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Michael Ende

Der Niemandsgarten

Aus dem Nachlass
ausgewählt und herausgegeben von Roman Hocke

hockebooks

Schuhe

Eine Veränderung

Der Zeiger sprang mit einem kleinen Ruck vor. Die elektrische Uhr über der Glastür zeigte nun achtzehn Minuten nach sieben. Drei Minuten über die gewohnte Zeit.

Der Geschäftsführer hielt sich zerstreut seine Armbanduhr ans Ohr und schüttelte sie, obgleich sie mit der großen Uhr übereinstimmte. Dann wandte er sich langsam in den Salon zurück. Sein Blick glitt über die Gestalt des Verkäufers, der dem Mädchen auf der Leiter die letzten Schuhkartons hinaufreichte. Sie ordnete sie rasch in die Regale ein.

Es war ein anstrengender Tag gewesen.

Eine Weile starrte der Geschäftsführer, ohne irgendetwas zu denken, auf die Beine des Mädchens und sah zu, wie jedes Mal, wenn sie sich streckte, der Minirock ein wenig höher rutschte und ihre Schenkel freigab. Dann, mit einem Ruck, erwachte er aus seiner Abwesenheit und klatschte in die Hände.

„Vorwärts“, rief er halblaut, „beeilen Sie sich bitte etwas, damit wir fertig werden!“

Der Stift hatte einige Aschenbecher geleert und lief mit Handschaufel und Putztuch in die hinteren Räume. Das Mädchen stieg von der Leiter, zog den Rock glatt und sagte: „So. Das wär’s für heute.“

Der Verkäufer zwinkerte ihr zu. „Wollen wir zusammen zu Abend essen?“

Sie zog sich gerade die Lippen nach und streifte ihn mit einem prüfenden Blick. „Mhm!“, machte sie und nickte müde, während sie ihre Lippen auf einem alten Fahrschein abdrückte, den sie in der Tasche ihres Kostüms gefunden hatte.

Der Stift kam aus den hinteren Räumen zurück und schleppte Mäntel und Hüte herbei. Er war für sein Alter etwas zu klein geblieben und konnte nur mit Mühe über den Kleiderberg auf seinen Armen hinwegblicken. Er legte alles über einen der herumstehenden Sessel, suchte den Mantel des Geschäftsführers heraus und half ihm hinein. Dann reichte er ihm mit einem Gesichtsausdruck, als erwarte er Dank, den er bescheiden ablehnen wollte, den Hut.

Der Geschäftsführer nahm keine Notiz davon, knöpfte langsam den Mantel zu, betastete nachdenklich seine Taschen, knöpfte den Mantel wieder auf und begann nach dem Schlüssel für die große Glastür zu suchen.

Währenddessen half der Verkäufer dem Mädchen in den Mantel. Sie setzte vor einer der Spiegelwände ihren Hut zurecht und betrachtete sich kritisch. Der Verkäufer, der hinter ihr stand, rückte an seiner Krawatte, zog eine Augenbraue hoch und schlüpfte dann, ohne den Blick von seinem Spiegelbild zu wenden, in seinen Überzieher, den der Stift ihm hinhielt.

Nachdem alle fertig waren, zog auch der Stift seinen Mantel an. Dann hielt er wieder aufmerksam den Hut des Geschäftsführers bereit. Der hatte endlich den Schlüssel gefunden, nahm den Hut und sagte: „Ja, also dann – guten Abend!“

„Guten Abend“, murmelten alle. Der Verkäufer hakte das Mädchen unter, das beide Hände in den Manteltaschen vergraben hatte. Sie blickte nicht einmal auf und schien es kaum zu bemerken. Der Stift hielt die Tür auf. Aber alle zögerten zu gehen, als ob sie etwas vergessen hätten. Sie warfen einen Blick in den Raum zurück; es war alles in Ordnung.

Der Geschäftsführer klimperte nervös mit den Schlüsseln und ging zum Schalter hinüber, um das Licht auszuknipsen. Aber er tat es nicht. Er zog die ausgestreckte Hand langsam wieder zurück, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Zur offenen Tür wehte es kalt herein. Ihn fröstelte und er blickte zu den drei Angestellten hinüber. Sie standen ganz ruhig und warteten. Jeder war ganz in sich versunken. Jeder war allein, unendlich fern von den anderen …

Der Geschäftsführer schüttelte ein wenig ärgerlich über sich selbst den Kopf. Noch einmal blickte er zu der elektrischen Uhr hinauf. Natürlich durfte er das Licht ausknipsen! Im Gegenteil, er musste es sogar. Es war schon viel zu spät.

In diesem Augenblick stand plötzlich im Rahmen der Tür, die der Stift wie zum Empfang weit geöffnet hielt, eine sehr große, sehr dicke Dame, die in einen Nerzmantel gehüllt war. Unter beiden Armen hielt sie eine erstaunliche Menge von Paketen und Päckchen und in einer Faust trug sie, wie ein Zepter, einen ungeheuren, in Seidenpapier gewickelten Blumenstrauß. Im Ganzen war sie so breit, dass es unmöglich schien, ohne ihre Erlaubnis an ihr vorbeizukommen und ins Freie zu gelangen.

Die Angestellten starrten sie reglos an.

Der Geschäftsführer ging zögernd auf sie zu und sagte mit höflichem Lächeln: „Wie Sie sehen, gnädige Frau, haben wir bereits geschlossen.“

Die Dame, die fast einen Kopf größer war als er, sah auf ihn herunter. Ihr Gesicht war grell geschminkt.

„Wie ich sehe“, sagte sie langsam, „haben Sie noch geöffnet.“

Der Geschäftsführer hob abwehrend seine Hand. „Es tut mir leid, gnädige Frau“, sagte er und schüttelte den Kopf, „aber es geht wirklich nicht mehr.“

Er fühlte sich gereizt und müde nach diesem anstrengenden Tag, doch er wollte höflich bleiben.

Die Dame trat in den Laden. Er stellte sich ihr in den Weg. „Wir haben bereits Feierabend“, sagte er so energisch, wie es ihm möglich war. „Haben Sie bitte Verständnis.“

Die Dame sah ihn an. Er wollte ihrem Blick standhalten, aber da war etwas in ihren Augen, das ihn zum Nachgeben zwang. Er presste die Lippen zusammen und bekämpfte die Schwäche; es gelang ihm nicht. Das machte ihn wütend.

„Jetzt bin ich da“, sagte die Dame in eigentümlich schleppender Art, fast ohne die Lippen zu bewegen, „und jetzt werden Sie mich bedienen. Also, bitte!“

Der Geschäftsführer wollte widersprechen, trat aber stattdessen einen Schritt zurück und machte, gegen alle Absicht, eine kleine, devote Verbeugung. Jetzt hasste er die Dame.

