Hermine Villinger

Meine Tante Anna

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066109370

Inhaltsverzeichnis


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Titelblatt
Text
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Unter den verwitterten Grabstätten des alten Friedhofs zu Rastatt befindet sich ein dicht mit Efeu umsponnenes Grab, dessen schlichter roter Sandstein noch keine Spuren von Verfall zeigt. Schiebt man den Efeu ein wenig zur Seite, ist auch die Inschrift noch deutlich zu lesen:

Anna Villinger.

Mein Bruder war's, der während seiner Garnisonszeit zu Rastatt das Grab der Schwester unseres Vaters entdeckte und den verfallenen Grabstein der längst Verewigten durch einen neuen ersetzen ließ.

Wir haben Tante Anna nie gekannt, nur viel von ihr gehört. So wußte mein Bruder auch, daß sie in Rastatt als Institutsvorsteherin gewirkt hatte und da verstorben war.

Jetzt aber ist auch meine Zeit gekommen, der eigenartigen und so mutigen Seele ein Denkmal zu setzen, indem ich sie aus ihrer stillen Gruft ins Leben zurückrufe – ich, die letzte, allein übriggebliebene der langen Reihe von Angehörigen, deren Bilder die Wände meines Arbeitszimmers zieren. In ihrer Mitte, meinem Schreibtisch gegenüber, hängt das Ölbild von Anna Villinger. – Ein schmales Gesicht, von roten Locken umrahmt, in die sich ein weißes Band schlingt. Unter der schön ausgebildeten Stirn kluge dunkelblaue Augen voll Geist und warmer Güte. Die ausdrucksvollen Mundwinkel zeigen das feine Lächeln liebevollen, überlegenen Humors. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid mit bauschigen, an den Schultern aufgefaßten Ärmeln. Den Hals umschließt ein breiter weißer Kragen.

Sie war zur Zeit, als sie gemalt wurde, Ende der Zwanzig.

Im Hintergrund des Bildes sieht man durch ein offenes Fenster ein schloßähnliches Gebäude mit kleineren Nebengebäuden inmitten eines Gartens. Dahinter blaues Gebirge.

Das Gemälde stammt von der Hand des Barons O., des Schloßherrn, in dessen Haus Anna Villinger Erzieherin war.

Im Besitz ihres Tagebuchs und einer Anzahl von Familienbriefen habe ich daraus schon früher so manches entnommen. Unter anderm die Polenzeit 1832. – Allein, wie es so geht. Das einmal Erschaute kommt nicht selten wieder, um reicher und vertiefter von neuem zu erstehen.

Anna war das fünfte Kind des Oberamtmanns Villinger in Zell im Wiesental. Alle sieben Kinder – zwei starben schon früh – wurden hier geboren, in dem kleinen freundlichen Landstädtchen an der dem Feldberg entspringenden Wiese, zwischen bäuerlichen Obstgärten, mit gelben Blumen übersäten Matten.

Ein nicht weniger liebliches Paradies fanden die Kinder bei der Versetzung des Vaters in Staufen. Das kleine Amtsstädtchen liegt am Eingang des Untermünstertals im Schwarzwald. Reben umgeben die Stadt und pflanzen sich in dichter Fülle die Berge hinan, von deren Häuptern die Überreste alter Burgen grüßen.

Das Schönste aber für die Kinder war das Amtshaus. Ein gar stattliches Gebäude, dessen Front der Turm trennte, mit der gewundenen Steintreppe. An der Außenseite des Turmes wuchs der Efeu in dichten Massen bis zum letzten Fensterchen hinan. Im Hause hohe, schöne Räume, von deren Fenstern man in den Garten schaute, der sich mit seinen alten Bäumen und saftigen Wiesen fast wie ein Park ausnahm. Obst und Gemüse gab's da die Menge, und die Oberamtmännin in einer stets sauberen, stattlich ausgebogten Haube und der breiten weißen Halskrause stand am Herd und kochte das Obst ein, den einzigen Überfluß des Hauses. Denn sonst mußte tüchtig gespart werden. Die beiden älteren Töchter, so jung sie noch waren, verfertigten unter der Leitung der Mutter die eigenen Kleider und die der jüngeren Geschwister. Sie kehrten und fegten, weiße Tüchlein um den Kopf, Stuben und Kammern. Denn die Magd hatte genug mit der groben Haus- und Gartenarbeit zu tun.

Neben der tätigen, allezeit wohlgemuten Mutter hätte der Vater vielleicht einen allzu ernsten Eindruck gemacht, wenn dessen regelmäßiges, ansprechendes Gesicht nicht jenen Ausdruck von Milde und Güte besessen hätte, wie ihn die Männer der vormärzlichen Zeit aufwiesen. Mit seinem schlichten aschblonden Haar gaben er und die schwarzhaarige Gattin ein äußerst stattliches Paar ab.

Xaver, der älteste Sohn, voll Leben und Tatkraft wie die Mutter, besuchte, noch nicht siebzehnjährig, die Universität in Freiburg, um die Rechtswissenschaft zu studieren, lehnte jede Unterstützung von zu Hause ab und bestritt seinen Unterhalt durch Nachhilfestunden bei unbegabten Gymnasiasten.

