundschule voll der Renner, wie du dir denken kannst!

–  Für mich klingt das wie ein ganz normaler Name.

–  Na ja, danke. :) Und dann: Jetzt muss ich doch mal fragen: Wo hast du denn mein Handy gefunden?

–  Ich habe gesehen, wie du es in den Teich geworfen hast. Keine Antwort. Ich warte. Warum hast du das gemacht?

Mehrere Minuten vergehen ohne Antwort und ich frage mich schon, ob er sich ausgeloggt hat. Dann erscheint eine neue Nachricht:

–  Ich dachte, ich würde es eh nicht mehr brauchen. War ziemlich blöd von mir. Aber ist jetzt auch egal.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also lasse ich es. Nach ungefähr einer Minute taucht wieder eine Zeile auf:

–  Alvie? Danke.

–  Wofür?

–  Nur so. Ich möchte dir einfach gern danken.

Ich weiß gar nicht mehr, wann sich zuletzt mal jemand bei mir bedankt hat. Es fühlt sich komisch an.

–  Ich muss jetzt aufhören, schreibe ich.

Ich klappe den Laptop zu. Eine Zeit lang sitze ich nur da und starre ins Leere. Mein Herz schlägt schneller als normal.