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Romeo Alavi Kia + Renate Schulze-Schindler

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Sonne, Mond
und Stimme

Atemtypen in der Stimmentfaltung

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Romeo Alavi Kia + Renate Schulze-Schindler

© Aurum in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld

Illustrationen: Martin Tiefenthaler

www.weltinnenraum.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

ISBN Print 978-3-89901-349-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige

Inhalt

Wie alles entstand

Was es ist und was es nicht ist

Erich Wilk und Charlotte Hagena

Das Prinzip der Polarität

Wie der Atem, so der Typ

Gut gestützt ist halb gewonnen

Der hörbare Unterschied

Das Zwerchfell

Körperzonen

Nehmen Sie Haltung an!

Körperarbeit …

für den solaren Typ

für den lunaren Typ

Fragezeichen - Typ zwischen Sonne und Mond?

Übung macht den Meister … nicht aus

Atemtypen in der Chorarbeit

Atemtypen im Instrumentalspiel

Die Schüler-Lehrer-Beziehung im Lichte der Typenpolarität

Welcher Typ bin ich?

Anmerkungen

Danke

Dr. Juliane Molitor für das Zusammenführen unserer Polaritäten. Den Lopis für Speis und Trank während der Klausuren. Carl-Heinrich für sein Dasein. Erich Wilk und Dr. Charlotte Hagena für ihre jahrelange Forschung, die wir zur Grundlage für dieses Buch machen konnten. Maxi für seine immer gute Laune. Unseren Schülerinnen und Schülern.

Wie alles entstand

Im Jahre 1989 lernte ich Renate Schulze-Schindler in einem Seminar kennen. Sie hatte sich für meine Arbeit interessiert und erklärte sich später bereit, Kurse für mich in Bremen zu organisieren. Während meiner folgenden Aufenthalte im Norden Deutschlands entwickelten sich sowohl eine persönliche Freundschaft als auch eine andauernde intensive Auseinandersetzung über Themen wie Musik und Stimme, Stimme und Persönlichkeit, Modelle der Stimmpädagogik usw. Ich schätzte die Gespräche mit Renate immer sehr, bis zu den Momenten, in denen sie auf ihr (wie ich bald herausfand) »Lieblingsthema« umzuschwenken begann: Atemtypen. Heute kann ich sagen, daß dieses Thema damals ein rotes Tuch für mich gewesen sein muß. Renate begann von ihren … typen zu schwärmen, und ich hätte am liebsten das Gespräch beendet, das Lokal verlassen oder was immer. Nur mich nicht diesem Thema aussetzen. Renate hatte Frau Dr. Hagena kennengelernt und mit ihr ein System einer Typisierbarkeit des Menschen hinsichtlich seines Atems. Nicht Physiognomie, nicht Charakter oder Eneagramm – Atem. Ich muß sagen, daß die These, es gäbe Einatmer und Ausatmer, meine grundsätzlichen Widerstände zum Thema »Typisierbarkeit des Menschen« nicht gerade verringerte.

1991 erschien Stimme – Spiegel meines Selbst und wurde alsbald zu einem Standardlesebuch für viele, die sich mit Stimme beschäftigen. Mein Ansatzpunkt war also nicht so verkehrt. Die Atemtypen jedoch waren immer noch da! Es ärgerte mich, daß es da etwas geben sollte, von dem weder ich noch die Stimmbildungsszene bisher etwas gewußt hatte. Was sollte ich also tun? Niemand konnte mir weiterhelfen, denn generell gingen und gehen alle (Gesangsschulen) davon aus, daß der menschliche Körper (und damit auch die Atemmechanismen) bei allen gleichermaßen funktioniert.

Aber damit konnte ich bei Renate nicht landen. Für sie basierte das Leben auf einem Polaritätsprinzip, das sich letztlich in allem erkennen ließ. Wir kamen auf keinen grünen Zweig. Ich wollte ihr ja gern glauben (theoretisch!), aber mich bei meiner Arbeit als Stimmbildner auf derartige Experimente einzulassen, erschien doch mehr als waghalsig. Renate blieb dabei! Und so war es ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken, daß ich irgendwann sagte: »Okay! Wenn an dieser Sache wirklich etwas dran ist, muß es hörbar sein!«