Sie trat ein und schritt am Spalier der Angestellten vorüber, über die Köpfe hinweg musterte sie den Laden mit halb zugekniffenen Augen. Der Stift ließ die Tür zufallen. Die Dame nahm schweigend in einem Sessel Platz und türmte links und rechts von sich ihre Päckchen auf.

Die Angestellten schauten sich an, enttäuscht, müde und gottergeben. Der Geschäftsführer zuckte die Schultern und hob die Arme, um zu zeigen, dass es seine Schuld nicht sei. Dann nahm er sich noch einmal zusammen, straffte sich, zog sein Kinn hoch und ging entschlossen auf die Dame zu.

„Es tut mir wirklich sehr leid, meine Dame“, sagte er lauter, als notwendig war, „aber selbst wenn wir wollten, dürften wir Sie nicht mehr bedienen. Es wäre ungesetzlich. Wenn die Polizei … Sie verstehen?“

Die Dame maß ihn nur leicht erstaunt mit den Blicken und erwiderte: „Sie sollen mir nichts erzählen, Sie sollen mich bedienen!“

Es war etwas an der Person, das den Geschäftsführer verwirrte. Zu seiner eigenen Verwunderung hörte er sich sagen: „Und … was wünschen Sie, gnädige Frau?“

„Schuhe natürlich“, sagte die Dame, „oder was dachten Sie?“

„Ah, ja …“, murmelte er, „ja, natürlich … Schuhe …“ Er wandte sich um und rief dem Stift zu: „Fritz! Die Dame möchte Schuhe sehn. Bedienen Sie die Dame!“

Damit zog er sich in den Hintergrund zurück und begann ungeduldig auf und ab zu gehen. Der Verkäufer und das Mädchen schauten sich an, als erwarte jeder vom andern Rat darüber, ob auch sie bleiben müssten oder ob sie gehen dürften.

Der Stift zog zunächst ein gekränktes Gesicht, zuckte dann aber die Achseln und ging zu der Kundin hinüber. Ohne den Mantel abzulegen, stellte er sich vor sie hin und fragte: „Bitte sehr, die Dame?“

Die Dame schaute ihn ungläubig an – eine ganze Weile lang. Dann fragte sie plötzlich: „Wer ist denn das?“

Darauf war der Stift nicht vorbereitet. Sollte er nun seinen Namen sagen? Er grinste verlegen. Die Dame wartete seine Antwort nicht ab, sondern fragte streng:

„Soll der da mich etwa bedienen?“

„Ja … ich … gewiss …“, stotterte er.

Sie scheuchte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung fort, als sei er eine lästige Fliege. Er zog sich sofort zurück. Die Dame drehte sich mühsam in ihrem Stuhl um und blickte zum Geschäftsführer hinüber, der auf den Fußspitzen wippend in einer Ecke stand und zu Boden sah.

„Sie da“, rief sie, „kommen Sie her!“ Und als der Geschäftsführer abermals Anstalten machte zu protestieren und mit der Hand auf die Uhr wies, hieb sie mit beiden Handflächen auf die Armlehnen ihres Sessels, dass alle erschrocken zusammenfuhren.

„Also gut, gnädige Frau“, sagte der Geschäftsführer, während er den Mantel ablegte. „Aber wenn ich Sie bitten dürfte, sich rasch zu entscheiden …“

Der Stift grinste schadenfroh in sich hinein und schlich zur Tür. Auch das Paar wandte sich zum Gehen.

„Halt!“, rief der Geschäftsführer. „Sie bleiben hier – alle drei! Sie werden mich nicht allein lassen. Helfen Sie mir.“

Die Angestellten tauschten bedauernde Blicke aus, dann legten sie langsam ihre Mäntel ab und stellten sich um die Dame.

„Was für Schuhe sollen es ungefähr sein, gnädige Frau?“, fragte der Geschäftsführer. „Was dürfen wir Ihnen zeigen?“

Die Dame warf einen langen Blick auf den Halbkreis der Angestellten und sagte dann: „Alle!“

Der Geschäftsführer setzte sich vor sie auf den Schemel und sah ausdruckslos zu ihr auf. Sie hielt ihm ihren Fuß hin und wiederholte: „Zeigen Sie mir alles, was Sie haben!“ Dann schlug sie wieder auf die Armlehnen und rief: „Los, los, los!“

Während der Geschäftsführer ihr die Schuhe von den dicken, offenbar geschwollenen Füßen zog, begannen die Angestellten widerwillig Schachteln herbeizuholen und sie neben der Dame aufzustapeln.

Das erste Paar Schuhe, das der Geschäftsführer ihr zeigte, nahm sie in die Hand, betrachtete es zwei Sekunden mit unzufriedenem Gesicht und warf es achtlos beiseite. Dann schüttelte sie eine ganze Weile bei jedem Modell, das ihr gezeigt wurde, den Kopf. Plötzlich wollte sie eines anprobieren. Es war eine viel zu kleine Nummer. Trotzdem zwängte sie sich hinein, erhob sich mühsam und wankte damit im Salon auf und ab. Stöhnend ließ sie sich wieder in den Sessel fallen und betrachtete den Geschäftsführer mit funkelnden Augen, als sei er daran schuld. Dann ging es weiter.

Niemand sprach mehr ein Wort. In der Stille war nur das Geräusch der hin und her eilenden Schritte, das Rascheln von Papier und hin und wieder ein Seufzen der Dame zu hören.

Nach und nach bemächtigte sich der Angestellten eine Art Betäubung. Die Müdigkeit, der unterdrückte Groll, das Unabsehbare ihrer Tätigkeit, vor allem aber die lähmende Wirkung, die von der Person ausging, alles das mischte sich und versetzte sie in einen dumpfen, halb wachen Zustand. Auf der einen Seite trugen sie Schachteln heran, auf der anderen nahmen sie Schachteln mit zurück und ordneten sie wieder ein. Ihr einziges Bestreben war es, fertig zu werden, endlich diese unangenehme Kundin los zu sein.

Dem Geschäftsführer ging es nicht anders. Er zog der Dame die Schuhe an und wieder aus, an und wieder aus, an und wieder aus … Und da sie ohnehin jedes Mal den Kopf schüttelte, blickte er kaum noch auf, um ihr Urteil zu erfahren, sondern zog von sich aus jeden Schuh gleich wieder von ihrem Fuß. Er überließ es ihr, sich zu melden, falls je einer ihr gefallen sollte.

Auf den Nasenflügeln der Dame standen kleine Schweißperlen, obgleich es nicht mehr warm im Salon war. Irgendwann viel später schien auch sie müde zu werden. Ihr Gesicht verfiel unter der Schminke und es schien, als ob sie mit dem Schlaf kämpfe. Ihr Kopfschütteln wurde beziehungslos. Noch einmal raffte sie sich auf, dann sank der Kopf vornüber auf ihre Brust und der breite Rand ihres Hutes verdeckte ihr Gesicht.