Aber wenn er des Sonntags heimkam nach Staufen, da konnte sich die Oberamtmännin nicht genug tun in der Bewirtung des Sohnes, denn wenn er auch stolz zu Roß in Staufen einritt, das Bild eines flotten Studenten, das Mutterherz grämte sich unablässig ob seiner Magerkeit und war überzeugt, er maß der dem Körper so notwendigen Nahrung zu wenig Bedeutung bei.

Ihre Sorgen sollten nur zu berechtigt sein. Jung verheiratet in Karlsruhe, zu Beginn einer vielversprechenden Karriere, raffte den überarbeiteten, so wenig widerstandsfähigen jungen Mann ein Nervenfieber schnell dahin.

All diesen Kindern am Tische des Oberamtmanns, stand nicht einem jeden schon damals das künftige Schicksal auf der Stirne geschrieben? So Theresen, der Ältesten der Mädchen. Mit ihrem immer bereiten: »Wie Sie wünschen, Mamale« – blieb sie der jüngern Geschwister wegen von der Schule weg, um der schwergeplagten Mutter hilfreich zur Seite zu stehen.

Anders Caton, die zweite Tochter. Sie nahm sich ihren Anteil am Leben, ohne lang zu fragen. Schwarzhaarig, mit dunkelsprühenden Augen, war sie das Ebenbild der Mutter, sowohl an Frische als an Kraft – diese lebendige Kraft, die Mutter Villinger befähigte, den Ihren ein Heim zu schaffen, wie man sich's nicht liebevoller denken konnte.

Ihre beiden jüngsten Kinder: Hermann glich Caton, und Anna, das überzarte, beinahe schmächtige Nannele, war trotz des schweren Leidens, das ihrer zarten Kindheit anhaftete, die Lebendigste von allen, die Reichste an Geist und Gemüt und übersprudelnder Phantasie.

Wie oft in der Nacht stand die Oberamtmännin auf, wenn sie das leise Stöhnen des Kindes vernahm, das in seinem Bett aufsitzend, von schwerem Asthma gequält, nach Atem rang. Und einmal entfuhr es der Mutter unter Tränen: »O du mein arm's Nannele, warum grad' dir das?« »Aber Mutter,« verwunderte sich das Kind, »müssen wir nicht dem lieben Gott danken, daß es nur in der Nacht kommt und nicht am Tag, sonst könnt' ich ja nicht in die Schul'.«


Anna zählte elf Jahre, als der Vater als Kreisrat nach Freiburg versetzt wurde. Also lebten die landgewohnten Kinder in einer engen Gasse in engen Räumen. In Freiburg gab's keine Dienstwohnung wie in Staufen, keinen Garten mit Obst und Gemüse. Auch mußten die heranwachsenden Töchter jetzt anders gekleidet gehen als früher. Allein die tapfere Mutter Villinger wußte Rats. Und so war's in kurzer Zeit bei Kreisrats nicht weniger behaglich als bei Oberamtmanns im ehemaligen Schlößle zu Staufen.

Man hatte eine große Wohnung genommen und gab jungen Studentlein ein Heim im Hause. Mutter und Töchter teilten sich in die Arbeit des großen Haushalts, nur von einer geringen Magd unterstützt. Aber niemand sah es ihnen an, was sie geleistet, wenn sie Punkt Zwölf am wohlgedeckten Speisetisch erschienen.

Nannele, das im schwarzen Kloster in kurzer Zeit die beste Schülerin war, hatte der Mutter unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit das Geständnis gemacht, daß sie nur darum so eifrig lerne, um später Klosterfrau werden zu dürfen.

Der schöne Traum sollte nicht lange währen.

Die Klosterfrauen, Annas Klassenlehrerinnen, kamen einmal zur Mutter zum Kaffee. Glückselig bediente das Kind die geliebten Frauen und zog sich später auf den Wink der Mutter ins Nebenzimmer zurück. Sie nahm ihr Reißbrett, um die Rokokouhr auf der Kommode abzuzeichnen, ein schon begonnener Versuch.

Plötzlich horchte sie auf. Mutter sprach in einem Ton, den Anna nie an ihr gehört. Die Tür war nur angelehnt, daher jedes Wort zu verstehen.

»Um Caton ist mir nicht bang, liebe Frau Stephanie,« sagte die Mutter, »wohl aber um Therese und Anna. Was soll aus ihnen werden? Man weiß ja, wie apprehensiv die Menschen, hauptsächlich die Männer, gegen rote Haare sind. Und wir haben kein Vermögen, unsre Kinder haben nichts zu erwarten, wenn unsre Zeit gekommen ist. Wie oft kann ich in der Nacht nicht schlafen und mache mir Vorwürfe, daß ich Therese so früh aus der Schule behalten. So kann sie nicht einmal Erzieherin werden, und wie soll ich sie mir in einer untergeordneten Stellung denken! Xaver versichert mir zwar immer wieder, er werde Sorge für seine Schwestern tragen, deren Wohl ihm mehr am Herzen liege als das eigene. Aber das kann ich doch nicht von diesem Sohn verlangen, der jetzt schon daran denkt, sich eine Häuslichkeit zu gründen.«

»Frau Kreisrat,« nahm Frau Stephanie das Wort, »vertrauen Sie auf Gott, Sie haben brave Kinder. Nanneles Leiden ist zwar eine traurige Mitgabe für das Kind, aber das hindert sie nicht, in ihrer Klasse die beste Schülerin zu sein. Ohne ihr Leiden wäre sie uns eine hochwillkommene Kraft im Kloster. Aber warum soll sie nicht eine ausgezeichnete weltliche Lehrerin werden, da sie alle Anlagen dazu hat?«

Mutter Villinger schaute wie gewöhnlich, bevor sie ins Bett ging, nach ihrem Nannele, das in einem winzigen Zimmerlein neben den Eltern schlief.