Also organisierten wir ein Seminar, in dem wir erstmals eine Unterteilung in Atemtypen vornahmen und versuchten (das muß ich hier wirklich hervorheben – es war ein Erstversuch!), gemäß einer Atemtypenpolarität zu unterrichten. Bei aller Unbeholfenheit auf unserer Seite sprachen die stimmlichen Ergebnisse unserer Teilnehmer und Teilnehmerinnen für sich. Schüler und Schülerinnen, mit denen ich seit einiger Zeit nicht mehr so recht weitergekommen war, wuchsen innerhalb kürzester Zeit über sich hinaus, schafften technisch-musikalische Schwierigkeiten viel spielerischer. Darüber hinaus veränderte sich Wesentliches (wie mir schien) am stimmlichen Grundcharakter. Er war noch echter, persönlicher, kraftvoller. Und das alles bei weniger Aufwand, denn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen berichteten, daß sie sich selten so mühelos in ihrem Singen gefühlt hatten. Jetzt aber kam die Besonderheit. All jene, die die größten Veränderungen durchlaufen hatten, hatten eines gemeinsam: Sie waren Einatmer. Ja, nun war es wirklich hörbar gewesen. Was sollte ich noch dagegenhalten? Es gab nichts mehr, und ich hatte auch kein Interesse mehr daran, denn die Ergebnisse hatten für sich selbst gesprochen. Es war alles in allem so überzeugend, daß Renate und ich uns zumindest darin einig waren, daß an den Atemtypen kein Weg mehr vorbeiführt.

Ein völlig neuer Horizont, völlig neue Dimensionen und Perspektiven taten sich mit einem Mal auf. Und ich konnte feststellen, wie ich mehr und mehr neugierig wurde auf das, was noch alles zu entdecken war. Hier konnte plötzlich eine Form der Polarität definiert und formuliert werden, die vieles von dem, was ich in der Suche mit meinen Schülern bisher nicht verstanden hatte, in ein völlig neues Licht rückte. Hier wurde ein Prinzip innerhalb seines polaren Zusammenhanges verstehbar, nachvollziehbar, akzeptabel und dadurch erst als grundsätzlich verschieden und andersartig lehrbar. Das klingt möglicherweise sehr abstrakt und kompliziert und ist nicht so ohne weiteres einsichtig. Aber viele Musikstudenten werden wissen, was wir meinen, wenn wir von einem Dogma sprechen, das noch in vielen Abteilungen von musikalischen Ausbildungsinstitutionen herrscht.

Es gibt für die Studenten nur einen Weg, ein Verständnis hinsichtlich der Gegebenheiten des Singens oder des instrumentalen Spiels. Der Lehrer gibt ihnen vor, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Haben sie Probleme damit, so bleibt es in der Regel ihnen selbst überlassen, damit fertig zu werden. Abweichungen von der (Lehrer-)Norm werden kaum geduldet, und nicht selten haben Studenten das Empfinden, es nicht richtig zu machen, auch wenn sie nicht wirklich nachvollziehen können, was richtig ist. Spätestens dann, wenn der Körper sich weigert, den ihm auferlegten Dienst zu leisten, wenn mit Krankheiten und anderen »Leistungsverweigerungen« reagiert wird, beginnen sie (die Studenten) sich nach anderen (alternativen?) Möglichkeiten umzusehen. Unter anderem begeben sich solche Suchende in unsere Kurse. Und hier entdecken sie, daß sie ja doch gar nicht so falsch lagen. Sie vermochten gewisse Dinge einfach deshalb nicht zu leisten, weil die geforderten funktionellen Voraussetzungen nicht ihrer persönlichen Natur entsprachen. Nicht selten hören wir Sätze wie: »Was, jetzt darf ich wieder einatmen?« Oder: »Ich habe früher so geatmet und es mir dann während meiner Ausbildung mühsam abgewöhnt.«

Nachdem wir für uns erkannt hatten, daß an den Atemtypen kein Weg mehr vorbeiführt, dauerte es noch eine ganze Weile, bis wir auch die Feinheiten herausgearbeitet hatten und das Ganze formulieren konnten. Hier sind wir für die Hilfe unserer Schüler und Schülerinnen dankbar, ohne deren musikalisches und persönliches Feedback wir unsere »Experimente« gar nicht hätten durchführen können. Da jedoch viele unserer Seminarteilnehmer auch noch mit anderen Stimmbildnern arbeiten, war es für uns im Laufe der Zeit natürlich eine Freude und Bestätigung, wenn jemand berichtete, daß auch die Kollegen (Lehrer oder Lehrerinnen) die Veränderungen wahrnehmen konnten. Und so überrascht es uns heute nicht mehr, wenn Lehrer und Schüler zusammen in unseren Seminaren sitzen, oder wenn Professoren sozusagen indirekt von ihren Studenten geschickt werden, weil sie die Veränderungen ihrer Schüler besser verstehen möchten.