Da keiner der Angestellten die Kundin mehr beachtete, setzten sie ihre Tätigkeit noch eine ganze Weile fort. Man war bei den hochhackigen Sonderanfertigungen angekommen, als der Geschäftsführer eine Veränderung bemerkte und innehielt. Und zwar spürte er, dass der dicke Fuß der Dame so merkwürdig feucht und kalt wurde. Er blickte langsam an ihr empor und da er unmittelbar vor ihr auf dem Schemel saß, schaute er ihr ins Gesicht. Sie starrte ihn glasig und maßlos erstaunt an. Ihr Mund stand offen, sie sah unglücklich aus, aber es war ein dummes Unglück, so, als hätte sie sich einer Zumutung fügen müssen.

„Gnädige Frau!“, sagte der Geschäftsführer leise. Sie sah ihn immer weiter an. Er ergriff ihre Hand, die ebenfalls schlaff und kalt war, und ließ sie wieder fallen. Sie fiel kraftlos in ihren Schoß.

Der Geschäftsführer stand auf und schaute die andern an, die verblüfft auf die Dame starrten. Dann nickte er langsam. „Ja“, sagte er, obgleich niemand ihn etwas gefragt hatte.

Das Mädchen bekreuzigte sich. Der Verkäufer ging leise zum Telefon an der Kasse und benachrichtigte die Funkstreife. Dann legte er auf und sagte: „Sie werden gleich hier sein.“

Alle zogen ihre Mäntel an. Dann stellten sie sich wieder im Halbkreis vor die Dame und betrachteten sie. Keiner von ihnen empfand Genugtuung, obgleich sie alle bis vor Kurzem noch geglaubt hatten, die Person ohne Skrupel vergiften zu können. Aber das hier war etwas anderes. Plötzlich war der Unterschied, der vorher zwischen der Dame und ihnen bestanden hatte, so klein, so völlig belanglos im Vergleich zu dem, was sie nun unterschied. Jetzt standen sie betroffen, verlegen, fast scheu vor ihr. Alle hatten, teils aus Überzeugung, teils aus Gewohnheit, die Hände übereinandergelegt.

Der Geschäftsführer trat vor und schloss ihr mit der Hand die Augen. Der Stift nahm den Blumenstrauß, der neben der Dame lag, wickelte ihn aus und legte ihn ihr in den Schoß. Niemand wies ihn zurecht, niemand fand es ungehörig. Im Gegenteil, es schien allen, als habe die Dame ihn eigens zu diesem Zweck mitgebracht.

„Wenn Sie wollen“, flüsterte der Geschäftsführer, „dann können Sie schon nach Hause gehen. Ich werde allein auf die Polizei warten.“

Die andern nickten ihm zu, warfen noch einen Blick auf die Tote und gingen. Draußen hatte es ein wenig zu regnen begonnen. Der Geschäftsführer trat vor die Tür und schaute ihnen gedankenverloren nach, aber sie waren schon in der Dunkelheit verschwunden.

Er zündete sich eine Zigarette an und blickte durch die Glastür in den leeren Salon zurück, wo ganz allein und seltsam verloren die Dame saß und geduldig wartete.

(November 1954)

Das Bild des Glücks

Als König Erilon, Herrscher über das große Reich von Mahanar, die Zahl seiner Jahre erreicht hatte und fühlte, dass es ans Sterben ging, rief er seine beiden Söhne, Khanio, den älteren, und Leban, den jüngeren, an sein Lager und sprach zu ihnen:

„Hört mich an, meine Kinder. Ich hinterlasse euch dieses Königreich, das ich geschaffen habe, und lege alle Reichtümer und alle Macht in eure Hände, auf dass ihr sie getreulich teilt und gemeinsam zum Wohle unserer Völker verwendet. Ich liebe euch beide und weiß, dass ihr euch liebet, wie Brüder sich lieben sollen. Ich zweifle nicht daran, dass ihr die Versuchungen der Zwietracht meiden werdet. Doch ich habe den Lauf der Welt betrachtet und weiß, dass alles, was ich euch hiermit übergebe, so vergänglich ist wie ein Turm im Sand, den die Kinder am Meeresstrand errichten. Die Könige von Ägypten haben Gesetze für die Ewigkeit gemacht und Bauten errichtet, die das Ende der Zeiten überdauern sollten, doch heute weht der Sandsturm über jenen Stätten. Babylon ist in der Erde versunken und das atlantische Reich im Meer. Pestilenzen sind durch die Lande gegangen und haben gewütet und Zeiten der Fülle und des Lebens haben die Menschen träge und lässig gemacht. Wohltätige und Mörder kamen und gingen und nach hundert Jahren waren ihre Namen und Taten vergessen. Wo gebaut wird, zerfällt, was geboren wird, stirbt. Das Gesetz erzeugt das Böse und das Böse das Gute und alles ist nur ein Spiel von Licht und Schatten ohne Dauer. Darum bitte ich euch, meine lieben Söhne, die ihr durch die Macht und den Reichtum, den ich euch hinterlasse, alle Möglichkeiten habt, etwas zu schaffen, das unvergänglich ist und jenseits aller Wechselfälle der Zeit: Es ist das Bild des Glücks und ihr müsst es finden – und ihr müsst es gemeinsam aufrichten. Nur wenn ihr mir das feierlich versprechen wollt, kann ich in Frieden sterben.“

Die beiden Söhne gelobten unter Trauer des Vaters Willen und Wunsch getreulich zu erfüllen und König Erilon atmete seine Seele aus und sie bauten ihm ein Grabmal und setzten den Leichnam darin bei. Und das ganze Volk von Mahanar trauerte um den König.

Die beiden Brüder waren aber von ganz verschiedener Art. Leban, der jüngere, hatte ein fröhliches und unbekümmertes Herz, er war wohlgestalt und konnte lachen wie ein Kind und jeder, der ihn sah, hatte Freude an ihm. Khanio, der ältere, war dagegen von wildem und düsterem Wesen, grübelte viel, sein Leib war trocken und sehnig und seine Stirn schon in jungen Jahren von Furchen durchpflügt. Dennoch, oder gerade deshalb, liebten sich die beiden von ganzer Seele, denn jeder fand im anderen, was ihm selbst fehlte.

Als nun die gebotene Trauerzeit um war, sprach Khanio zu Leban: „Brüderchen, es ist an dem, dass wir uns aufmachen, um zu suchen, was der König uns geboten hat. Geh du nach Sonnenaufgang, so will ich nach Sonnenuntergang gehen. Und welcher zuerst das Bildnis findet, der mag dem anderen einen Boten schicken, damit wir es gemeinsam hier aufstellen.“

„Es soll so geschehen, wie du sagst“, antwortete Leban.