Ganz still lag sie, während ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen flossen.

Als die Mutter zu ihr trat, schluckte das Kind mit aller Gewalt seinen Schmerz hinunter und schlang den Arm um den Hals der Mutter.

»Sie können ruhig schlafen, ganz ruhig, Mutterle, ich werd' eine ausgezeichnete Lehrerin und verdien' viel, viel Geld. Dann ist auch für Therese gesorgt, und wir brauchen unserm Xaver nicht zur Last zu fallen.«

Und nun soll ihr Tagebuch, sollen ihre Briefe für sie sprechen. Freilich muß ich hier und dort, oft sogar, ergänzend eingreifen, um zur Lebendigkeit des Gesamtbildes möglichst beizutragen, indem ich das Gehörte und auch die eigene Phantasie zu Hilfe nehme.

Mein Tagebuch,
angefangen an meinem 16ten Geburtstag 1827.

Ich wollte schon vor Jahren ein Tagebuch beginnen, aber da war ich noch ein Schulkind, und die Kamarädle ließen mir keine Ruhe. So habe ich damals nur Selbstgespräche gehalten in der Nacht, wenn das Schnaufen kam, Asthma genannt.

Jetzt bin ich aber aus den jüngeren Jahren in ein reiferes Alter hinübergeschritten, habe die Klosterschule verlassen und mein deutsches und französisches Examen gemacht. Wenn die Hausarbeit getan ist, darf ich die französische Konversationsstunde im Kloster weiter besuchen, und zu meinem heutigen Geburtstage wurde ich von meinen gütigen Eltern mit der Erlaubnis überrascht, mein Zeichentalent weiter bilden zu dürfen. Oh, Xaver, mein unvergeßlicher, geliebter Bruder, hätte ich statt deiner sterben können! An mir hätte die Welt, hätten die Meinen nichts verloren. Aber das Los hat ihn getroffen. Mit sechsundzwanzig Jahren, beim Beginn einer vielversprechenden Laufbahn, mußte er von seiner jungen Frau, von seinen Eltern und Geschwistern scheiden. Mit ihm starb mir ein großer Teil meines Lebensglücks. Wir klagten uns unsern Schmerz nicht in lauten Ausbrüchen, sanft weinend sprachen wir von unserm Abgeschiedenen miteinander, so in dumpfer Zurückgezogenheit nur unserm Schmerz lebend. Aber die Freunde kamen und führten uns hinaus in die schöne Natur, und wir konnten uns ihrer wieder freuen. Ja, wir mußten uns aufraffen, denn war Caton nicht Braut, hatten wir nicht an ihrem edlen, vortrefflichen Ludwig einen neuen Bruder gewonnen!

Wie schön war unsre Schwester bei ihrer Vermählung! Es war ein unvergeßlicher Augenblick in dem sonnendurchleuchteten Münster, als die beiden jungen, so schönen Menschen das heilige Jawort auf den Stufen des Altars tauschten.

Ach, nur zu bald schlug die Abschiedsstunde, und fort rollte der Wagen mit der geliebten Schwester. Im fernen Norden, in Hannover, wird fortan ihre Heimat sein.


1. 6. Mit welcher Sehnsucht erwarteten wir die ersten Nachrichten von Caton. Schon drei Tage vor dessen Ankunft erwarteten wir ihren Brief, an dem letzten aber mit Gewißheit. Die Mutter lud deshalb unsere intimsten Freundinnen mit ihren Müttern ein, Fromherzens und Ruofs und Malchen und Lenchen, teilzunehmen an einer zu erwartenden Freude oder uns zu trösten über deren Ausbleiben. Aber sie blieb nicht aus! Es kam Kunde von Caton. Sie war gesund und glücklich, zeitweiliges Heimweh abgerechnet. Oh, wie schwammen die Tränen der Wonne in jedem Auge! Mutter in ihrer Freude sprang auf und holte den noch vorhandenen großen Efeukranz, der an Catons Hochzeit die Wände zieren half. Mit diesem Kranz umkreisete sie den teuern Brief der Schwester, daß er, so in grünem Schmuck prangend, den Freundinnen entgegenlachen sollte. Und sie kamen und lachten und weinten ein wenig vor Rührung beim Vorlesen des Briefes.

Bei dieser Gelegenheit will ich eure Namen in mein Tagebuch einschreiben, ihr Freunde meines Herzens und unsres Hauses, damit ich mich eurer Freundschaft freue, so oft ich dieses Blatt durchlese.