Die Atemtypen sind zum Glück immer noch da! Sie sind nicht mehr wegzudenken, und manchmal frage ich mich, wie Generationen von Sängern und Sängerinnen ohne das Wissen um die Atempolarität ausgebildet wurden. Aber vielleicht ändert sich das ja nun. Renate, ich danke dir für deine Hartnäckigkeit!

Romeo Alavi Kia

Es war in der Tat so: Nachdem sich die Sichtweise der Atempolarität erst einmal Zugang in mein Leben verschafft hatte, erschien es mir immer sinnfälliger, alles Lebendige – und erst recht den Gebrauch der Stimme – in diesem Licht zu betrachten.

Aber auch ich hatte einige Widerstände zu überwinden, bevor ich mich dieser »Typenlehre« überhaupt zuwandte. Ihre Existenz und die wunderbare Wirkung ihrer Anwendung war mir aus dem medizinischen Bereich schon längere Zeit bekannt, ohne daß ich Interesse daran verspürte, denn die Merkmale dieser »Typisierung« paßten in keiner Weise zu meiner damaligen Vorstellung von »richtiger« Atmung, Ernährung und Lebensweise.

Dies änderte sich erst, als ich – durch Krankheit veranlaßt – auf der Suche nach alternativen Heilmethoden war. Erst jetzt war ich bereit, mein so festgefügtes Wissen über Gesundheit neu zu überprüfen. Erst jetzt – vor inzwischen sechs Jahren – begegnete ich der Kinderärztin Dr. Charlotte Hagena, die die Lehre von der Atempolarität schon seit 35 Jahren erfolgreich anwendet.

Die erste Atemsitzung war nicht leicht. Viele Jahre hatte ich mir das »In-den-Bauch-Atmen« antrainiert, weil es überall – ob im Gesang, in der Körpertherapie oder in der Meditation – für alle gleichermaßen gelehrt wurde.

Und nun sollte ich diese Gewohnheit einfach abstellen und als falsch verwerfen, um stattdessen in die Brust zu atmen. (Ich kannte dieses Phänomen als pathologische Hochatmung.) Das Resultat war ebenso verblüffend wie berührend.

Es bedurfte nur einer Sitzung bei Frau Dr. Hagena, um zu fühlen und zu wissen: Diese Atmung stimmt für mich! Und mag es meinem Verstand noch so widerstreben. Sie berührt etwas Essentielles, zu dem ich lange Jahre den Kontakt verloren hatte. Und ich wußte sofort: Dies wird grundlegende Konsequenzen nicht nur für meine Gesundheit, sondern für die ganze Körper- und Stimmarbeit haben, die ich damals gerade begonnen hatte – ja, für die gesamte Gesangs- und Musikpädagogik überhaupt. (Mal abgesehen von dem gesamten Feld der Pädagogik, in dem ich damals noch als Lehrerin tätig war.)

Damit begann die Entdeckung meines eigenen »Atemtyps«, gegen den ich mich so lange erfolgreich gewehrt hatte. Es bedurfte intensiven Übens unter der Anleitung von Frau Dr. Hagena, um meine angelernten, »typenfremden« Bewegungsmuster und Haltungen als mir hinderliche Gewohnheiten zu erkennen und zu korrigieren.

Parallel dazu begann ich, die Anwendung der Atempolarität auf die Funktion der Stimme im Dialog mit Romeo zu erforschen. Ich hatte ihn und seine Arbeit schätzen gelernt, weil mir sehr schnell klar wurde, daß sie den geeigneten Rahmen abgibt, um diese Differenzierbarkeit nach Atemtypen für die Stimme zu entwickeln und zu praktizieren. Ganz besonders schätzte ich Romeos Offenheit gegenüber Neuem, in diesem Falle sogar gegenüber (scheinbar) Unmöglichem.

