Auch Apollo musste auf dem Heimweg spucken.

Ich war froh darüber, denn die Nacht war ein Erfolg, und ich konnte ihm wie sonst meiner Freundin Sophie die Haare halten.

Apollos Haare waren lang und braun und ein bisschen struppig. Ich fand das ganz toll.

Nicht weil es mir aus optischen Gründen gefallen hätte, sondern weil er offensichtlich niemand hatte, der sie ihm kämmte.

Er war verwahrlost und brauchte dringend jemanden, der sich um ihn kümmerte.

Apollo wohnte im Wedding, in dem ich bisher noch nie gewesen war, denn ich kam aus dem reichen Grunewald. Der aus Verzweiflung von den uncoolen jugendlichen Einwohnern »G.WOOD« genannt wurde.

Alles außer Wilmersdorf, Charlottenburg und Zehlendorf war für uns Ausland.

Randgebiete wie Kreuzberg waren endlos weit weg, vor allem weil man nur einen einzigen Bus zur Verfügung hatte, um in die Stadt zu kommen. Einen, der nur bis 21 Uhr fuhr. Ab da gab es so eine Art Ersatzverkehr, der am Wochenende alle zwei Stunden kam und aus einem VW-Bus mit schlechtgelauntem Fahrer bestand. Für so einen Doppelstockbusfahrer war das Downgrade auf VW-Bus sicher schlimm.

»Fahren Sie auch in den Wedding?«

»Seh ich aus wie ein Taxi?«

Eigentlich ja.

Der Grunewald war nach 21 Uhr ein unerreichbares Dorf. Dass Berlin in Ost und West geteilt war, wurde mir erst bewusst, als die Mauer fiel und meine Mutter ein kleines Stück davon an ihren Mantel pinnte. Dann kamen nach und nach immer mehr Steine ins Haus, denn meine Eltern zogen eine Wand in die Villa ein, um nicht mehr miteinander leben zu müssen. Damals war ich zehn, natürlich dachte ich, dass diese beiden Ereignisse – der Mauerfall und der darauffolgende Mauerbau bei uns zu Hause – in direktem Zusammenhang standen.

Wedding war wild. Und es wurde noch besser, denn Apollo lebte in einem Hochhaus. Kein Altbau, kein Garten. Ganz, ganz oben, in einer Zweizimmerwohnung allein mit seiner Mutter.

Die Wohnung war so klein, dass nur er ein eigenes Zimmer hatte, seine Mutter schlief im Wohnzimmer auf dem Ausklappbett. Ein Bett, das bei Bedarf aus der Schrankwand gezogen wurde, weil sonst kein Platz dafür dagewesen wäre. Ein Bett für eine einzige Person.

Ich fand es irre unheimlich bei Apollo. Und so wirklich, dass mir schwindelig wurde.

Klar, eigentlich war es ein ganz normales Jungszimmer wie bei uns im Grunewald. Es enthielt entsprechende Items wie Jack-Daniels-Flaschen, mit Cannabisblättern bedruckte Gegenstände und selbstgezeichnete Comics. Die Requisiten sollten den Raum in Richtung »erwachsener, düsterer, verwahrloster Jugendlicher« aufpeppen. Aber Apollos Zimmer war nicht gestylt, sondern echt, denn man konnte nirgends einen Fehler in der Kulisse erkennen.

Bei den Jungs aus meiner Klasse war mit Sicherheit irgendwo eine Alfpuppe auf dem Schrank versteckt, die den schönen Schein sofort zusammenbrechen ließ, wenn man sie entdeckte.

Hier war das nicht so. Apollo hatte nicht den Schreibtisch beklebt und zerkratzt, um ihn weniger teuer aussehen zu lassen, seiner war einfach oll.

Apollo holte eine Flasche Hohes C aus dem Kühlschrank, während ich mich schon mal in sein Bett legte. Bis hierher hatten wir kaum gesprochen. »Kommste mit zu mir? Ick wohn im Wedding.«

»O. k.«

Ausgezogen hab ich mich nicht. Bisher hatte ich mich für den Richtigen aufgehoben. Das machte man so, besonders wenn man so eine freizügige Mutter wie ich hatte.