Da ging Khanio hin zu seiner anverlobten Braut Eria, Tochter des Statthalters Nzi, und nahm Abschied von ihr und sie weinte an seinem Hals und sagte: „Werde ich dich denn wiedersehn, mein Geliebter? So muss ich mein Leben als Witwe verbringen, wenn du nicht zurückkehrst.“

Doch Khanio verwies es ihr und antwortete: „Ich kehre wieder.“

Leban aber hatte keine Braut, denn er war noch zu jung.

Dann nahmen auch die Brüder Abschied und jeder ging seines Weges aus dem Palast, nach Morgen der eine und nach Abend der andere.

Leban aber hatte den Garten des Palastes noch nicht verlassen, da sah er Kinder, die spielten schöne Spiele, und er gesellte sich zu ihnen und sagte: „Es hat keine Eile. Finde ich’s, so finde ich’s. Wenn nicht, so nicht.“

Indessen war Khanio schon aus dem Lande gezogen und irrte durch eine Wüste aus Felsen und Dornen und er hatte großen Durst und Hunger. Und die wilden Tiere schlichen um ihn her.

Da verkroch er sich in einer Höhle, die war voller goldener und silberner Schätze, die alle mit Dämonenbildern gezeichnet waren.

„Ach, kaum dass ich begonnen habe, bin ich schon am Ende.“

Am Abend aber kam ein Zauberer, der in dieser Höhle wohnte, und gab ihm zu trinken und zu essen. Und ihm erzählte er, was ihn hergeführt hatte.

„Ich weiß wohl, was du suchst“, sagte der Zauberer. „Am anderen Ende der Welt gibt es ein Meer aus fließendem Feuer. Darin schwimmt eine Insel aus Eis, auf dieser wächst ein riesiger Baum in die Wolken des Himmels, dessen Äste aus Adern sind, darin du das Blut pochen fühlst. Zwischen den Wurzeln des Baumes liegt eine Höhle, in welcher man aufwärts stürzt in einen Abgrund der Höhe. Wer diesen Sturz überlebt, ohne seine Glieder zu zerschmettern, der gehe in einen Raum ohne Licht, in dem alle Dinge der Welt als Hohlformen vorhanden sind. Eine davon, eine einzige nur, ist das Bildnis des Glücks. In diese musst du dich legen. Irrst du dich aber und wählst eine andere in der völligen Finsternis, so löschest du im gleichen Augenblick aus, als seist du nie gewesen. Doch auch wenn du die rechte findest, so ist die Gefahr nicht geringer, denn nur der eine, dem diese Form ohne Makel und Fehl anliegt, als sei sie die seine, kann sich mit ihr vereinen und wird so selbst zum Bildnis des Glücks. Wer aber der Unrechte ist, der wird selber zur Hohlform und gleich den zahllosen, die schon dort liegen.“

Als Khanio dies hörte, schwand ihm jeder Mut. „Schon den Anfang zu finden wird unmöglich sein. Wie soll ich ans Ende gelangen?“, rief er unglücklich aus.

„Nein“, erwiderte da der Zauberer, „du hast keinen Grund zu verzagen. Höre, was ich dir sage: Ich kann dir den Weg zum Meer aus fließendem Feuer beschreiben und die genaue Lage der Insel aus Eis. Ich kann dir das geheime Wort melden, das dich beim Sturz dort oben in jener Höhle vor Unheil bewahren wird, und ich kann dir sagen, welche der Hohlformen es ist, die du wählen musst.“

„Oh, dann tue es, heiliger und weisester aller Menschen“, rief Khanio, „und ich werde dir ewige Dankbarkeit bewahren. Denn an Mut alle diese Gefahren zu überwinden fehlt es mir nicht, wohl aber an Wissen. Also lehre es mich!“

„Das will ich“, antwortete der Zauberer mit funkelnden Augen, „doch zuvor musst du eine Bedingung erfüllen.“

„Ich werde alles tun, was du willst.“

„Das ist gut, mein Freund. So schwöre denn deinen Göttern ab, die mir ein Gräuel sind, und bekenne dich zu den meinen. Und du musst es ehrlichen Herzens tun.“

Da wurde Khanio traurig und warf sich auf sein Angesicht und weinte und sprach: „Alles, nur das nicht. Meine Götter sind freundlich und gut, die deinen aber sind grausam und böse. Darum verlange das nicht von mir.“

„So will ich dir das Geheimnis nicht sagen“, versetzte der Zauberer, „da du seiner nicht würdig bist. Geh aus meinen Augen.“

Aber Khanio bat bei ihm bleiben und ihm als Knecht und Gehilfe dienen zu können, denn er gedachte, den Zauberer durch treue Dienste milde zu stimmen. Und dies tat er viele Monate hindurch und verrichtete alles, was der Zauberer ihm gebot, darunter auch vieles, was er nur mit Abscheu tat, denn der Zauberer liebte es, in lebendem Fleisch zu schneiden und zu stechen.

Als aber ein Jahr um war, da bat Khanio den Zauberer von Neuem, ihm das Geheimnis zu sagen, doch der antwortete:

„Ich will es nicht, es sei denn, du bekennst dich zu meinen Göttern.“

Da ergrimmte Khanio und fasste ihn am Halse und würgte den Zauberer. Doch der schleuderte ihn ohne Mühe zu Boden und setzte seinen Fuß auf Khanios Nacken. Und Khanio rief seine Götter an, dass sie ihm beistünden, aber sie schwiegen und taten es nicht. Da schwur er ihnen ab und bekannte sich zu den Göttern des Zauberers.

„Nun bist du mein“, sprach der Zauberer und lachte, „solange ich lebe und solange du lebst, wirst du mir nicht entrinnen können. Nur der Tod kann dich befreien.“

„Sage mir nun das Geheimnis des Weges“, bat Khanio, „denn ich habe getan, was du wolltest.“

Aber der Zauberer lachte noch lauter und rief: „Höre, du Narr, es gibt keinen und ich weiß nichts davon, denn alles, was ich sagte, habe ich erlogen, um dich zu meinen Göttern zu bekehren, denn nur dadurch konnte ich deine Seele fesseln. Vorher, als du noch deine Götter hattest, wäre es dir ein Leichtes gewesen fortzugehen, aber du wolltest es nicht. Jetzt kannst du es nicht mehr, denn ich will es nicht.“

Und Khanio floh vor ihm und kehrte zur Höhle zurück. Und er floh von Neuem und kehrte zurück und so viele Male. Da wurde seine Seele schwarz von Hass. Und eines Nachts, als der Zauberer betrunken war und schlief, nahm er einen Stein und schlug ihn auf dessen Kopf und Glieder und schlug viele Male zu, bis der einem Menschen nicht mehr ähnlich war. Und Khanio lief fort und konnte den Umkreis der Höhle verlassen.