Nur so konnte es zu unserem ersten gemeinsamen Seminar kommen, um das Unmögliche möglich werden zu lassen: zu erleben und zu akzeptieren, daß es zwei polar entgegengesetzte Funktionsweisen der Stimme gibt, und auf dieser Basis neue Entdeckungen in der Stimmarbeit zuzulassen. Wir hatten Glück: Die Polarität unserer beider Atemtypen kam dieser Erarbeitung entgegen. Romeo repräsentiert den Ausatemtyp und ich den Einatemtyp. War seine Arbeit bislang im wesentlichen von der Idee des Ausatemprinzips geleitet, so bedurfte es jetzt der Erarbeitung des polaren Gegentyps, des Einatemprinzips, in der Stimmarbeit.

So begann eine aufregende Zeit des Beobachtens, des Ausprobierens, des kühnen Vermutens, des Entdeckens an uns selbst und unseren Schülern. Leitendes Prinzip für dieses Forschen und die verallgemeinernde Formulierbarkeit war und ist bis heute die Frage: »Wie läßt sich zu jeder Übung, Bewegung oder Bewegungsrichtung das polare Gegenteil finden?« Und nicht selten mußten wir von kurzfristig erscheinenden Lösungen wieder Abstand nehmen, weil doch das Gewohnte, im Moment Komfortable sich durchzusetzen »drohte«.

Wenn dieses Polartitätsprinzip für alles Lebendige gültig ist, dann muß es in jeder Nuance auffindbar sein. Hergebrachtes Wissen über die Funktion der Atmung aus der Schulmedizin oder anderen Gesangsoder Atemschulen konnte uns dabei immer nur ein Stück weiterhelfen. (»Irgendwas muß ja wohl stimmen, sonst würde man nicht schon Jahrhunderte/Jahrzehnte damit arbeiten!«) Aber in den entscheidenden Fragen wie Stimmansatz/Dynamik usw. halfen uns nur die konkreten Beobachtungen am Lebendigen, an unseren Schülern oder an uns selbst, und der Mut, es gegen alles momentan gültige Wissen für möglich zu halten.

Nur dadurch gelang es, unseren Verstand etwas in den Hintergrund treten zu lassen und uns vom Gespür für Stimmigkeit von Körper und Stimme im Moment leiten zu lassen. Und hier waren Romeo und ich uns in der konkreten Zusammenarbeit glücklicherweise einig. Natürlich beinhaltet dies auch heute noch ein ständiges Ringen und die Bereitschaft, alte Vorstellungen über den Haufen zu werfen und immer wieder alles in Frage zu stellen. Aber so ist eine lebendige Arbeit wohl immer und muß es auch bleiben, wenn sie in jedem Menschen die Möglichkeit offenläßt, daß alles auch ganz anders sein kann.

Renate Schulze-Schindler

Liebe Leserinnen und Leser,

wir bitten um Verständnis, daß wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit eher die männliche Form von z. B. »Sänger«, »Kursteilnehmer«, »Musiker« und so weiter gewählt haben. Das scheint uns besonders erwähnenswert angesichts der Tatsache, daß der Großteil unserer Kursteilnehmer weiblich ist. Unsere Sprache reserviert die feminine Form allerdings nach wie vor für das weibliche Geschlecht, während die maskuline auch allgemein gültig ist. Und weil wir die Männer nicht ausgrenzen wollen, haben wir uns für den üblichen sprachlichen »Mittelweg« entschieden. Frau möge uns das bitte nicht übelnehmen.

Was es ist und was es nicht ist

Dieses Buch soll eine Anregung sein für alle, die im musikpädagogischen Bereich nach neuen Möglichkeiten suchen, eine Herausforderung für jene, die sich nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, bisher an bestimmte Tabus in der musikalischen Erziehung nicht heranwagten. Vielleicht geschah das aus dem Bewußtsein heraus, nichts falsch machen zu wollen. Doch was sind die Kriterien für richtig und falsch? Wir kennen verschiedene Schulen und mit ihnen verschiedene Stile, und die einen grenzen sich von den anderen ab. Wir wissen von den Beurteilungskriterien innerhalb einer Klasse, den Richtig und falsch-Vorgaben seitens der Professoren, die in extremen Fällen dazu führen, daß eine ganze Klasse versucht ist, den Stil des Meisters zu kopieren. Was sich hier wie eine zynische Bemerkung ausnimmt, ist leider Realität. Die daraus formulierten Leistungskriterien (einen Bach muß man so singen!) kommen von außen, vom Professor, von der Schule oder dem nationalen Stil und weniger aus dem Körper oder dem Herzen des/der Einzelnen. Aber gerade diese Aspekte sind für unsere Arbeit wesentlich. Was klingt durch – wo ist die Person (personare: das, was durchklingt)?