Meine Mutter hatte die »Liebesfilme« zwar an den Nagel gehängt, aber sie war das Testimonial einer großen Sexshopkette geworden. Lasziv auf der Seite liegend, warb meine Mutter mit goldenen Sternchen auf den Brüsten von jeder Litfaßsäule für das Sexyland.

Mir war Geschlechtsverkehr peinlich, deswegen nahm ich vor allen Gesprächen, die sich in Richtung Aufklärung entwickelten, Reißaus.

»Aber Luzy, willst du nicht wissen, was Petting ist?« »Danke, nein!«

Keiner hatte es mir direkt ins Gesicht gesagt, aber in meinem Kopf stand, inspiriert von der Bravo Girl und mit Ausrufungszeichen markiert: Sex ist etwas ganz Besonderes! Und: Sex ist nur schön, wenn man sich liebt!

Ich hatte wenig bis keine Erfahrung. Meine bisherigen sexuellen Erlebnisse waren durch Stoff hindurch passiert. Man rieb Geschlechtsteile, die unter der Jeans erst steif und dann nass wurden. Deswegen hatte ich berechtigterweise ein bisschen Angst, dass, wenn die Stoffbarriere weg ist, der Penis von Apollo einfach automatisch in mich reinfahren würde. Hatte ein Pimmel Muskeln oder Gelenke? Möglich.

Aber Apollo – plus Schwanz – war schon eingeschlafen.

Ich betrachtete den blassen Jungen neben mir, der mein Freund werden sollte. Unter seiner Nase kringelte sich ein Haar, aus einer entzündeten Pore, das später mal ein Bart werden würde, wie ich hoffte.

Rührung packte mich, aber mehr darüber, dass ich nun endlich im Begriff war, mich selbst in einen Erwachsenen zu entwickeln.

»Ich bin Luzy«, erklärte ich Apollo feierlich. Ich nahm ihn in den Arm, hielt ihn fest, ganz fest, und beschloss, ihn nie wieder loszulassen.

Als ich morgens aufwachte, hatte er es irgendwie geschafft, sich loszumachen. Es glich demselben Zaubertrick, mit dem sich meine Mutter, als ich klein war, aus meiner Umklammerung lösen konnte, um meinem Vater auf die Couch hinterherzuziehen, ohne dass ich es mitbekam. Egal wie fest ich sie beim Einschlafen festhielt, wenn ich aufwachte, war sie aus dem Bett verschwunden.

Apollo saß an seinem Schreibtisch, zeichnete ein Pentagramm und rauchte.

»Meine Mutter macht uns Rührei.« Das war der erste richtige, nüchterne Satz, den er an mich richtete.

Stellvertretend für ein Gespräch mit ihm, sprach ich mit seiner Mutter, während er danebensaß und Ei in sich reinschaufelte.

Bini, so hieß sie, schien sich um einiges mehr für mich zu interessieren als ihr Sohn. Sie hatte einfach ein volles Tablett mit Frühstück ins Zimmer getragen und sich schnaufend zu uns ins Bett gesetzt. Mitten rein. Sie war dick und trotzdem unweiblich. Haare kurz geschnitten, ihre Augen müde.

Ihr Anblick war ein einziger Vorwurf. »Apollo, mein Sohn, sieh her, wie müde ich bin. Ich hab keine Zeit für lange Haare. Ich hab nicht das Glück wie Lizzy Lollipop, deren Muschi ihr den Vorruhestand gesichert hat, mir jeden Abend die platinblonde Mähne mit den von Frauenzeitschriften geforderten hundert Bürstenstrichen gesund und geschmeidig zu halten.« »Bini, jetzt hören Sie mal zu. Das Geld meines Mannes ist ein Fluch …« »Sei still, Mama, hier ist eine Frau, die sich die Hände wund arbeitet, um ihren Sohn durchzubringen!«

Bini steckte sich, zwischen uns sitzend, eine Zigarette an. Sie stellte Fragen, und ich erzählte von mir. Weil Apollo selber nichts wissen wollte, konnte ich ihm so trotzdem, durch das Gespräch mit seiner Mutter, Informationen zukommen lassen.