Zuerst die mir am nächsten stehenden: Lenchen von Mohr, die arme Lotte, unseres Xavers Frau, und deren Schwester, mein kluges Malchen Roth. Malchen Wänker, Mutters Jugendfreundin, die Hofrätin, Amanns, Holzhauers, Fromherzens, Ruofs, Gräfle, Kalm, Schaffroth, Molitor, Fr. von Berg, Metz, Baumgärtner und meine Lehrerinnen, die Klosterfrauen. Ihr alle, die ihr uns liebreich beigestanden seid bei dem so schmerzlichen Verlust unsres geliebten Xaver, bei unsres guten Vaters Krankheit und bei Catons Scheiden aus der Heimat, in ewiger Dankbarkeit werde ich eurer gedenken.


30. 6. Oh, daß ich so viel Gewalt über mich vermöchte, meinem Gemüte eine ruhigere Haltung zu geben! Mit Paulus möchte ich ausrufen: »Was ist es, das ich nicht will, daß ich tue, das tue ich; und das ich tun will, das tue ich nicht!« Meine zu große Offenheit, mein unüberlegtes Sprechen und Lachen, wie viele bittere Stunden danke ich schon von der Schule her dieser unglückseligen Eigenschaft. Auch heute habe ich wieder Ursache, mit mir unzufrieden zu sein. Die Hofrätin war zum Kaffee da. Wie oft bin ich ihretwegen schon geschmält worden, wie viele sanfte Fußtritte ernte ich unter dem Tisch von Therese, wenn ich, was alle paar Augenblicke geschieht, der Hofrätin den Knäuel suche, wobei ich den Faden nicht selten mit Vorliebe verwirre, um meiner Lachlust frönen zu können.

Wie soll man aber auch ernst bleiben!

Kugelförmig kommt sie zur Türe hereingeschossen, auch beim schönsten Wetter behauptend, sie komme durch »der dicker Dreck.«

»Ja, Kreisrätin, über dich geht mir halt nix, wenn mei Herz voll ist – guter Tag, Kinderle, jetzt denke au, mei Hofrat selig isch mir heut Nacht wieder im Traum erschiene. Recht zufriede würde er im Himmel sein. Ich soll doch auch kommen. Jetzt wird mir's nimmer besser – mir pressiert's nit. Mei Leine isch noch beim Weber, mei Garn nit auf der Bleich. He, do möcht mer zipfelsinnig werde. ›Komm doch au‹ – grad' wie früher, der nämlich bockbeinig Hofrat, nit ein Brösele g'scheiter.«

Der Knäuel fiel unter den Tisch, ich flugs hinter ihm her, dabei stieß ich den Kopf an.

»O Herrjegerle, Nannele,« rief die Hofrätin aus, »du dauerst mich. Der Hofrat selig hat allemal g'sagt, ihn treff' noch der Schlag mit der lumpige Knäuelsucherei alleweil. Aber ich hab' ihm d' Nas' drauf 'tunkt: dei Schwester hat sechs lebendige Mädle und isch die größt' Schlamp in der Stadt. Wo soll denn da e Aussteuer herkomme? Ja, wenn ich kei G'wisse hätt' – aber ich hab' eins, und so kriegt e jed's sei Bett, sei Leine für Hemde, Hose, Nachtjacke, Bettücher, Tischtücher, Serviette und Handtücher und ebenso drei Dutzend Strümpf'. Mei Geld kriege sie nit, mei Geld kriegt mei leibliche Schwester und ihr Bube. Ich bin halt für Bube. Alle Abend bet' ich ein Vaterunser, daß im Hofrat seine Nichtene unter d' Haub komme. Ach, wenn doch einer käm' und des bös' Karolin' mitnähm' – am liebste bis nach Amerika nei. Aber ich fürcht', die wüscht' Nas', die's hat, verdirbt jedem der Guschto, und des boshaftig' Mädle bleibt uns auf'm Hals – Nannele, Nannele,« sie drohte mit dem Finger, »um dich ist mir's au ein wenig bang – 's heißt allgemein, du lernsch zu viel. Gib acht, gib acht, das tut der Weiblichkeit Abbruch. G'scheite Frauenzimmer bekomme kei Mann, seiner Lebtag nit.«

»Und Caton,« fragte ich, »ist Caton vielleicht nicht gescheit – und erst die Mutter, Frau Hofrätin?«

»He jo, he jo,« lachte sie auf, »weisch noch, Kreisrätin, wie wir klein ware und sind vom Schloßberg 'runter g'saust auf unsre Schlittele, und über einmal, bums, fliegt dei Schneeballe einem Herr an der Kopf. ›Mädele‹, sagt er und schaut dich zornig an, ›sag, was verdiensch jetzt?‹ ›He‹, hasch g'sagt, ›e Schokoladtäfele‹ – Und hasch richtig eins kriegt.«

Alsdann heißt's: »Kinderle, ich muß gehe – wo sind meine Handschuh – ach Gott, mei Schirm, mei Mantel – richtig, 's fehlt mir e Stricknadel – schaut her, rutscht mir nit der falsch Zopf – lehnt mir e Haarnadel – Kreisrätin, 's tut mir leid, aber du magsch sage, was du willsch, mei Weber isch doch besser als deiner, da beißt kei Maus der Fade ab.«

Vater nennt die Hofrätin »die heitere Person«, und wirklich, sie ist ein rechter Segen für uns, wenn Mutter wieder in ihre Sorgen um unsre Zukunft verfällt und sich darob grämt. Ein Nachmittag mit der Hofrätin kuriert sie besser als alle unsre Vorstellungen.