Wir sind weit davon entfernt, hier eine musikalische Anarchie propagieren zu wollen, aber für uns ist es ganz wesentlich, daß sich Musiker in dem wiederfinden, was sie tun, und zwar auf eine sehr persönliche Art und Weise. Denn in dem Augenblick, wo genau das passiert, bilden musikalischer Fluß und funktionale Leistung eine Einheit. Und gerade hierdurch finden sich Sänger/Sängerinnen und Instrumentalisten/Instrumentalistinnen im musikalischen Werk wieder. Große Interpreten haben immer eine Art Liebesbeziehung zu der von ihnen dargebrachten Musik gezeigt. Und was ist eine Liebesbeziehung anderes als eine tiefe innige Verbundenheit zu jemanden oder etwas, ohne sich dabei selbst aufzugeben oder zu verlieren? Für einen Musiker bedeutet die Entscheidung für diesen Beruf eine unter Umständen lebenslange Auseinandersetzung mit zwei Dingen: der Musik und sich selbst. Hält man sich beispielsweise vor Augen, auf welche Art und Weise der Pianist Glenn Gould sich dem musikalischen Werk Johann Sebastian Bachs gewidmet hat, so wird deutlich, welchen Grad an musikalischer Ausdruckskraft ein Mensch erreichen kann, der sich selbst vollkommen in der Musik wiederzufinden vermag. Ob Gould sich wohl an von außen vorgegebenen Kriterien orientierte? Es ist überflüssig, auf diese Frage mit nein zu antworten. Gould hat völlig neue Kriterien formuliert, und zwar allein aufgrund seines symbiotischen Liebesverhältnisses zu Bachs Musik. Er blieb Glenn Gould, machte die Musik Bachs zum Sprachrohr seiner Person und sich selbst zum Medium für diese Musik. Was will man als Musiker mehr?

Dieses Buch ist die Summe unserer Erfahrungen mit der Anwendung der Atemtypen im musikpädagogischen Bereich. Es ist der Versuch, möglichst kompakt die Dinge zu formulieren, die wir über die praktische Arbeit mit unseren Schülern und Schülerinnen neu verstehen lernten. Wir führten jedoch keine Statistiken (und werden das auch weiterhin nicht tun). Aber jeder Mensch, der zu uns kommt und ein Stück Begleitung auf seinem Weg möchte, läßt uns neugierig sein – ja, gierig auf das Neue. Wir tasten uns an ihn heran, schauen, fühlen, hören in die jeweilige Situation hinein und versuchen dann, beim Ausräumen der Schwierigkeiten zu assistieren. Und in dem Augenblick, wo die Stimme sich öffnet oder die Energie über das Instrument zu fließen beginnt, hören wir den Atemtyp in Aktion!

So ergibt sich die Stimmigkeit dieses Arbeitsprinzips gewissermaßen aus den Resultaten, denn das, was wir hören, überzeugt uns selbst immer wieder neu. Jedesmal bestätigt sich die typenmäßig richtige Funktion. In diesem Sinne möchten wir Ihnen das folgende Material mit auf den Weg geben. Es geht hier nicht etwa darum, ein System oder gar eine Technik anwenden zu wollen. Vielmehr gilt es, die »Gesetzmäßigkeiten« dieser Typenlehre immer wieder neu in den Studenten zu entdecken und allein dadurch ihrer Berechtigung zuzuführen. Es ist auch nicht unser Anliegen, bewährtes Wissen durch neues zu ersetzen, vielmehr wollen wir einen Blickwinkel erschließen, der den bereits vorhandenen Erfahrungsreichtum neu ordnet. Daher wollen wir auch keine neuen Übungen erfinden, sondern vielmehr die bereits vorhandenen sortieren. Es gibt noch viel zu entdecken!