Also war ich bemüht, das zu erzählen, was Apollo meiner Meinung nach von mir begeistern müsste.

Das hatte mit meinem wirklichen Leben nicht so viel zu tun. Ich log. Aber wirkliches Lügen war es nicht. Ich stellte lediglich das echte Gefühl, das ich hatte, in eine Lebenssituation, die dazu passte. Denn mir selber kam damals alles normal vor.

So ist das mit dem, was man täglich sieht, man kennt es eben und nimmt es nicht wahr. Und fragt einen jemand, welche Farbe der Wohnzimmerteppich hat, weiß man nicht mal, ob da überhaupt jemals einer gelegen hat. Dass unter unserem pompösen Villendach alles durcheinander war, konnte man nur als Außenstehender sehen.

Zu Apollos Zeiten lebten meine Eltern längst getrennt, aber in derselben Villa, in zwei Wohnungen, allerdings ohne Verbindungstüren. Die große Doppeltür, die Speisezimmer und Wohnzimmer getrennt hatte, wurde irgendwann nach Tschernobyl und Mauerfall dichtgemacht.

Prächtig war es in dem alten Haus nie gewesen, denn als hippiesken Neureichen war es meinen Eltern nicht gegeben, das Haus seiner Beschaffenheit nach entsprechend geschmackvoll auszustatten.

Die Hälfte meines Vaters wurde »drüben« genannt, denn man war meist »hier«, das war bei meiner Mutter. Ich selber lebte »unten« im Souterrain. Nicht weil ich abgeschoben wurde, also zumindest oberflächlich nicht, sondern weil der Keller einen eigenen Eingang hatte. Auf diese Art war auch ich gerecht aufgeteilt worden, denn ich wohnte bei keinem richtig.

»Die Luzy hat ihr eigenes Reich.« Betonte meine Mutter stolz vor anderen und beschönigte meine Einsamkeit zur Unabhängigkeit.

Um Stress aus dem Weg zu gehen, hatte jeder von uns seinen eigenen Telefonanschluss mit eigener Nummer. 23 Pfennig Flatrate pro Gespräch. So war das damals.

Ich lernte früh, dass man anrief und sich anmeldete, bevor man ungefragt zu Besuch kam. So konnten meine Eltern sicher sein, dass sie sich »in meinem Reich« nicht zufällig über den Weg liefen. Alles war geregelt. »Hallo, Luzy, ist Papa da?«

»Nein.« Denn Papa war so gut wie nie da.

»O. k., ich komm gleich.«

»Drüben« bei meinem Vater war ein Atelier mit Küche und Bad. Die Leinwände standen achtlos in der Gegend herum und schachtelten die Räume in sich wie ein Labyrinth.

»Wo ist das Klo?«

»Zweimal blau, dann links bei dem grünen Quaderhahn …« Der ganz normale grüne Quaderhahn war eine Skulptur. Kurz hatte er sich daran versucht. Deswegen war auch nicht klar, ob die Schlinge, die von der Decke baumelte, auch zur Kunst dazu gehörte.

»Drüben« war es nicht wohnlich, weil mein Vater nicht leben wollte.

Meine Mutter hatte ihren Teil der Villa nach der Teilung aufwendig zum Neubau umrenovieren lassen. Parkett raus, weißer Teppich rein. Die neue Wirklichkeit aus cremefarbenen Ledersofas, Whirlpool, Glastischchen und tuffigen Vorhängen mit Quasten schrie aber noch lauter Porno als das vorher Dagewesene.

Zu Hause war alles in reichhaltiger Ordnung. Wir hatten Essen, Trinken, Kleider und Meerschweinchen. Das waren die Fakten, die zu gut klangen, um bei Leuten aus dem Wedding mit Ausklappbett und richtigen Problemen Eindruck zu schinden.

Bini häufte mir Rührei auf den Teller, denn sie hatte Mitleid mit mir. »Du arme Maus. Und dann lebst du da ganz alleine ohne deine Eltern?«

In der Geschichte, die ich Apollo und seiner Mutter beim Frühstücken im Bett erzählte, war ich ein Heimkind mit totem Vater und alkoholabhängiger Mutter, die sich nicht mehr um mich kümmern konnte.