Als er den Saum der Wüste erreicht hatte, sah er dort eine Säule aus wirbelndem Sand, die bis in den Himmel reichte und in Windeseile auf ihn zukam. Und die Säule heulte schrecklich, sodass Khanio vor Angst wie tot zu Boden fiel.

Der Wirbel blieb vor ihm stehen und war ein gewaltiger Dämon, der nun zu ihm redete:

„Stelle dich auf deine Füße und fürchte dich nicht länger. Ich bin nur gekommen, um dir zu danken, dass du Kschaffar, den Zauberer, getötet hast. Ich bin Iku-Esbani, einer der Dämonen des Todes, die er zu seinem Dienst gezwungen hat, und bin nun frei. Wünsche dir etwas!“

„Ich bin ausgezogen, das Bild des Glücks zu finden“, antwortete Khanio zitternd, „weißt du, wo ich es finde?“

„Von Glück weiß ich nichts“, erwiderte der Dämon, „denn es gibt nichts dergleichen in unserer Welt, aber ich kenne eine Stadt, da sind alle Menschen reich und leben im Überfluss. Wolltest du dorthin?“

„Ja“, sagte Khanio.

Da gab Iku-Esbani ihm seinen Mantel, der war überaus kostbar, mit Juwelen besetzt und aus einem Gewirk, wie kein Menschenauge es je gesehen. Der Mantel umhüllte Khanio wie Feuer, doch schmerzte es ihn nicht und als er um sich blickte, stand er auf einem Marktplatz und viel Volk trieb sich um ihn her. Die Leute waren reich gekleidet und wohlbeleibt, Männer und Frauen, Alte und Junge, und alle trieben Handel und kauften und verkauften für klingende Münze.

Als sie aber den Mantel sahen, da begehrten ihn viele und boten ihm Geld, einer immer mehr als der andere.

Khanio sprach: „Er ist mir nicht feil für euer Geld.“

Sie schrien: „Was willst du denn?“

„Wer mir sagen kann, wo ich das Bild des Glücks finde“, antwortete er, „dem will ich ihn schenken.“

Da erinnerte sich das Volk und schrie noch lauter: „Wer auf diesem Markt und in unsere Stadt kommt, der muss kaufen und verkaufen, was immer es sei. So bestimmt es unser Gesetz und das unserer Götter. Du bist ein Frevler!“

Und sie nahmen ihm den Mantel und stritten darum untereinander und da keiner verzichten wollte, zerrissen sie ihn in tausend Stücke und jeder trug seinen Teil davon. Aber ihre Hände brannten wie Feuer und sie jammerten und klagten vor Schmerzen und die Stücke verschwanden vor ihren Augen und wurden zu giftigen Dämpfen und an der Seuche starben mehr als die Hälfte der Bewohner der Stadt. Da ergrimmten sie erst recht gegen Khanio und bewarfen ihn mit Steinen und trieben ihn aus der Stadt und riefen: „Geh fort, denn du hast uns ins Unglück gestürzt!“

Die beiden Brüder
(Der Schluss)

Der Jüngere: „Mein Leben ist vergangen wie eine einzige Stunde des Glücks, ohne Schatten und Trübung. Ich habe keine Geschichte zu erzählen, alles hat sich mir gefügt und ist mir von selbst zugefallen. Ich wusste es nicht einmal, wie glücklich ich bin, ehe ich das Bildnis sah, das du von mir gemacht hast. Nun erst verstehe ich es. Doch du allein konntest das vollbringen, nur du konntest ein solches Bild von mir schaffen. Und ich segne dich dafür.“

Der Ältere: „Mein Leben ist vergangen wie ein endloser quälender Traum, alles Licht, das ich sah, war nur dazu da, um immer noch Entsetzlicheres zu beleuchten. Ich habe viel zu erzählen, aber ich werde schweigen, denn es wäre eine Geschichte der Bitternis und der Enttäuschungen ohne Ende. Alles ist mir misslungen, alles habe ich verloren, was ich mir erkämpft habe. Ich wusste nicht einmal, wie unglücklich ich war, bis ich dich, mein Bruder, sah. Doch ich liebte dich für dein Glück und dafür, dass du mir die Möglichkeit gabst, dieses Bildnis zu machen. Nun erst verstehe ich es. Nur durch dich konnte ich es vollbringen, nur durch dich konnte ich dieses Bild schaffen. Und ich segne dich dafür.“

Viele Jahrhunderte sind seither vergangen. Große Reiche entstanden und zerfielen wieder, so auch das Reich, das der König Erilon geschaffen hatte. Große Gedanken wurden gedacht und wieder vergessen. Blutige Zeiten wechselten mit solchen des Friedens, wie Sommer und Winter. Geschlechter kamen und gingen. Doch das Bild des Glücks blieb auf wunderbare Weise erhalten. Zahllose Menschen haben es seither gesehen und während sie es betrachteten, spiegelte sich im Glanz ihrer Augen, und sei es nur für kurze Zeit, der Widerschein des Geheimnisses, das die Götter nur mit den Menschen teilen.

Legende von der Gerechtigkeit des Lebens

„Ich bin der fünfte von neun Brüdern. Unser Vater war ein mächtiger Herrscher im Lande Malkuth. Alle Reichtümer und Herrlichkeiten des Himmels und der Erde waren unser, wir ritten auf Sphingen und Drachen, wir jagten in verzauberten Wäldern Einhörner und Greife, wir tranken das Wasser des Lebens und spielten mit dem Tod. Unsere Lehrer waren die Meister der Weisheit und unsere Diener die Salamander. Nichts mangelte uns, bis auf eines: Wir hatten keine Namen. Doch da wir nichts davon wussten, bedrückte es uns nicht.

Als unser Vater starb, beschlossen wir Malkuth gemeinsam zu regieren und die Herrlichkeit nicht zu zerstückeln. Eines Abends saßen wir und spielten mit Knöcheln. Der Übermut trieb uns, die Einsätze jedes Mal zu erhöhen, aber da jedem alles gehörte, waren die Reichtümer eines jeden von uns unerschöpflich und das Spiel war ohne Gefahr, als spielten wir um nichts. Doch eben deshalb genügte es uns nicht und so bestimmten wir, derjenige von uns sollte allein das ganze Erbe des Vaters antreten, dem es gelänge, sich einen Namen zu erwerben. Die anderen sollten danach nicht mehr sein als seine Sklaven.