Dieses Buch gibt Möglichkeiten an die Hand, sich selbst innerhalb eines musikalischen Rahmens zu entdecken und das eigene Potential gemäß der vorhandenen Disposition kontinuierlich zu entfalten. Da wir nicht alle gleich sind, funktionieren wir auch nicht alle in der gleichen Art und Weise. Es geht also darum, einen sehr persönlichen Weg zu finden und diesen dann mit einer gewissen Kompromißlosigkeit zu gehen. Hierdurch werden die Richtig und falsch-Kriterien auf eine ebenso persönliche Art und Weise formulierbar und allein dadurch in eben diesem persönlichen Sinne verbindlich. Und vielleicht zeigt sich dann, daß das, was gemeinhin als Charisma bezeichnet wird, letztlich nichts anderes ist als der Mut, zu sich selbst zu stehen und das auch nach außen hin zu repräsentieren – unabhängig von sämtlichen Richtig und falsch-Kriterien.1* Große Künstler haben das immer gezeigt, und genau das lieben wir an ihnen.

Ferner soll dieses Buch zu einem veränderten Bewußtsein hinsichtlich der Schüler-Lehrer-Beziehung beitragen. Da im musikpädagogischen Bereich vieles über das Prinzip der Imitation läuft und sich dadurch viele Details quasi zwischen den Zeilen vermitteln lassen, ist es natürlich wichtig, den jeweiligen Atemtyp von Schüler und Lehrer zu kennen. Vieles, was der Schüler so ganz nebenbei mitnimmt, kann, wenn es sich dabei um den umgekehrten Typ handelt, nämlich absolut nicht förderliche Wirkungen haben.2 Viele dieser Schwierigkeiten können jedoch allein durch das Bewußtmachen der Unterschiedlichkeit von Schüler und Lehrer vermieden werden. Mit anderen Worten: Lehrer können differenzierter mit ihren Schülern arbeiten, wenn sie um das Polaritätsprinzip wissen. Sie haben eine zusätzliche Möglichkeit, ihre Schüler und Studenten bei der Entfaltung ihres künstlerischen Potentials zu begleiten. Und vielleicht weckt das auch in ihnen diese Neugier, diese Gier auf Neues, auf etwas, das noch im Schüler schlummert oder von dem er vielleicht nur eine vage Ahnung hat.

In diesem Sinne ist das Buch zu gebrauchen und weiterzuentwickeln. Es ist gewissermaßen work in progress. Und wenn es dazu inspirieren kann, hat sich die Arbeit für uns gelohnt.

* Sämtliche Anmerkungen sind ab Seite 156 kapitelweise zusammengefaßt.

Erich Wilk und Charlotte Hagena

Was gibt es Wissenswertes über die Menschen zu erzählen, die die Gesetzmäßigkeiten der Atemtypen in ihrem Leben entdeckt haben, sie anwendbar machten und verbreiteten? Welche Lebensumstände spielten dabei eine Rolle?

Hier ist als erstes Erich Wilk zu nennen. Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus Erzählungen von Charlotte Hagena, die mehrere Jahre mit ihm zusammenarbeitete. Er selbst hat sich schon vor Jahren unerreichbar aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Diesen Erzählungen zufolge wurde Erich Wilk am 2. 12. 1923 in einer »Bauernfamilie« geboren. Er bezeichnete sich selbst oft als Bauernkind, um damit immer wieder zu betonen, wie selbstverständlich und vertraut ihm die Einflüsse von Sonne und Mond auf die Landwirtschaft waren. Pflanzen und Ernten waren nie unabhängig von den Phasen dieser Gestirne denkbar. Von daher lag es für ihn nahe, sie als entscheidende Bezugsgrößen für das Erforschen menschlichen Verhaltens mit einzubeziehen. Offensichtlich hatte er schon von Kindheit an eine außergewöhnliche Fähigkeit zu beobachten und darüber hinaus die Gabe, beobachtete Phänomene durch strenge Logik auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin zu überprüfen.

Außerdem verfügte er über eine exzellente musikalische Begabung – er spielte schon mit elf Jahren Konzerte auf der Geige. Sein Geigenunterricht gab ihm schon von frühester Jugend an Stoff für die spätere Lehre von den Atemtypen. Schon damals erkannte er Haltung und Spieltechnik seines Lehrers als anders und ungeeignet für seinen eigenen Körper. Diese Andersartigkeit seines Lehrers gab ihm jedoch keinen Anlaß zu »falscher« Nachahmung. Vielmehr stellte sie eine Herausforderung für das Erforschen des ihm Eigenen dar. Mit zunehmender Erfahrung geriet er immer mehr auf die Spur der Polaritäten im menschlichen Leben und Verhalten.