20. 7. Heute sagte Mutter: »Ich will am Nachmittag nach der Hofrätin sehen, sie war schon so lang' nicht da. Ich hab' mir's überlegt, ihr Leine ist wirklich schöner als meins. So will ich's denn mit ihr besprechen, und 's mit ihrem Weber versuchen.«

Wir waren gerad' mit dem Mittagsmahl fertig, als die Magd von der Hofrätin eintrat und heulend ausrichtete: »Eine schöne Empfehlung und Sie solle gleich komme, Frau Kreisrätin, d' Frau Hofrätin will sterbe.«

»Daß sie's will, glaub' ich meiner Lebtag nicht«, sagte Mutter, indem sie mit zitternden Händen ihren Hut aufsetzte. Ich half ihr beim Anziehen, und obwohl sie sagte: »Bleib du nur daheim« – ließ ich sie nicht allein gehen.

Als wir bei der Hofrätin eintraten, saß der geistliche Rat am Krankenbett, so daß wir gleich wieder umkehren wollten. Aber die Hofrätin rief mitten aus dem Beten heraus: »Nur bleibe, nur bleibe, bin glei fertig –« sprach ein kräftiges Amen und schickte den Geistlichen hinaus zur Magd, sie zu zanken, daß sie das Garn noch nicht zum Weber und das Tuch nicht auf die Bleiche getan.

»Sage Sie's ihr nur recht, Hochwürde – hinsitze und heule isch der größt' Zeitverlust – d' Kreisrätin bleibt bei mir, bis ich mei letzter Seufzer tu, wenn's Gott's Wille isch – auf alle Fäll' aber muß vorher Ordnung in mei'm Sach sein, eh' ich ins Jenseits geh' –«

Der Geistliche ging, und Mutter und ich setzten uns zur Hofrätin ans Bett. Das Herz klopfte mir, Mutter liefen die Tränen über die Wangen. Zu den beiden Fenstern schien die Sonne herein.

»Schön's Wetterle,« sagte die Hofrätin, »geh, lang mir au mei Stricket, Nannele, bin grad' am Ferse – und lupf mich ein weng.« Ich tat's, und sie begann eifrig zu stricken.

»Wirsch endlich zugebe, Kreisrätin, daß dein Weber mei'm Weber nit's Wasser reicht?«

»Ach ja, ja«, preßte die Mutter hervor.

Die Hofrätin sah von ihrem Strickzeug auf:

»O Herrjegerle, ich glaub' gar, du heulsch, Kreisrätin – horch, ich geb' dir ein guter Rat – laß es lieber bleibe, ich glaub', 's isch wieder mit der ganze Sterberei nix. Der Doktor isch e alte Kuh – dreimal hat er mich schon aufgebe und mei ganzer Haushalt in Unordnung versetzt. Ich hab' gute Luscht und mach' ein neuer Pakt. Geh, hol mir au ein Glas Wein, Nannele – So –«

Sie trank's mit einem Zug leer. Alsdann wendete sie sich gegen die Wand, schlief ein und schnarchte sogar. Mutter und ich blieben halb ängstlich, halb vergnügt am Bett sitzen.

Als der Doktor kam, warf er einen raschen Blick auf die Hofrätin, dann noch einen, schüttelte den Kopf und brach in lautes Lachen aus.

Sie erwachte.

»So,« sagte sie, »au noch lache, wenn einer nix kann – Ihne sterb' ich wieder!«

Darauf sind Mutter und ich so heiter nach Haus gekommen, als kämen wir von einer Hochzeit.


28. 7. Trotz aller Vorsätze, ich habe keine Freude an mir. Meine Fortschritte im Guten sind nur winzig; meine Opfer – z. B. Küchenarbeit – werden nur zögernd vollbracht, der unsagbar großen Freude am Lesen zuweilen, wenn auch nur auf Minuten, heimlich nachgegeben. Meine Weichlichkeit hat mich noch nicht verlassen. Mein Hingeben an die Phantasie und mein behagliches Schwimmen in ihr, besonders nach dem Erwachen, bevor ich aufstehe, hat mir schon manche Stunde geraubt, in der ich rüstig etwas Nützliches hätte tun können. Oh, warum ist man auch beim Erwachen so dumm! Oder bin ich's nur? Ich sagte mir schon beim Einschlafen: morgen will ich früh aufstehen, auf Ehre! Hätte mich die Übertretung ehrlos gemacht, wie oft wäre ich's schon gewesen. Ich nahm mir vor, beim Erwachen ein mahnendes Wort, das arge Wort Schande zu sagen, überzeugt, daß mich das plötzlich aufrütteln würde. Ich erwachte, sagte richtig Schande, Schande, kehrte mich um und überließ mich von neuem meinen Träumereien.