Dies war nicht unser Einfall gewesen. Unter unseren Lehrern war einer, den wir den Spiegel nannten, denn wer ihn anschaute, erblickte stets nur sein eigenes Gesicht, niemals das seine. Der hatte unserem Spiel zugesehen und schließlich den Vorschlag gemacht. Und er sagte uns auch, wie wir es anfangen müssten, uns einen Namen zu erwerben: Am anderen Ende der Welt gebe es ein Meer aus fließendem Feuer, in diesem Meer liege eine Insel aus Eis, auf dieser Insel wachse ein Baum aus Adern, in welchen man das Blut pochen fühle, in diesem Baum sei eine Höhle, in welcher man aufwärts stürze. Gelinge es einem, diesen Sturz zu überstehen, ohne sich die Glieder zu zerschmettern, so komme man in einen dunklen Raum voller Hohlformen. Eine davon sei die eines königlichen Mädchens, in diese müsse man sich legen. Irre man sich aber und wähle eine andere in der Finsternis, so lösche man selber im gleichen Augenblick aus und sei wie nie gewesen. Doch auch wenn man die rechte Form gefunden habe, sei die Gefahr noch nicht überwunden, denn nur der eine, dem die Form ohne Makel anliege, könne das Mädchen freien und werde eins mit ihr und erfahre durch sie seinen Namen. Wer aber der Unrechte sei, müsse selber zur Hohlform werden.

Wir blickten uns an und mancher hätte gern sein unbedachtes Wort zurückgenommen, aber dazu war es nun zu spät. So verabschiedeten wir uns voneinander und machten uns auf, jeder für sich allein und in eine andere Himmelsrichtung.

Mir ist es nicht einmal gelungen, das feuerflüssige Meer zu finden, obgleich ich schon tausend Tagesreisen weit gewandert war. Am ersten Abend traf ich einen Alten und fragte ihn nach dem Wege dorthin. ‚Es ist nicht weit‘, sagte der, ‚siehst du dort den Hügel, auf dem der alte Turm steht? Ersteige ihn in der Nacht, dann wirst du die Glut in der Ferne leuchten sehen.‘ Ich tat, wie er mich geheißen hatte, und sah tatsächlich Feuerschein in der Ferne. Ich eilte darauf zu, doch es war ein brennendes Dorf. Auch der Alte war da. Er zeigte auf mich und schrie: ‚Der hat es getan!‘ Die Bauern, die mich für den Brandstifter hielten, schlugen mich halb tot und nur durch ein Wunder entkam ich ihnen. Ein junges Mädchen fand mich Tage später im Wald. Sie wusch meine Wunden und pflegte mich. Ich erzählte ihr, was mir widerfahren war und wohin ich wollte. ‚Dorthin‘, sagte sie, ‚ist es nicht weit. Du musst nur diesen Wald durchqueren. Ich werde dir zwanzig meiner Knechte mitgeben, dass sie dich begleiten.‘

Sie ging fort und kehrte bald zurück mit zwanzig bewaffneten Männern von verwegenem Aussehen. Ich bedankte mich von ganzem Herzen bei ihr und machte mich mit meinen Genossen auf den Weg. Als wir auf der anderen Seite des Waldes anlangten, war dort allerdings kein Meeresstrand zu sehen, weder ein salziger noch ein brennender, sondern eine große Stadt. Die Männer weideten sich an meiner Enttäuschung und erklärten mir lachend, dass sie Sklavenfänger seien. Sie legten mich in Ketten, brachten mich auf einen Markt und verkauften mich dort an einen dickwanstigen alten Kaufmann. Viele Wochen und Monate musste ich dessen Nachtgeschirr leeren und seinen Speichel vom Boden aufwischen, denn er hatte die Gewohnheit alles zu bespeien. War ich nicht rasch genug bei der Hand, so setzte es Fußtritte und er spie auch auf mich. Eines Nachts jedoch konnte ich entfliehen, eilte in die Wüste hinaus, in der ich fast verschmachtet wäre, hätte ich nicht einen Eremiten angetroffen, der in einer Felshöhle bei einer Quelle lebte. Er nahm mich barmherzig auf und ich berichtete ihm meine ganze Geschichte.

‚Ich weiß wohl den Weg‘, sagte er, ‚und in weniger als einem Tag kannst du dort sein. Aber ich sage ihn dir nicht, ehe du mir nicht alle deine Sünden bekannt hast.‘ Ich begann also, ihm alle meine Missetaten und bösen Gedanken zu berichten, doch schien er niemals zufrieden. ‚Das ist noch nicht alles‘, sagte er immer wieder, ‚erforsche dich genauer, mein Sohn.‘ Ich grub in meiner Seele nach und fand in der Tat noch tiefere und verborgenere Übel in mir. Auch diese gestand ich ihm alle. Doch war er noch immer nicht zufrieden. Von Tag zu Tag bezichtigte ich mich wüsterer Sünden und nach und nach vermochte ich nicht mehr zu unterscheiden, welche ich wirklich begangen hatte und welche nur hätte begehen können, welche ich früher gehört und welche ich erst jetzt erfunden hatte. Als ich schließlich alle Achtung vor mir selbst verloren hatte und mich selbst für die elendeste, niederträchtigste Kreatur auf Gottes Erde hielt, sagte ich mir, dass es nun auf eine Untat mehr auch nicht mehr ankomme, griff den Alten, würgte ihn und bedrohte ihn mit dem Tode, wenn er mir nicht sogleich das Geheimnis verriete. In seiner Angst gestand er mir, dass er mich getäuscht habe, um mich so auf den Weg der Läuterung zu bringen, dass er aber von jenem anderen Weg nichts wisse. Da ergriff mich der Zorn und ich schlug mit einem Stein auf ihn ein, bis er tot und einem Menschen nicht mehr ähnlich war. Da floh ich von der Höhle und gelangte nach vielen Tagen in eine Hafenstadt.