Irgendwie stimmte es sogar ein bisschen.

Alkoholsüchtig war vielleicht übertrieben, aber meine Mutter trank jeden Abend, um sich zu entspannen, auf ihrer Seite der Mauer im Whirlpool eine Flasche Champagner.

Mein Vater war zwar noch nicht tot, aber das war nur eine Frage der Zeit.

Irgendwo war ein Atomkraftwerk explodiert. Ich wusste nicht, was das war, aber es musste schlimm sein, denn meine Mutter war wochenlang im Ausnahmezustand. Für sie, den Hippie der Herzen mit dem Antiatombutton, war das Unglück die schon lange prophezeite Apokalypse. Sie sprach nur noch von Atompilzen, Krebs und dreiköpfigen Katzen, kaufte mir einen Geigerzähler und erklärte mir, wie ich damit umgehen sollte.

»Den nimmst du überall mit hin und prüfst alles erst mal durch! Wenn etwas verseucht ist, dann fängt das Gerät ganz doll an zu knacken. Nichts in den Mund nehmen, das vorher knackt, verstanden?«

Meine Mutter hatte den Weg der Wolke in den Nachrichten verfolgt und traf Vorsorge für den Fall, dass sie über die Stadt ziehen würde, um hier ihr Gift auf uns zu entleeren. Sie kaufte Maiskolben in Dosen, Trockenmilch und Benzin. Viel davon. So viel, dass sich Pakete und Behälter im Keller stapelten. Wir durften das Haus nicht mehr verlassen, die Gefahr, dass es anfangen könnte zu regnen, war ihr zu groß.

Wenn eine Familie unerwartet auf engstem Raum zusammengepfercht ist und sich von Trockenmilch und Maiskolben ernähren muss, kann man mit Spannungen rechnen. Ich glaube, meine Eltern hatten sich schon vorher nicht mehr verstanden, aber der gesamte Beziehungsfrust entlud sich in der Woche, in der wir auf die Wolke warteten. Es wurde ohne Unterlass gebrüllt und gezankt.

Als Kind versteht man nicht, worum es geht, wenn sich Erwachsene streiten. Die Fetzen, die einem zufliegen und die im Kopf hängenbleiben, ergeben erst Jahre später einen Sinn. Dann ploppt es plötzlich im Kopf und man begreift, warum Pullover »pull over« oder eine Reporterin Karla Columna heißt.

»Ich bin hier gefangen in einer SITUATION, die ich nie wollte!«

»Meinst du, ich hab mir das so vorgestellt?«

»Du wolltest doch dieses Kind, ich bin dir vollkommen egal. Dir ist doch nur wichtig, dass dir irgendwer am Busen hängt!«

»Du erträgst es einfach nicht, wenn du nur eine Sekunde nicht der Mittelpunkt der Welt bist. Du bist so ein egoistischer Wichser!«

»Schlampe!«

»Vielleicht hast du ja Glück, und sie ist gar nicht von dir …«

So unrecht hatte mein Vater nicht. Meine Mutter wollte wirklich einfach nicht aufhören, mich zu stillen. Sie war froh, dass ihre Brust endlich ihrer wahren Bestimmung folgen konnte. »Ich bin ein sehr sexuelles Wesen, aber irgendwann hat man von Schwänzen die Nase voll, mein Schatz. Ich wollte unbedingt ein Kind!«

Ich war ihr Ticket nach draußen, sie wurde zum Muttertier, und ich hielt ihren Busen besetzt, bis ich vier war. Man muss sich vorstellen, dass das ein Alter ist, in dem man schon läuft, Zähne hat und einigermaßen vernünftige Gespräche führen kann. Ich ernährte mich natürlich nicht ausschließlich von Muttermilch, eher so kleines Schnitzel mit Pommes und zum Nachtisch ein Schluck Brust.

»Man soll stillen, solang man kann, das ist so gesund für das Immunsystem. Schau dich mal an, mein Schatz, wie gut du in Schuss bist.«

Stimmt, ich bin richtig gut drauf.