Hier kann nur ein rascher Entschluß, ein kühner Sprung aus dem Bett helfen. Morgen und fortan will ich diesen Sprung tun. Ich will.


10. 8. Gestern in großer Gesellschaft bei St. Ottilien gewesen, am schönsten Frühlingstag der Welt. Eine ganze Karawane von Hofräten, Kreisräten, Professoren und Doktoren samt Gattinnen, Müttern und Tanten. Voran die ledigen Professoren und Studenten in Gesellschaft der hellgekleideten jungen Mädchen, unter denen Amalie v. Berg, Pauline von Marschall und Marie von Rotteck die schönsten waren.

Auf dem Gipfel des Schloßberges machte man halt, um Umschau zu halten. Alle Bäume und Gesträuche, soweit das Auge sehen konnte, prangten in ihrem jungen Grün. Über das sich im Hintergrund erhebende Gebirge breitete sich ein zarter Duft von lichtem Blau, das in das dunklere Blau des Himmels hinüberzufließen schien. Zu unseren Füßen lag unser liebes Freiburg, in dessen sich majestätisch zum Himmel erhebendem Dome eine tiefe Glocke zur Andacht rief, während auf dem Karlsplatze die um diese Zeit exerzierenden Soldaten ihr »Eins, zwei« bis zu uns heraufschallen ließen. Wer zählt all die Dörfle, die wir überall im Sonnenschein aufblitzen sahen? Das Lorettobergle drüben, das Schaumburgische Schlößchen, die Eichhalde, der Hebsack und andere Landhäuser spielten hinter wilden Kastanienbäumen und Pappeln Versteckens miteinander, und dunkle Tannenwälder umsäumten die lichtgrünen Wiesen im Tal. Ich lernte auf dem Weg nach St. Ottilien die Professoren Monz und Schmidt kennen. Der erstere ist Professor der Geschichte an der Universität, Schmidt ist Geistlicher. Vom Sehen kannte ich beide, letzteren besonders durch seine herrlichen Predigten im Seminarium. Mehr als einmal fiel mir beim Zuhören ein: Zum Seraph fehlen ihm nur die Flügel. Nun schritt er ganz schlicht neben mir her, ein wenig schüchtern fast, denn mit dem lebhaft redenden Professor Monz schien er nicht wetteifern zu wollen, und obwohl ich sehr gern den Reden des gelehrten und weitgereisten Mannes lauschte, im geheimen war mir der stille, sinnig blickende Professor Schmidt doch interessanter, wie der tiefe, undurchdringliche Brunnen mehr zum Nachdenken reizt als das klar dahinfließende Wasser. Wir kamen auf Lektüre zu sprechen, und Schmidt erklärte, Erhabeneres als Klopstocks Messiade gäbe es nicht, worauf Monz lächelnd meinte: »Vielleicht für Freiburg, aber die Welt ist groß.«

Schmidt schien mir unmutig zu erröten. Ich stellte mich sofort auf seine Seite, indem ich erklärte:

»Vielleicht hat die große Welt nicht immer den besten Geschmack.«

»Aber sie geht mit Meilenstiefeln im Vergleich zu Freiburg«, sagte Monz.

»Ist das ein Glück?«

»Es fragt sich, was Sie unter Glück verstehen«, sagte Monz. »Für mich ist Glück gleichbedeutend mit Fortschritt, Entwicklung, Macht.«

Ehe ich noch darüber nachdenken konnte, sprach er von Humboldt, Goethe, Platen. – Alle diese Großen seien noch nicht eingedrungen im Süden Deutschlands. Körners Freiheitslieder, die den Norden aufgerüttelt zum Handeln, in dem zerstückelten Deutschland, sie hätten noch kein Echo gefunden. Und er sprach mit erhobener Stimme:

»Es kann ja nicht immer so bleiben
In dieser zerrütteten Welt,
Es muß wiederkehren das Große,
Ins schmähliche Dunkel gestellt.
Auf! Ehrliche, wehrliche Jugend,
Vertraue dem heiligen Stern;
Auf! Rüstige Männer voll Glauben,
Die Palme, sie winket von fern.«

Ich fragte, von wem das sei.

Er sagte: »Von mir, für Schinznach gedichtet.«

Ich schwieg. Also ein Dichter, wenn auch nicht mein Dichter. –

So kamen wir im Schatten des ganz vom lichten Buchenwald umschlossenen St. Ottilien an. Lautes Leben umgab die alte Wallfahrtskapelle. Die Tische waren gedeckt. Aus dem kleinen Wirtshaus brachten sie Kaffee und Tunkes die Menge. Professor Monz sowie Schmidt setzten sich zu Villingers an den Tisch, auch Hofrat Amann. Lenchen sagte mir leise ins Ohr:

»Du, so gescheit rede kann ich nit« – und lief davon. Als dann Vater, Monz und Amann ernste Politik trieben, machte auch ich mich aus dem Staube und ging zur Kapelle. Lenchen kam zu mir, und wir schritten die beiden Steinstufen hinab in die nur schwach vom Tageslicht beleuchtete Grotte. Ich hörte Tritte, wußte sofort, daß es Professor Schmidt war, und wurde rot.

