Eigentlich hieß er Daniel, Apollo war nur sein Rollenspielname. Der echte, richtige Gott Apollo hatte eine Schlange getötet, die Pest nach Troja geschickt, sich mit seinem Vater gestritten und war dann in einem fliegenden, von Schwänen gezogenen Wagen abgehauen.
Klar wollte Daniel Schmidtmayer ein Apollo sein.
Ich hab ihn kennengelernt, bevor er mich kennenlernte, denn er lag mit einer Apfelkornflasche in der Hand neben einem Hasenkäfig und schlief. Es war ein Grillfest, auf dem aber nur getrunken wurde, weil niemand an Kohle gedacht hatte. Essen war ein Vorwand, um erwachsen auszusehen.
Bis Mitternacht hatte man versucht, mit allem brennbaren Material den Grill funktionstüchtig zu machen. Nicht weil irgendwer Hunger gehabt hätte, man wollte einfach Dinge brennen sehen.
Die, die nach zwölf noch zündelten und keinen zum Knutschen abbekommen hatten, nannten wir die »Totgebissenen«. Junge Männer, die, wenn wir noch im Rudel im Wald leben würden, von den starken Alphajungs an der Kehle gepackt und so lange geschüttelt und gebissen werden, bis sie tot sind. Arme zurückgebliebene, dicke oder zu schmale, bebrillte Wesen mit quietschiger Stimme und falscher Kleidung.
Drei von der Sorte standen am Grill, ich bemitleidete sie aus dem Augenwinkel. Ich hatte mich hingesetzt, bevor ich Apollo entdeckt hatte. Er lag einfach da, hinter den Hasen, rechts vor meinem Stuhl, ich hab ihn also nicht »aktiv« gesucht.
Die Idee, dass er mein Freund sein würde, war auch nicht meine, sondern die von einem Totgebissenen, der sich neue Papptellermunition zum Zündeln vom Tisch holte, Apollo sah und mich fragte: »Ist das dein Freund?« Erst da hab ich Apollo bemerkt.
Weil nicht so richtig klar war, ob die Frage des armen unterentwickelten Feuerteufels eine Anmache war, hab ich ganz schnell genickt. »Jaaa.«
»Cool! Der ist völlig hinüber, was?«, sagte der Tote und zog ab.
Hinüber. Das stimmte.
Er war für einige Stunden ausgeschaltet, und so hatte ich genug Zeit, ihn mir anzugucken und mir eine Zukunft mit ihm vorzustellen. Dass ich mich auf ihn einließ, war mir damals noch nicht bewusst, es passierte einfach von selbst. Ohne Mühe, ohne Berechnung, ohne Plan.
Verliebt war ich bis dahin noch nicht gewesen. Männer waren mir egal, ich hatte eine Freundin, die ich heiß und innig liebte. Das mit Apollo war Notwehr in einer Situation, in der ich drohte, den Anschluss an meine allerbeste Freundin zu verpassen.
»Vielleicht bist du auch einfach lesbisch, mein Schatz«, fand meine Mutter. »Diese Freundschaft zwischen dir und Sophie geht doch weit über das hinaus, was man Freundschaft nennt.« Sie hatte recht, nicht so sehr mit dem Lesbischsein, aber eigentlich war Sophie wirklich so was wie meine erste große Liebe gewesen.
Sophie und ich waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen, wurden im selben Overall, also nicht im gleichen, sondern im Partnerlook, eingeschult, wir wohnten um die Ecke und hatten in einem alten Baum einen toten Briefkasten, in den wir Briefchen steckten, wenn wir nicht telefonierten oder ohnehin zusammen waren.
Unsere Namen waren Vieh und Zy.
Viehs Knie berührten nie den Boden. Sie war immer sauber, denn sie konnte stundenlang hocken. Ihre feinen Gliedmaßen waren dazu gemacht, sich ohne Mühe zusammenzuklappen, wenn es nötig war. Sie trug Haarreifen und rosa Schalmützen und legte so ungeniert ihre hohe Stirn frei, die sie später mit Pony und Schirmmützen verstecken würde.
Mir war der Ziegenbockkopf egal, ich liebte sogar ihren Herpes an der Oberlippe, der nie abzuheilen schien und den ich für eine Sportverletzung hielt. Warum auch nicht, denn an mir gab es keine Körperstelle, die nicht verpflastert oder durch Jod orange gefärbt war.