Als der Regen wirklich kam, war das Geschrei meiner Eltern plötzlich vorbei, und es war totenstill im Haus. Meine Mutter, mein Vater und ich betrachteten die Straße, auf der sich Pfützen bildeten. Jeder Tropfen kam mir vor wie eine Bombe, die Tod und Verderben brachte.

Mein Vater starrte still auf die Straße, während meine Mutter sich in meiner kleinen Kinderhand so festkrallte, dass diese weiß wurde. Passend zum Regen liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»Jetzt ist alles vorbei!«, hauchte sie vor sich hin.

Aus Angst grapschte ich neben mich, um auch bei meinem Vater Halt zu finden, aber der hatte sich schon umgedreht und den Raum verlassen.

In Panik fiel mir ein, dass ich das Fenster in meinem Zimmer offen gelassen hatte. Es bestand die Möglichkeit, dass es seitlich in den Raum hinein- und auf die Meerschweinchen draufregnen könnte. Ich befreite mich von der Kralle meiner Mutter, rannte die Treppe hinauf und stürzte in mein Zimmer, das damals noch nicht im Keller war. Um dem Gift nicht ausgesetzt zu werden, zog ich mir Handschuhe an und wickelte mich in eine Decke ein, bis nur noch ein Guckloch frei war. Todesmutig beugte ich mich hinaus, um das Fenster zu schließen. Dabei fiel mein Blick in den Garten.

Mein Vater saß auf einem Stuhl mitten auf dem Rasen hinter dem Haus.

Erst wollte ich schreien, doch die ganze Szene erschien mir so grotesk, dass ich nur zuschauen konnte, wie seine Kleidung immer stärker durchweichte. Aus seinen Haaren tropfte das Wasser in seinen Kragen, denn er trug keine Jacke und nichts, das ihn schützte. Schließlich legte mein Vater seinen Kopf nach hinten in den Nacken. Er schloss die Augen, öffnete den Mund und ließ das Regenwasser auf seine Zunge prasseln.

Erst glaubte ich zu träumen, denn der Anblick erschien mir für meine kindliche Logik zu unwirklich. Die Warnungen meiner Mutter, die Maiskolben in Dosen, der Geigerzähler, es war unwahrscheinlich, dass mein Vater zufällig in den Regen gekommen war. Die Gefahr war klar. Er musste absichtlich rausgegangen sein, dahin, wo der Tod von oben kam. Ohne dass ich wusste, was Selbstmord war, verstand ich, dass meinem Vater nichts an seinem Leben lag.

Die Tschernobyl-Geschichte war zu absurd, um damit Apollo und Bini zu beeindrucken.

Mir kam es schlimmer und damit passender vor, einfach nur ein Heimkind zu sein. Mein erfundenes Leben glich sehr der Geschichte von Oliver Twist, aber das merkte Bini nicht. Sie nahm mich in die Arme und hielt mich fest, während ihr Sohn neben uns im Bett einen weiteren Toast mit Butter beschmierte. Apollo gefiel die Fürsorge seiner Mutter offensichtlich überhaupt nicht.

Verständlich, denn genau wie ich und jeder Teenager war er ganz begierig darauf, Gründe zu haben, seine Mutter zu hassen. Leider war Bini offensichtlich eine sehr liebevolle Mutter und fuhr ihrem Sohn damit ordentlich in die Parade.

Irgendwann hievte sie sich hoch, um in der Küche noch eine zu rauchen. Als Apollo und ich allein waren, wurde mir klar, dass ich irgendwas machen musste, um die Verbindung zwischen uns zu besiegeln. Dass seine Mutter mich mochte, war nicht genug, es war sogar eher hinderlich, wie ich durch Apollos nächsten Satz lernte, denn er wollte offensichtlich, dass ich gehe.

»Ick muss jetze noch Gitarre üben und Mathe machen«, erklärte er mir und schickte damit eine Ausrede voraus, auf die mit Sicherheit ein Abschied für immer folgen würde.