»Ich bin gerne hier,« sprach er, »im Reiche dieser Legende,« nahm vom Wasser, das aus dem Felsen fließt, und benetzte sich Augen und Stirne. »Es ist nicht die Tatsache an und für sich, die Legende der jungen Christin Odilie, die, verfolgt von ihrem heidnischen Freier, zu Gott rief vor diesem starren Felsen, dessen hartes Gestein sich alsbald öffnete und hinter der Jungfrau wieder schloß. Seither sind Hunderte von Jahren dahingegangen, wenige Menschen nur wissen noch von dem Wunder, das Gott an der heiligen Odilie getan, und doch pilgern wir nach wie vor zu dem wundertätigen Quell, an dessen für das Auge so heilsame Kraft wir nicht aufhören zu glauben. Denn wenn diese Kraft auch nur illusorisch wäre, sie ist das Symbol von der Lichtquelle, die dem Leben eines heiligen Menschen entquillt, und in der wir unbewußt wandeln und uns besser fühlen. Haben Sie das Gedicht von Professor Monz ›St. Ottilien‹ gelesen?« wandte er sich an mich.

Ich sagte nein.

»O, so lesen Sie es nicht,« sprach er, »der fromme Ort würde Ihnen dadurch entweiht.«

Ich nahm mir fest vor, dieses Gedicht nie zu lesen, allein, o Himmel, auf dem Heimwege fing Professor Monz mit einem Mal an zu deklamieren:

»Ottilie, du wunderliches Mädchen,
Wie bist du doch so seltsam hier gefahren,
Verborgen hast du dich in jungen Jahren
Und ausgesucht die allerwildsten Pfädchen.
Traun! Stünde damals schon das schöne Städtchen,
Du hättest dich gesellt den frohen Paaren,
Die Myrte prangte dann in deinen Haaren,
Und anders drehte sich dein Lebensrädchen.«

Eingedenk der Worte Professor Schmidts nahm ich all meinen Mut zusammen, indem ich ausrief:

»Halten Sie ein, Herr Professor, unsere heilige Ottilie ist uns lieber als die Ihrige.«

Worauf er lachte, während Professor Schmidt, der vor uns herging, sich umwandte und mir zunickte.


30. 5. Ist es vermessen oder anmaßend oder undankbar, daß ich mich trotz allem, was ich an Liebe empfinde und besitze, doch immer noch heimlich nach einer Seele sehne, die ich bewundern, zu der ich aufsehen kann? Monz, den ich nun öfter sehe, ist wohl zu bewundern, denn mit ihm kommen neue Interessen in unser engbegrenztes Leben, was nicht hoch genug zu schätzen ist. Aber ihm fehlen die Grazien. Er ist rücksichtslos und doziert immerfort, als habe außer ihm kein Mensch etwas zu sagen, und besonders kränkt mich seine fast geringschätzige Art Schmidt gegenüber. Und es rührt mich in tiefster Seele, daß dieser die Demütigungen von seiten des Weltmenschen so wenig empfindlich, ja geradezu freundlich hinnimmt. Ach, ich weiß wohl, daß er der Bessere ist. Zugleich aber fürchte ich mich vor ihm, denn würde ich mich diesem seinen Einfluß ganz überlassen, so dürfte ich ja die Bücher nicht lesen, von denen Monz spricht, und die doch einen so heißen Wissensdurst in mir wachrufen.


3. 2. Wie wunderbar ist dieses schnelle und unverhoffte Sichfinden zweier verwandter Seelen! Es war auf einem thé dansant bei Herrn von Rotteck, wo ich Maria von Verleb kennen lernte. Sie tanzte nicht, und da ich auch nicht tanze, führte uns Herr von Rotteck zusammen, uns zu einem Schwätzwalzer engagierend, was mir ein reichlicher Ersatz war für alles Tanzen der Welt.

Herr von Rotteck erzählte uns von der neuen Oper »Oberon« von Karl Maria von Weber, und wir bekamen so den ganzen, überaus reizenden Text zu hören. Hierauf sprach er von Jean Paul. Ach, und ich hatte nichts von diesem großen Dichter gelesen, konnte nur mit hungriger Seele den Herrlichen preisen hören.

Als wir allein waren, fragte mich Frau von Verleb, ob ich Jean Pauls Schriften nicht kenne. Ich sagte: »Ach nein, noch nicht.«

Oh, wer beschreibt meine Freude, als mir Frau von Verleb mit einer geradezu unbeschreiblichen Liebenswürdigkeit ihre Bibliothek zur Verfügung stellte. Ich kann es auch wirklich nicht verkennen, daß ihr Blick mit fortgesetztem Wohlbehagen an mir hing.

Sie ist schön. Dunkelblonde Locken, leicht wie Schaum, umgeben ihr bleiches Gesicht, dessen Ausdruck immerzu wechselt zwischen leuchtender Freude und plötzlicher Wehmut. Sollte sie einen Kummer haben? Herr von Verleb sieht seiner jungen Frau jeden Wunsch von den Lippen ab, und die Freunde des Hauses, darunter Professor Monz, wetteifern, ihr eine Freude zu bereiten. Monz soll ihr eifrigster Verehrer gewesen sein. Sie zog ihm Verleb vor, der eine ungemein leichte, heitere und liebenswürdige Gemütsart hat.