Damit wir noch öfter zusammen sein konnten, hatte Sophie sogar ihrer Katze wegen meiner Allergie die Haare abrasiert. Im Grunde waren wir aber immer bei mir im Keller, denn dahin kam kein Erwachsener. So hatten wir mit zwölf schon unsere eigene WG.
Es gab nur einen Zeitpunkt am Tag, an dem wir getrennte Wege gingen. Während Sophie im Französischunterricht saß, hatte ich Englisch. Wie es dazu überhaupt kommen konnte, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich hatten irgendwelche Eltern für uns entschieden, welche Sprache wir sprechen sollten. Wir waren Kinder, die Auswahl von Frisuren, Sportarten, Kleidung, Mittagessen und Urlaubszielen lag nicht in unserer Hand.
Mir waren diese getrennten Unterrichtsstunden nahezu unerträglich. Was Männer heute »klammern« nennen, war damals unter Freundinnen ganz normal.
»Ich geh da ohne dich nicht hin!« »Ich bring dich noch bis zur Tür.« »Noch bis zum Tisch!« »Gut, ich warte hier, bis du fertig bist!« »Okay, ich geh jetzt, aber lass uns einfach in zehn Minuten auf der Toilette treffen!«
Sophie und ich waren einfach: beste Freundinnen.
»Du bist meine allerbeste Freundin!«
»Du meine allerallerbeste!«
»Du meine alleralleraller…«
Nur dass »allerbeste Freundinnen sein« eben grundsätzlich kein normales Verhältnis ist. Wir lebten in einer Symbiose.
Seit es Sophie gab, hatte ich in meinem Leben immer einen festen Platz. Im Bus neben ihr, im Hochbett über ihr, auf dem Pony vor ihr, in der Schule hinter ihr, denn man ließ uns nicht nebeneinander sitzen.
Sophie war klüger als ich, sauberer und ihr Elternhaus eindeutig spießiger. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein Zuhause ohne Pornomutter und suizidalen Vater. Natürlich fanden ihre Eltern den Kontakt mit mir nicht ideal, besonders ihr Vater Klaus konnte mich nicht leiden, aber gegen unsere Liebe kam er nicht an. Bis die Parisscheiße kam.
»Ich werde ein Austauschjahr in Frankreich machen müssen, Papa hat da was bei Freunden von ihm klargemacht, mitten in Montmartre!«
»Vieh fährt nach Paris. Ich möchte dort bitte auch hin!«, erklärte ich meiner Mutter eindringlich.
»Ach, wie schön für euch, sicher kannst du. Wann denn?«
»Diesen September bis nächsten September!«
Mitfühlende Mutteraugen und ein Wort, das ich damals schon nicht kannte: »Nein! Mein Schatz, das geht leider nicht. Du hast doch gar kein Französisch.«
Natürlich ging es nicht, denn ich war klein und schulpflichtig und konnte nicht, wie ich vorschlug, in einer Parfumfabrik als Rosenblattabzupferin arbeiten.
»Du könntest aber währenddessen doch nach New York, das ist doch ideal mit dem Englisch, dann trefft ihr euch in einem Jahr wieder und habt euch ganz viel zu erzählen!« Was hatte New York schon zu bieten, ohne Sophie drin.
»Ich hasse Frankreich!« Sophie hasste Frankreich.
»Ich hasse die Franzosen!« Ich hasste die Franzosen.
»Ich hau einfach ab, nehm den Zug und versteck mich das nächste Jahr bei dir im Keller!«
Bis ins kleinste Detail organisierten wir Sophies Flucht und unser Versteck im Souterrain.
Es war von allen Plänen auf der ganzen Welt der schönste Plan, denn er war in Wahrheit der von Ronja und Dirk, die sich vor den Eltern aus der Mattisburg im Wald versteckt hielten.
Aus Tschernobyl-Zeiten gab es noch ordentlich Milchpulver, Maiskolben und Benzin im Keller, so dass wir nie hungern würden und zur Not auch Mamas Cabrio tanken konnten.
Wir hatten alles durchdacht, so dass ich keine Angst mehr vor der Trennung hatte, als meine allerallerbeste Freundin durch die Glastür zur Sicherheitskontrolle in Tegel ging und mir ein letztes Mal zuwinkte. Ich war mir sicher, dass sie schon morgen wieder bei mir sein würde.
Aber Sophie kam nicht zurück.
Nach zwei Tagen rief sie an. »Luuucyyy, du würdest das hier so toll finden. Julie, das ist die Tochter von meinen Gasteltern, ist total verrückt. Ich hab dir schon einen Brief geschrieben, aber …« Leitung tot.