Die Matrosen, denen ich von dem Meer erzählte, das ich suchte, lachten mich aus, schüttelten die Köpfe über mich und tippten sich an die Stirn. Aber eines Tages fragte mich ein riesiger Trunkenbold mit dem Gesicht eines Schweins, ob ich auf seinem Schiff anheuern wolle. Lohn könne er mir zwar nicht bezahlen, doch liege jene Insel aus Eis, die ich suchte, auf seiner Route. Ich schlug hochbeglückt ein und ging mit ihm auf sein Schiff, ein halb verfaultes Wrack mit einer Mannschaft aus Krüppeln, Blinden und Säufern. Wir stachen in See und nun zeigte sich, dass mir die Stelle des Kochs zugedacht war. Doch gab es nichts zu kochen als die Ratten, die in Scharen auf dem Schiff herumwimmelten. Von dieser eklen Speise ernährten wir uns fünf Monate lang, ohne dass je eine Küste in Sicht kam. Eines Tages geriet ich auf der Jagd nach Ratten – denn ich musste sie auch selber fangen – in den Raum, wo die Ladung verstaut war. Diese Ladung bestand aus Leichen. Es waren Tote, die ihrem Glauben gemäß in ihrer Heimat bestattet werden wollten, wohin wir angeblich unterwegs waren. Nur die wenigsten der Verstorbenen waren reich genug gewesen, diese letzte Reise in einem Sarg aus Holz oder Blech machen zu können, die meisten waren in Säcke genäht oder auch einfach so in Haufen übereinandergeworfen. Von ihnen ernährten sich die Ratten, die wiederum uns zur Nahrung dienten. Nach dieser Entdeckung verfluchte ich mein Schicksal und meinen Plan, meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und mich selbst. Ich hätte mich ins Meer gestürzt, um zu sterben, wenn nicht noch immer die Hoffnung in mir geglommen hätte, dass wir tatsächlich eines Tages an jener Insel, die ich suchte, anlegen würden. Ich weiß nicht, ob auch der Kapitän dieses Schiffes mich betrogen hat, und werde es niemals wissen, denn eines Tages, bei völliger Windstille und ohne das kleinste Unwetter, fiel das Schiff in seine Teile auseinander und ging unter. Diesen lächerlichsten und schmachvollsten aller Schiffbrüche überlebte ich, weil ich einen der wohlhabenden Leichname aus seinem Sarg warf, mich selbst hineinlegte und den Deckel über mir schloss, sodass kein Wasser eindringen konnte.

Ich versank in einen totenähnlichen Schlaf und wollte nichts mehr sehen und hören. Doch diese Ruhepause war mir nicht lang vergönnt. Ich erwachte, weil ich das Poltern von Erdschollen und Steinen auf dem Deckel meines Sarges vernahm. Ich schrie und stemmte mich mit aller Kraft, die mir noch verblieben war, gegen den Deckel und es gelang mir, die Erdmassen zu heben und mich ins Freie zu wühlen. Morgengrauen umgab mich und leichter Schnee rieselte hernieder. Vor mir stand mein zweitältester Bruder, doch sein Haar und sein Bart waren schlohweiß geworden und er erkannte mich nicht, denn von seinen beiden Augen waren nur noch tiefe Höhlen geblieben. Ich fiel ihm in die Arme, doch konnte ich mich ihm nicht zu erkennen geben, da ich ja keinen Namen besaß. So dauerte es eine Weile, während welcher er mein Gesicht betastete, ehe er mir glaubte. Von ihm erfuhr ich, dass ich mich wieder in meiner Heimat, in Malkuth, befand. So war ich also heimgekehrt, wenn auch unverrichteter Dinge. Doch sollte ich sogleich erfahren, dass dies die schlimmste von allen Grimassen war, die mir die höhnischen Mächte des Schicksals schnitten.

Mein Sarg war, so erfuhr ich, unter allerlei Strandgut an die Küste von Malkuth geschwemmt worden und mein zweitältester Bruder, der inzwischen den verachteten Dienst des Totengräbers ausüben musste, hatte den Auftrag bekommen, ihn zu begraben. Auch er war erst vor Kurzem von einer Irrfahrt voll der entsetzlichsten Fehlschläge zurückgekehrt. Doch kam er nicht mehr dazu, mir diese zu berichten. Unser jüngster Bruder nämlich war, wie er mir erklärte, von seiner Suche schon nach wenigen Tagen als Freier mit der verheißenen Braut heimgekehrt. Seinen Namen zu erfragen habe ich vergessen, doch hatte er ihn sich erworben. Für ihn war alles ein Kinderspiel gewesen, denn so wie mir alles misslungen war, hatten sich ihm alle Begegnungen und Umstände hilfreich erwiesen. Die anderen Brüder waren wohl alle umgekommen, bis auf jenen Zweitältesten, der nun die Toten begrub.

‚Wenn ich gewusst hätte‘, sagte er, ‚dass du es bist, Bruder, so hätte ich eiliger geschaufelt und es wäre ein Werk der Barmherzigkeit gewesen, denn es wäre dir besser, du lägst dort unten lebendig begraben, als dass du nun, rechtlos und unfrei wie ich, dem jüngsten Bruder dienen musst.‘

Ich habe niemals bis zu diesem Augenblick bedacht, ob das, was mein zweitältester Bruder mir sagte, die Wahrheit war. Vielleicht hat auch er mich belogen und betrogen. Ich jedenfalls war wie von Sinnen, als ich seine Botschaft hörte. Ich rannte fort, ich weiß nicht mehr, wie lang, Tage und Nächte, oder waren es auch nur Stunden, bis ich mich in dieser Straße fand. Und nun wisst ihr alles und ich weiß nichts mehr.“

Mit diesen Worten beendet der Jüngling seine Geschichte. Noch immer durchkämmen die silbernen Fingernägel der Dame sein Haar, doch langsamer und immer langsamer. Schließlich hört sie auf. „Wie fühlst du dich jetzt, mein Lieber?“, fragt sie. „Ist dir nicht leichter?“

„Viel leichter“, sagt er, „ich fühle mich leer wie neugeboren.“

„Was tut sie mit ihm?“, flüstert der Knabe.

„Sie hat ihm die Erinnerung genommen“, antwortet der Stik ebenso. Und damit fragt er: „Wie hieß das Land, aus dem du gekommen bist?“

„Welches Land?“, fragt der Jüngling erstaunt. „Ich habe von keinem Land gesprochen. Ich war immer in dieser Straße. Ich bin hier geboren.“

„Und wer war dein Vater?“

„Mein Vater?“ Der Jüngling streicht sich über die Stirn. „Warte, mein Vater – ich erinnere mich nicht. Ist es hier nicht üblich, dass einer viele Väter hat?“ Ein trostloses Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. „Komm, Alte, gehn wir hinein. Jetzt ist mir schon viel besser. Ich habe meinen Rausch ausgeschlafen.“ Er steht auf und will mit der Dame ins Haus. Aber der Knabe kann es jetzt nicht mehr mit ansehen. Er tritt ihm in den Weg.

„Aber du bist doch ein Königssohn“, sagt er empört. „Hat sie dir denn alles weggenommen, während du erzählt hast? Willst du dich denn selbst vergessen?“

„Was redet dieses Bürschchen?“, fragt der Jüngling. „Will es sich über mich lustig machen?“

Die Drängelnden

Nachdem der Mann dem Drängelnden gegeben hatte, was er brauchte, legte er sich wieder nieder, doch kurze Zeit später standen zehn Drängelnde vor seiner Tür. Als er auch denen gegeben hatte, was sie brauchten, legte er sich wieder nieder, doch kaum hatte er das getan, standen hundert Drängelnde vor der Tür. Als es endlich tausend Drängelnde waren, sagte der Mann: „Ihr müsst warten, bis ich wieder Brot gebacken habe, vorausgesetzt, dass mein Mehl noch reicht.“ Denn die, die zuvor drängelten, hatten schon alles aufgegessen, was er besessen hatte. Da beklagten sich die Tausend bitter und riefen: „All denen vor uns hast du gegeben, was sie brauchten. Warum bist du uns gegenüber so knauserig! Sind wir etwa weniger wert?“ Da schwieg der Mann, weil er erkannte, dass es keinen Sinn hatte, ihnen irgendetwas zu erklären, und er trachtete bei sich, wie er des Nachts entweichen könne, um wenigstens sein Leben in Sicherheit zu bringen.