Als er mich neulich fragte, wie mir »Hesperus« gefallen, mußte ich bekennen, daß ich erst einen kleinen Teil des herrlichen Buches gelesen habe. –

»Erlauben Sie, das begreife ich nicht«, rief Herr von Verleb aus.

Ich machte es ihm aber begreiflich, indem ich ihm offen sagte, daß es in unserm Haus viel zu viel Arbeit gebe, als daß ich mir gestatten dürfte, unter Tags zu lesen, die Mutter aber so gut sei, mir oft des Nachts im Bett vorzulesen, während ich beim Nachtlicht Handarbeiten mache.

»Mein braves Villingerle«, sagte Frau von Verleb, als wir allein waren, »gib mir die Hand, wir wollen uns du sagen, denn siehst du, meistens sind die tüchtigen Leute langweilig und voll Eigendünkel, aber du bist heiter wie ein Kind, eine Wohltat für mich, die ich mich so nach Heiterkeit sehne.«


10. 3. Es scheint, ich habe den Namen meiner Freundin Maria Verleb zu oft auf den Lippen getragen, und so habe ich die Erfahrung machen müssen, es ist besser, das Herz behält sein Lieben für sich.

Karoline und ich rieben uns aneinander seit unserer Kindheit in scherzhaften, sehr oft auch heftigen Kampfgesprächen. Mit vielen Talenten und einem zierlichen Figürchen begabt, mußte sie oft Spott wegen ihrer Nase erleiden, dem Entenschnabel, wie ihre Tante Hofrätin sagt.

Wirkliche Neigung habe ich nie für Karoline empfunden, aber durch alle Klassen saßen wir Seite an Seite und gingen dann auch gewohnheitshalber miteinander nach Hause.

So auch heute nach der französischen Konversationsstunde im Kloster. Unglücklicherweise entschlüpfte mir unterwegs der Name Maria von Verleb.

Alsbald warf mir Karoline mit einem wahren Hohn vor, ich habe ein Herz wie ein Theater. Nicht genug an meinen Schwestern und zahllosen Freundinnen, sei ich zu jeder Zeit bereit, mein Herz an eine neue Kreatur zu hängen. Und nicht genug, ich liebe auch Männer, sei nicht modest in deren Gegenwart wie andere junge Mädchen, sondern habe die Kühnheit, mich in Gespräche mit ihnen einzulassen und meine Meinung zu verteidigen – sogar gegen einen Professor Monz und Schmidt. In den letzteren sei ich überdies verliebt, was meine Augen deutlich verrieten.

Ich erschrak so heftig, daß ich kein Wort hervorbrachte, sondern sie nur ansah. Sie wich von mir zurück, indem sie das Gesicht mit den Händen bedeckte:

»Ich fürchte dich«, schrie sie, »ich fürchte dich, du machst so schreckliche Augen.«

O armselige Herzen voll unbilligen Vorurteils, wie seid ihr hart und ungerecht! Aber so schuldlos ich auch bin, in einer Beziehung war mir diese verwundende Berührung heilsam – sollte ich wirklich zu viel Entgegenkommen für Professor Schmidt gezeigt haben? Er ging neulich, als es regnete, ohne Schirm an unserm Haus vorbei, und ich lief hinunter und brachte ihm einen. Das also ist bemerkt und übel gedeutet worden.

Ach, der Mensch ist doch so ohnmächtig, denn wenn sich meine Augen freuen, wie soll ich das wissen und bemeistern können?

Und warum nicht viele Menschen liebhaben, warum nicht neue Freundinnen neben den alten gewinnen dürfen? Liebt nicht auch eine Mutter alle ihre Kinder und wenn sie noch so viele hat? Als unser geliebter Xaver starb, war Mutters Schmerz so tief und gewaltig, als habe sie mit diesem einen Kind ihr einziges verloren. Als Hermann, unser Benjamin, in schwerer Krankheit lag, war's da anders? Und hielt sie nicht Caton in der Trennungsstunde so fest in den Armen, als könne sie von diesem Kind nimmer lassen?

Wenn Mutter Theresens Schultern klopft, sagt sie nicht: meine Beste, meine Brävste? Und wenn ich leide in der Nacht und Mutter kommt, bin ich da nicht ihr geliebtestes einziges Kind? Nein, ich verschließe mein Herz nicht, und ich kann es nicht verschließen, weil mich alles Große, Gute, Herrliche, weil jede Vortrefflichkeit mich mit unendlicher Bewunderung erfüllt.

Und was ich mir schon so oft vorgenommen, diesmal halte ich's: Mit der Freundschaft für Karoline ist es zu Ende.

Im Hause ist Freude und Glückseligkeit. Immer von neuem fließen die Tränen – Freude- und Dankestränen gegen Gott – Caton, unsere heißgeliebte Caton hat einen Sohn! Schön und bedeutungsvoll ist der Geburtstag des jungen Weltbürgers. Er kam am Tage der unschuldigen Kindlein zur Welt.


je vous aime