Es war eine Zeit, in der Telefonate ins Ausland tatsächlich noch von sehr schlechter Qualität waren, dass man sich schreiend verständigte und das freie Ohr zuhielt, um sich konzentrieren zu können.
Es kostete auch viel. Im ersten Monat hatten wir eine Telefonrechnung von 1500 Mark. Meine Mutter fand das nicht schlimm, sie machte sich erst Sorgen, als unsere Telefonrechnung wieder normal war.
Es wurde relativ schnell wieder billiger, denn ich erreichte Sophie immer seltener. Man konnte ihr keinen Vorwurf machen, denn Vieh war in Paris unterwegs.
Neben mir, vor mir, hinter mir, unter und über mir. Überall saß keiner mehr. Alle Plätze waren leer.
Ich schleppte einen Kassettenrekorder mit mir herum, um jederzeit alles für Sophie aufzunehmen. Das war wie Skypen, bloß ohne Video und mit einwöchiger Verzögerung. Hundertfünfzig Tapes einseitiges Gesabbel fuhren per Post von Berlin nach Paris.
Heute weiß ich nicht mehr, was ich damals alles erzählt hab, denn es passierte das ganze Jahr über nix. Klar ging es irgendwie weiter, aber ich nahm nicht mehr teil. Es war, als wäre ich in ein Glas mit Formaldehyd geklettert, um mich selber einzulegen. Ich wollte einfach nicht, dass irgendwas passierte, solange Sophie nicht da war, um mitzumachen.
Dass ich mich dabei selber so gut wie gar nicht weiterentwickelte, merkte ich erst, als Sophie nach einem Jahr mit ihrem Koffer am Flughafen wieder vor mir stand. In meinem Arm fühlte sie sich erst mal nur ein bisschen größer und dünner an. Ich kam aber auch nicht so nah an sie heran, wie ich wollte, denn ihre kleinen Brüste steckten in einem dick ausgepolsterten Wonderbra, der mich wie ein Airbag auf Abstand hielt.
Die allerbeste Freundin hatte sich in eine kleine französische Mademoiselle verwandelt. Sie hatte lange Fingernägel, war geschminkt und hatte sich offensichtlich extra »hübsch« gemacht. So standen wir voreinander.
Ich war auf dem Entwicklungsstand hängengeblieben, in dem man sich reinigte, weil die Eltern es aus hygienischen Gründen von einem verlangten. Tagelang hatte ich nicht mal meinen Pferdeschwanz aufgemacht, geschweige denn mich zu Ehren von Sophies Rückkehr gebürstet.
Es war nicht nur Sophies Oberfläche, die anders war.
Aus den Kopfhörern, die ihr um den Hals hingen, drang statt Bibi Blocksberg blöde Musik. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht feststellen, denn Sophie musste nach Hause, in den Schoß ihrer Familie, die sie ein Jahr vermisst hatte.
»Süüüß sieht sie aus, oder, mein Schatz? So erwachsen.« Meine Mutter hatte mich mit dem Auto zum Flughafen gebracht, und offensichtlich war auch ihr nicht entgangen, dass sich Vieh verändert hatte.
Still fing ich an zu weinen, denn alles erschien mir kalt und fremd.
Als meine Mutter das sah, hielt sie mit quietschenden Reifen am Bordstein. Rotze lief mir aus der Nase, und als sie mich in den Arm nahm, schleimte ich auf die Pornobrüste.
»Das ist nicht Viieeeh … die benutzt doch kein Parfum! Warum? Was soll ich denn jetzt machen, wenn Sophie nicht mehr Sophie ist, dann muss ich steeerben.«
Ich war hysterisch, verzweifelt und in Angst eingewickelt. Erst bei Douglas kam ich wieder zu mir.
Meine Mutter und eine sehr kräftig geschminkte Dame waren dabei, mich bei der Auswahl meines ersten persönlichen Duftes zu beraten. Vielleicht lag es an meiner Schnoddernase, durch die keine Luft mehr durchkam. Ich entschied mich für den süßesten, duftigsten Duft, im größten und dollsten Flakon, den es gab.