Außer Haare beim Kotzen halten und Rührei essen war zwischen uns bisher nix passiert. Aber Händchen halten und Küssen waren wie der Wittenberg- und der Nollendorfplatz: sichere Stationen auf der U1 zum Pärchenwerden. Ei essen hingegen garantierte nicht mal, dass wir uns wiedersehen würden.

Mir war klar, dass es kein Ehering sein musste, aber irgendetwas Verbindliches brauchte ich, um Apollo zu behalten und somit Sophie einen eigenen Freund präsentieren zu können.

Küssen war nicht genug.

Romantik war hier im Reich der Dunkelheit zwischen Star Wars, Aschenbechern und Metalpostern nicht angesagt, das würde Apollo nicht beeindrucken.

Ich konnte selbstverständlich nicht mit ihm schlafen, denn dass ich noch Jungfrau war, kam einer körperlichen Behinderung gleich. Auf das erste Mal wollte ich besser vorbereitet sein. Lust als Grund für Sex erschloss sich mir ohnehin nicht. Irgendjemand hatte mir unter dem Pullover die Brüste gestreichelt und mich mit Fragezeichen in den Augen zurückgelassen.

Also habe ich Oralsex erfunden.

Dachte ich, weil ich nicht wusste, dass es ihn schon gab.

Die Pornos, die ich kannte, hießen Liebesgrüße aus der Lederhose, aber die waren ohne Schwanz und Muschi und fanden ausschließlich in Bayern statt. Im übrigen Land gab es offensichtlich keinen Sex. Die richtigen Filme, in den Regalen bei uns zu Hause, konnte ich mir nicht angucken, weil meine Mutter mitspielte. Bestimmt gab es auch welche ohne sie, aber die Gefahr, dass Mama als Statistin in einem Gangbang auftreten könnte, war mir einfach zu groß. Das Internet und die damit einhergehende Kenntnis von Praktiken wie Fistfuck, Analsex oder Gangbang waren noch Science-Fiction.

Weil ich es noch nie gesehen hatte und ich deswegen nichts davon wusste, gab es Blowjobs für mich einfach nicht. Ein Penis im Mund kam mir unmöglich vor, denn ich hatte ja noch nicht mal einen in der Hand gehabt. Es war so dermaßen unvorstellbar, dass das sicher bisher niemand gemacht haben konnte. Also fasste ich mir ein Herz und wagte mich vor.

Weil mir gar nicht klar war, dass die angestrebte Ziellinie ein Orgasmus war, hörte ich irgendwann einfach auf. Mein Unwissen spielte mir ungeplant in die Hände, denn Apollo wollte unbedingt, dass ich am nächsten Tag wiederkomme. Blasen war offensichtlich ein guter Kleber, der Menschen zusammenhielt.

Am Anfang war das Rummachen mit Apollo nur ein Spiel, denn in Wahrheit wollte ich mit Sophie zusammen sein. Aber ich brauchte einfach einen Freund, um dazuzugehören und mitreden zu können.

Leider hatte ich mir mit Apollo jemanden ausgesucht, der nicht soooo gerne unter Leuten war.

Als ich ihn auf einer von Sophies Schickimickipartys stolz präsentieren wollte, saß er schweigend in der Ecke und hasste alle.

Diese Art von Fest, vornehmlich von Mädchen ausgerichtet, feierte man in den 90ern, um ein Kleid und hohe Schuhe anziehen zu dürfen. Ab und zu brauchte man diese Partys, um zu zeigen, was sich unter der karierten Grungebluse in der Zwischenzeit gebildet hatte. Auch ich war unheimlich fein angezogen, um Apollo zu zeigen, wie ich aussehen würde, wenn ich kein Waisenkind, sondern reich und schick wäre.

»Sophie, das ist Apollo, Apollo, das ist Sophie.«

Apollo stand nicht auf, Sophie zog ihre Hand zurück.

»Was für reiche Schweine wohnen hier denn?«, wollte Apollo wissen.

Dass ich noch reicher und damit noch schweinischer war als Sophie, wusste er ja nicht.

»Meine Schweineeltern«, erklärte Sophie stolz, denn auch sie fand ihre Eltern unmöglich bescheuert.


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