Es ist nicht das erste Mal, dass ich verhaftet werde. Aber dieses Mal ist es salonfähiger.
Vor zehn Jahren war es wegen Grabschändung. Heute ist es nur Körperverletzung.
Jemand anderem einen Arm zu brechen kann schon mal passieren, im Affekt. Besonders wenn der Geschubste unglücklich fällt. Man spricht dann von einem Unfall. Wie wenn zwei Autos ineinanderrasen, ohne dass jemand das absichtlich wollte. Dann steigt man aus, guckt sich den Schaden an, rechnet, denn sehr wahrscheinlich ist man schuld.
Ich bin in der Erwartungshaltung, jederzeit verhaftet zu werden, auch ohne Auto, denn ich bin die Verantwortliche.
Ehrlicherweise muss man zugeben, dass der gebrochene Arm von Jonas kein richtiger Unfall war. Mir war klar, dass das IKEA-Expeditregal über ihm zusammenbrechen würde, wenn ich ihn mit Schwung dagegenschubse. Ich kenne das Ding gut. Ich habe es selber in die Wohnung geschleppt und zusammengeschraubt. Es war schwer und von sehr schlechter Qualität, denn ich hatte es in der Fundgrube gefunden. Das ist der Ort bei IKEA vor den Kassen, wo die Gegenstände einen eigenen Preis haben. So ein selbstgemalter. Einer ohne Barcode, so dass der Mensch an der Kasse nicht wissen kann, ob die Zahl vor dem Eurozeichen zu dem Möbel gehört, das man kauft. Also hab ich den Preis vom Expeditregal gegen den Preis von Fundgrubenbettwäsche ausgetauscht. Das machte das blöde Ding gleich noch mal um acht Prozent günstiger.
Ich hab genug Geld. Nicht nur ausreichend, sondern richtig viel.
Das Austauschen von hohen gegen niedrige Preisen ist eine politische Sache, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Sie macht das, um Ausbeuterkonzerne wie H&M und IKEA in den Ruin zu treiben.
»Luzy, schau mal, dieses Ding kann unmöglich nur zehn Euro kosten. Dass da kein Kinderfinger mit eingenäht worden ist, wundert einen.« Wütend beißt sie dann das Plastik-T, das den Dumpingpreis am Oberteil festhält, zusammen, fiddelt das T, das jetzt ein L ist, durch das vorgestanzte Loch hindurch, findet einen noch günstigeren Artikel, wiederholt dann das Ganze und tauscht schließlich die Preise aus.
»Wir könnten es doch auch teurer machen?« War mein Vorschlag, der nur durch einen ironischen Blick aus dem Augenwinkel erwidert wird.
»Sei nicht so naiv. Nur wenn die Minus machen, fangen sie an nachzudenken. Dann müssen sie einfach alles insgesamt teurer machen, damit kein Verlust entsteht, wenn wir die Schilder immer noch austauschen. Dann können wir die Sachen ja nicht mehr billiger machen, weil alles den Preis hat, den es verdient. Das Plus in der Kasse geht dann an die armen ausgebeuteten Arbeiter!«
Einfach: Nein. Aber was soll’s.
Soll sie doch daran glauben, die platinblonde Mama, die monatlich durch das Färben ihres grau gewordenen Haaransatzes die Gewässer dieser Welt vergiftet. Wie soll man es auch richtig machen, politisch korrekt zu leben ist unmöglich. Ich bin ein wandelndes Verbrechen, auch ohne jemandem den Arm gebrochen zu haben.
Ich wusste, was ich tat. Ich hab Jonas extra geschubst. Aus Wut und um ihm doll weh zu tun. Trotzdem war es keine Absicht, denn der Unfall an dem Ganzen war mein Gefühl. Das raste einfach in mein Herz, wie ein Auto bei Aquaplaning. Ich hatte keine Kontrolle mehr, und dann passierte es einfach.
Dass ich nicht Herr meiner Gefühle bin, war nicht immer so.
Ich komme aus einer Familie, in der es sehr emotional zugeht. Mein Vater ist Maler. Berühmt wurde er mit einer Serie von Aktbildern, die er von meiner Mutter gemacht hatte.
Sein frühes Werk zeigt aber nicht nur eine nackte Frau. Eigentlich sind es eher Porträts ihrer Muschi mit restlichem Körper dran. Das war politisch.
Meine Eltern haben sich bei irgendeinem NACKT/KUNST/EVENT kennengelernt. Meine Mutter hatte zu dieser Zeit unter dem Namen Lizzy Lollipop Pornos gedreht. Nicht so soft wie Emmanuelle, aber fast so kultig. Die Lollipop-Filme waren vor den Bildern meines Vaters einfach nur schmuddelig. Aber Papas Gemälde warfen ein anderes Licht auf Mamas Pornos.
»Und dann wurde das, was vorher einfach nur Ficken war, auf einmal Kunst, ist das nicht lustig?« Mama findet es lustig.
Die beiden zogen in eine große Villa. Meine Mutter wurde schwanger, ihre riesigen Pornobrüste bekamen eine andere Aufgabe. Ich wurde geboren, und dann war die Beziehung meiner Eltern vorbei. Vielleicht hatten sie einfach alle Gefühle füreinander verbraucht, bestimmt auch meine, denn ich zeigte als Kind keine emotionalen Regungen irgendeiner Art. Kein Weinen, kein Lachen. Es war nicht so, dass ich still war, ich machte schon Geräusche, auch laute, aber eben offensichtlich ohne einen erkennbaren emotionalen Bezug.
»Ahhhh.« Kann auch einfach monoton sein.
»Vielleicht ist die Luzy ein bisschen autistisch«, meinte mein Kinderarzt. Er riet meinen Eltern, mir das Fühlen »expressiv« beizubringen. »Sie sind doch kreative Menschen, Ihnen fällt bestimmt was ein.«