Wieder zu Hause musste meine Mutter mir die Nester aus den Haaren kämmen. Ganz schnell sollte alles verschwinden, was nach Kind aussah, die Beweise stopften meine Mutter und ich in große blaue Müllsäcke. Ich wollte alles in den Garten schleppen, mit Benzin übergießen und verbrennen, aber das erlaubte meine Mutter nicht. Sie packte alles zusammen, was mich Dimensionen von Sophies neuer Lebenswirklichkeit entfernte, brachte es die Treppe hoch und versteckte es vor mir.
Irgendwann konnte ich nicht mehr. Eingeduftet, mit lackierten Nägeln und rotgeweinten Augen schlief ich erschöpft ein.
Das Jahr, in dem ich meine Pubertät angehalten hatte, um auf meine Freundin Sophie zu warten, spielte sich an einem einzigen Abend ab.
In derselben Nacht klopfte es an mein Kellerfenster.
Sophie trug keine Schuhe, sondern nur ihren Pferdepyjama und ihre grüne Zahnklammer.
Sie kletterte durch die Luke, kuschelte sich zu mir unter die Decke. Die Leselampe nahmen wir mit. Die alte Glühbirne heizte unsere Höhle auf saunaartige Temperaturen. Hier hatten wir uns die wichtigen Fragen gestellt: »Wen hast du am liebsten auf der Welt?« »Dich!« »Was würdest du mitnehmen, wenn du für immer auf eine einsame Insel gehen müsstest?« »Dich!«
Alles war wieder wie immer, wie früher, wie vor Paris und dem Eau de Toilette.
Wir redeten bis 5 Uhr früh über alles, was in den letzten zwölf Monaten passiert und nicht passiert war.
Sophie hatte mir aus Paris eine Schachtel Parisienne und eine Schachtel Pariser mitgebracht.
Bislang hatten wir niemals rauchen wollen, denn es war super ungesund und der Gestank hielt Tiere ab.
Als Sophie sich aber eine Zigarette anzündete, änderte ich meine Meinung sofort. Ich hielt die Zigarette so, dass sie schnell abbrennen konnte, mit der Glut nach unten.
Es wurde hell draußen, und schließlich musste Sophie nach Hause gehen.
»Ich hol dich in einer Stunde zur Schule ab. Zy? Eine Sache ist noch passiert! Ich hab mich total verliebt! Erzähl ich dir gleich. Kusskuss.«
Sie verschwand in den Morgen, und ich fragte mich, wo ich so schnell einen Jungen zum Verlieben herbekommen sollte, um bei Sophie bleiben zu können.
Es kam anders als geplant. Ich fand Apollo und verlor Sophie.
Von außen war alles wie immer. Sophie und ich gingen gemeinsam auf Partys, aber nur durch die Tür. Sobald Typen da waren, wurden Freundinnen wie wir zersprengt und über weite Areale, die teilweise mit der eigentlichen Party gar nix mehr zu tun hatten, verteilt. Saufend, streitend, knutschend, suchend, weinend, lachend – alles voll mit Jungs- und Mädchenfetzen. Wie nach einem Bombenangriff. Auch meine Sophie war eins dieser Opfer. Der Franzose, mit dem sie die Liebe entdeckt hatte, war schnell vergessen, denn sie hatte sich auf den ersten Blick in einen Jungen aus der Parallelklasse verliebt, der schon immer da gewesen war.
»Das mit Milan und mir ist was anderes. Mit Jean war nur Kinderkram.«
Ich war übrig. Unbeschadet, ganz geblieben und allein. Obwohl es für mich nicht mal Kinderkram gab, fand ich mich gar nicht spätzünderig. Ich glaubte nichts von Sophies Theater.
Mir kam es vor, als sei Liebe plötzlich in Mode, nur dass die Jeans jetzt Milan oder Jean hießen. Die Markengeilheit damals war groß, viel größer als heute, wo es so viel Auswahl gibt. Klar war kein Krieg, trotzdem war gefühlt nix da. Was es gab, war entweder sehr billig oder sehr teuer. So war es auch bei den Jungs. Es war völlig egal, ob man Milan in Wirklichkeit so abstoßend hässlich wie einen bordeauxroten Body fand, man nahm ihn einfach und tat so, als wäre man begeistert. Wichtig war nur, dass er nicht in die Totgebissen-Gruppe gehörte.
Man wollte den besten Typen, der schick neben einem aussah. Und weil man nicht oberflächlich sein wollte, musste er es nicht nur optisch bringen, sondern vor allem inhaltlich. So stellte sich zumindest die ganze Freund-Freundinnen-Nummer für mich dar. Anders war das mit Milan und Sophie für mich auch nicht zu erklären.