Kultur und Demokratie

Bildung ist nicht eine Anhäufung und Verfügbarkeit von lexikalem Wissen, sondern ein feines Unterscheidungsvermögen der Qualitäten. Sie sich anzueignen, kostet jahrzehntelange, geduldige Mühe und ein nie versiegendes brennendes Interesse. Also Anstrengung. All die Menschen, die im Zuge der „Demokratisierung der Kultur“ im Massentourismus nach Florenz oder Kyoto gebracht werden, sind im Grunde Betrogene. Sie glauben, gesehen zu haben, aber sie konnten nichts sehen.

Demokratie hat nur dort einen Sinn, wo jeder gleichermaßen mitreden kann, weil jeder gleichermaßen betroffen ist.

Seltsame Signifikanz meines Lebens

26. 8. 75, nachts

Seltsame Signifikanz meines Lebens: Was ich auch anstelle, immer hustet in meinem Haus, in meiner Wohnung, in meinem Nebenzimmer ein Greis oder eine Greisin auf genussvoll-ausführlich-unappetitliche Weise. Ich bin ständig umgeben von Greisen oder Greisinnen. Immer muss ich langsamer gehen, als ich möchte, weil ein Greis oder eine Greisin an meinem Arm hängt – physisch oder moralisch oder intellektuell. Nur meine bisherigen Bücher sind für die Jugend. In meinem Leben kommt sie nur sporadisch vor. Aber vielleicht sind auch meine Bücher für Greise und Greisinnen.

Buckelchen

Sophiechen geht von der Schule nach Hause. Die Leute unterwegs werfen ihr erschreckte oder mitleidige Blicke zu, denn sie hat einen Buckel. Bei der Geburt war noch nichts zu merken, aber später … Auf dem Heimweg geht sie über einen Friedhof. Dort sitzt eine alte Frau, die aus einem Märchenbuch vorliest, obwohl niemand da ist. Sophiechen bleibt verwundert stehen und hört zu. Die Frau schaut sie freundlich an und sagt: „Ein schönes Buckelchen hast du da.“ Sophiechen ist nicht beleidigt, nur verwundert, weil die alte Frau einen viel größeren Buckel hat als sie selbst. Deshalb sagt sie: „Sie haben aber einen viel größeren Buckel.“ Die Frau erklärt ihr, dass in dem Buckel Flügel sind. Jeder Mensch hat einen irdischen Körper und einen Sternenleib – und vieles sieht von der anderen Seite ganz anders aus, bloß wissen es die Menschen nicht mehr. Früher wussten sie es. Sophiechen fragt, was sie da vorliest. „Ich lese ihnen Märchen vor.“ „Wem?“ „Meinen Toten.“ „Hören sie denn zu?“ „Oh ja. Sie hören das gern. Weißt du, vieles vergessen sie bald, wenn sie in die Sternenwelt hinübergegangen sind. Zum Beispiel, wie man ein Auto baut, oder was Bankzinsen sind – denn Autos und Geld gibt es dort nicht. Aber Märchen verstehen sie besser als die meisten Menschen hier. Märchen sind Brücken zwischen der Welt dort und der Welt hier. Ich meine die wirklichen Märchen.“

Brief an Herrn N.

München, 23. August 1988

Lieber Herr N.,

vielen Dank für das Vertrauen, das Sie in Ihrem Brief in mich setzen. Es ist gewiss nicht leicht, auf die Fragen zu antworten, die Sie mir darin stellen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen aber eines sagen: Die Tatsache, dass Sie glauben, nicht lieben zu können, ist eigentlich bereits der beste Beweis dafür, dass durchaus eine starke Liebesfähigkeit in Ihnen schlummert. Die Frage, wie sie zu wecken ist, lässt sich wohl nicht mit irgendeinem einfachen Rezept beantworten. Die Leute, die immerfort predigen „Liebe deinen Nächsten“ oder „Liebe die Menschen“ kommen mir immer vor, als ob sie zu einem Ofen sagen würden „Sei warm, sei warm“, anstatt dass sie Holz und Kohle hineintun. Ich will damit sagen, dass man konkrete Menschen natürlich nicht lieben kann, wenn man nicht das in ihnen sehen und ausdrücklich ins Auge fassen kann, was sie eben liebenswert macht. Das bedarf ganz gewiss mitunter einer ziemlichen Anstrengung. Hinter der Maske eines Menschen, der sich meist überlegen und kalt gibt, die Hilflosigkeit und Verletzlichkeit zu sehen, kostet manchmal eine schöpferische Anstrengung. Das Negative an den Menschen springt uns ja zunächst immer ins Auge, das eigentlich Liebenswerte muss man sehen wollen, um es zu sehen. Das bedeutet natürlich, dass man sich selbst für diesen Augenblick vergessen muss. Ich weiß nicht (und kann aus Ihrem Brief auch nicht entnehmen), wie Sie über religiöse Vorstellungen denken. Ich frage das deshalb, weil ich mir nur schwer vorstellen kann, dass man im Menschen irgendetwas Liebenswertes findet, wenn man ihn nicht „sub specie aeternitatis“ (unter dem Aspekt der Ewigkeit) sieht. Für wen der Mensch tatsächlich nur das ist, was uns die heutige Naturwissenschaft über ihn sagen kann, besteht, wie mir scheint, keine Möglichkeit der Liebe, noch nicht einmal die des ganz gewöhnlichen Respekts. Ist die Seele des Menschen tatsächlich nur „die Summe aller elektrochemischen Prozesse im Hirn und Nervensystem“, dann gibt es keinen Grund, auf feinere Unterschiede dieser elektrochemischen Prozesse zu achten.

Aber diese Anschauung ist ungefähr ebenso gescheit, als wollte man behaupten, ein Buch bestünde in Wirklichkeit nur aus Papier und einer Menge komplizierter Flecken aus Druckerschwärze. Der Rat, den ich Ihnen also geben kann, besteht darin: Suchen Sie sich entweder durch entsprechende Lektüre oder durch eigene Gedanken eine Anschauung vom Menschen, die es Ihnen ermöglicht, dasjenige an ihnen wahrzunehmen, was Sie für Ihr eigenes Herz und Ihre eigene Seele brauchen.