Sie versuchten es, indem sie mir Pappkarten mit Gesichtsausdrücken zeigten und ich das Gefühl dazu benennen sollte. »Wütend«, antwortete ich unbewegt auf die Karte mit dem Zusammengezogene-Augenbrauen-Mann, den mein Vater für mich gemalt hatte.

»Richtig«, bestätigte mein Vater, trotzdem war er sehr unzufrieden mit mir. »Das Kind spricht, ohne eine Miene zu verziehen!« Er brüllte und warf frustriert die Gesichtskarten hin, um in sein Atelier zu gehen.

Meine Mutter übernahm, setzte sich zu mir auf den Boden und schaute mich nachdenklich an.

»Luzy, weißt du eigentlich, was Gefühle sind?«

»Wütend, traurig, eklig, Angst, glücklich, müde?«, zählte ich ohne Anteilnahme auf.

»Wenn ich schauspiele, dann will ich, dass mir die Leute glauben, dass ich auch wirklich das meine, was ich sage. Ich muss die Sachen richtig betonen, also traurig oder neugierig oder interessiert. Dazu muss ich das dann entweder richtig fühlen oder so tun als ob …«

In diesem Moment kam mein Vater ins Zimmer, packte meine Mutter und gab ihr eine schallende Ohrfeige, dann schaute er mich prüfend an. Bevor ich mich regen konnte, schlug meine Mutter zurück. Zackzackzackzack, so ging das eine Weile zwischen meinen Eltern hin und her.

»… und dann hast du ganz doll angefangen zu weinen! Weil du begriffen hast, wie man Angst ausdrückt! Und wir haben uns wie verrückt gefreut, dein Vater und ich, weil du nicht autistisch warst, sondern einfach ein bisschen langsam. Das war zwar brutal, aber stell dir mal vor, was heute mit dir los wäre, wenn damals nicht der Knoten geplatzt wäre?«

Vielleicht wäre es einfach ruhiger.

Gott sei Dank kann ich mich an dieses Ereignis nicht erinnern. Aber es wird schon irgendwie so gewesen sein, denn umsonst verschönert meine Mutter sicher keine Keilerei zwischen ihr und meinem Vater. Während er an Destruktivität nicht zu überbieten ist, schafft meine Mutter es noch, einem vollgekackten, umgefallenen Bauzaun etwas Schönes abzugewinnen.

»Schau, wie toll! Die Natur findet immer ihren Weg.«

Eins ist sicher, heute achte ich darauf, wie ich und andere Emotionen ausdrücken.

Wenn Gefühle schon wie Unfälle einfach in einen reinrauschen, dann ist es nur gut, wenn sie wenigstens eindeutig geäußert werden. Man will ja verstanden werden.

»Sind Sie vorbestraft?«, fragt mich der Polizist, der mich wegen der Körperverletzung von Jonas Dunker verhaftet hat.

»Ja, wegen Grabschändung, aber das war vor zehn Jahren, das ist inzwischen bestimmt gelöscht.« Beschwichtigend, ruhig und kontrolliert vorgetragen. Ich schaue ihn prüfend an und bin mir sicher, dass ich ihn emotional erreicht habe, denn: er starrt.

Gut, ein Grab zu schänden klingt auch einfach schlecht, und es passiert nicht mal eben so nebenbei. Es ist ein Ritual, das geplant werden muss. Langfristiger als Schubsen. Zumindest glaubt man das. Aber bei mir war es nicht so. Es war fast noch »unfalliger« als das Schubsen.

Das Einzige, was meine ganz persönliche Grabschändung mit einer normalen gemein hatte, war meine Besessenheit.

Ich war besessen von Liebe. Es ist also derselbe Grund, wegen dem ich heute hier im Polizeiauto sitze. In zehn Jahren hat sich nix geändert.