An echte Liebe dachte ich gar nicht. Der einzige Mann, der mir liebenswert vorkam, war Helmut Kohl, denn der war, seit ich lebte, einfach immer präsent gewesen.
Weil ich aus Sicherheitsgründen ein Mitläufer bin, wusste ich, dass ich einen eigenen Freund brauchen würde, um nicht mit den anderen Totgebissenen zündelnd am Grill zu enden.
Apollo war optisch ein bisschen anders als die anderen Jungs. Unangepasster. Es war keine sichere Sache, dass er dem Trend entsprach. Die Gefahr, sich zu vergreifen, bestand also in jedem Fall. Ich betrachtete den schlafenden Apollo wie einen Rock, den man anziehen will, aber nicht genau weiß: Werde ich mit dem aussehen wie ein Schulmädchen oder wie eine Nutte? Ist das cool oder eine Modesünde? Kann ich ihn aufwerten oder einfach umnähen lassen?
Apollo trug einen dicken Silberring mit einem Cannabisblatt und ein schwarzes zerfetztes Band-Shirt.
Ich kannte die Band nicht, vielleicht war es seine eigene. Dann wäre er ein Künstler. Einer, der mehr empfindet, mehr als andere. Leidenschaftlich, aber voll von Zweifeln und Kummer. Wie mein Vater, dachte ich wohl.
Wahrscheinlich keuchte irgendwo Sigmund Freud in seinem Grab. Leider nicht laut genug, dass ich aufgehört hätte, Apollo anzuglotzen.
Alles mit ihm wäre ein Abenteuer.
Viel fühlen, so dass man auch was fühlt, denn bislang fühlte ich männermäßig ja nix.
Genau dieser Junge sollte es sein. Er passte perfekt zu mir, es war völlig unerheblich, dass wir noch kein Wort miteinander gewechselt hatten. Dass ich nicht wusste, wie er hieß oder woher er wirklich kam. Im Gegenteil, gerade das Nichtwissen war wahrscheinlich ausschlaggebend, wie ich heute weiß.
Der schlafende Apollo war eine frische Leinwand und bot Platz für meine Fantasien. Egal ob diese der Wirklichkeit entsprachen, sie wurden gedacht. Wenn ich eins kann, dann mir was vorstellen.
In ihrer blumigen Detailliertheit kam mir meine Fantasie so echt vor, dass sie sich für immer als wahrhaftig in mein Gehirn fräste.
Als Apollo aufwachte, war ich mit ihm und seiner Band schon einmal durch Europa gereist.
Ich war damals zwar noch nicht besonders kreativ, was die Kopfkinofilme angeht, daher glich meine Vorstellung ziemlich stark der aktuellen C&A-Werbung, in der Apollo wie ein Requisit nur am Rand auftauchte. In Sepiatönen VW-Bus fahren, mit Sophie nackt ins Meer rennen. Wie in einer großen Familie würden wir alle zusammen in einem großen duftigen, blütenweißen Hotelbett schlafen, also ich und Sophie, und irgendwo war da auch Apollos Arm. Wie in der Afri-Cola-Werbung würden die geklöppelten Vorhänge im Wind wehen, hinter ihnen meine Silhouette, zwar nicht schwarz wie die der farbigen Dame, die mit ihrem Körper Limonade verkaufte, aber irgendwie trotzdem hübsch.
So Zeug hatte ich im Kopf, als er aufwachte. Gott sei Dank, kann man sagen, wachte er auf, sonst wäre als Nächstes der Kuschelweichbär zu uns ins Bett gesprungen.
Es war 4 Uhr früh. Sophie lag unter Milan begraben knutschend auf dem Sofa. In der Küche brieten sich ein paar Leute ganz spießig Spiegeleier, und einer der Totgebissenen kotzte den Grill aus.
Gekotzt wurde wahnsinnig viel. Mit Stolz wurde sich erbrochen, wohin es nur ging. Ein Abend war nur gut, wenn man gespuckt hatte.
Es waren der Alkohol und die Zigaretten, aber vor allem die Maßlosigkeit, mit der man als Jugendlicher das Leben fühlte. Egal was, vor allem viel und doll.
Jeder sollte mitbekommen, dass man da war. Man stank zum Himmel nach Pubertät, die Jungs rochen nach Kokoswachs und Davidoff Cool Water, Mädchen nach dem über süßen Parfum von Chopard, das einen heute als Erwachsenen kotzen lässt.