Wissenschaftliche Beiträge
aus dem Tectum Verlag
Wissenschaftliche Beiträge
aus dem Tectum Verlag
Reihe: Literaturwissenschaft
Band 41
Peter Weiss’ Stück „Die Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust
Tectum Verlag
D 188
Midori Takata
Peter Weiss’ Stück „Die Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust
© Tectum Verlag Marburg, 2016
Zugl. Diss. Freie Universität Berlin 2015
ISBN: 978-3-8288-6422-1
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3767-6 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlagabbildung: Akademie der Künste, Berlin, Peter-Weiss-Archiv, Nr. 2787_20
Umschlaggestaltung: Mareike Gill | Tectum Verlag
Satz und Layout: Mareike Gill | Tectum Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Danksagung
Diese Arbeit wurde im SS 2015 an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für die Drucklegung überarbeitet.
An erster Stelle möchte ich mich bei Frau Professorin Dr. Irmela von der Lühe für die gute wissenschaftliche Betreuung bedanken. Ohne ihre begleitenden Gespräche wäre es unmöglich, im für mich fremden Land diese schwierige Aufgabe, eine Dissertation zu schreiben, fortzuführen. Mein Dank gebührt ihr für die produktiven Kolloquien, die mir immer neue Impulse gegeben und mich zum weiteren Schreiben motiviert haben. In diesem Kontext bedanke ich mich auch bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien für die konstruktiven Fragen und Kommentare.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei Frau Professorin Dr. Gesa Dane, die sich die Zeit nahm die vorliegende Arbeit zu lesen und das Zweitgutachten zu schreiben, und bei den anderen Mitgliedern der Promotionskommission Herrn Professor Dr. Hans Richard Brittnacher, Herrn Professor Dr. Jürgen Brokoff und Dr. Bastian Schlüter.
Des Weiteren gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Thomas Pekar an der Gakushuin Universität Tokyo dafür, dass er seit dem Bachelor immer meine Beschäftigung mit der Holocaustliteratur unterstützt. Herzlichen Dank möchte ich ihm für die Korrektur der grundsätzlichen Erkenntnisse der deutschen Sprache und die inhaltlichen kritischen Kommentare in allen verschiedenen Phasen ausrichten.
Ein großer Dank gilt der Akademie der Künste, wo ich die unveröffentlichten Materialien untersuchen konnte. Dabei habe ich von Herrn Professor Dr. Jürgen Schutte oftmalig die Genehmigung der Kopie der Materialien bekommen. Vielen, herzlichen Dank dafür.
Nicht zuletzt bedanke ich mich bei dem DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst), dessen dreieinhalbjähriges Promotionsstipendium den Aufenthalt in Berlin unterstützte, der für mein Leben eine so bedeutsame Phase geworden ist, und die Fertigstellung der Dissertation ermöglichte.
Dieses Buch ist allen Personen gewidmet, die mich auf meinem bisherigen Weg ermutigt und unterstützt haben.
Midori Takata
Inhaltsverzeichnis
1Einleitung
1.1Das kulturelle Gedächtnis
1.2Übersicht über die Arbeit
2Erinnerung an den Holocaust und „Die Ermittlung“
2.1Der Erinnerungsort „Auschwitz“ und Peter Weiss
2.2Die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust
2.2.1Politisch-justizielle Kontexte
2.2.2Künstlerisch-literarische und mediale Kontexte
3Weiss’ Stück „Die Ermittlung“ in den Diskussionen in Deutschland
3.1Diskussionen über die Form des Dramas. Die „Divina Commedia“ und das Dokumentartheater
3.2Vergleiche zwischen Aussagen aus dem Stück „Die Ermittlung“ und den historischen Dokumenten
3.3Diskussion um „Konzentrat von Aussagen“
3.4Weiss’ politische Aussagen und die öffentlichen Diskussionen
4Die Problematik der „Austauschbarkeit“
4.1Kritiken aus den USA
4.2Die Problematik der „Austauschbarkeit“ in den Diskussionen
4.2.1Die Problematik der „Austauschbarkeit“ – Interpretationen in den 1960er-Jahren
4.2.2Die Diskussionen um die „Austauschbarkeit“ in den 1980er-Jahren
4.2.3Rollenwechsel als Verfremdung
4.2.4Die Diskussion um die „Austauschbarkeit“ und Weiss’ Judentum
5Das Spannungsfeld zwischen Weiss’ Judentum und seiner politischen Stellung
5.1Antithetik in den Notizbüchern
5.1.1Entwicklung der Antithetik in den Notizbüchern
5.1.2Jüdische Opfer
5.2Die Thematisierung Trotzkis
5.2.1Weiss’ Beschäftigung mit dem Marxismus
5.2.2Die jüdische Thematik bei den marxistischen Revolutionären und bei Weiss
5.2.3Trotzki und das Judentum aus Weiss’ Perspektive
5.3Die Frage danach, was ein Jude sei.
5.4Das Judentum als Motiv im literarischen Werk
5.4.1Die Figur der Mutter
5.4.2Ein biografisches Motiv
6Die Wirkung des Stückes in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust – Die Diskussionen um „Austauschbarkeit“ nach den 1980er-Jahren
6.1Die Entwicklung des Rollenwechsels
6.2„Die Berliner Ermittlung“ von Esther und Jochen Gerz
6.3Nachwirkungen dieses Projekts „Die Berliner Ermittlung“
6.4Diskurs nach der Wiedervereinigung von Deutschland
7„Die Ermittlung“ im Werkkontext von Peter Weiss
7.1„Meine Ortschaft“ und die Entstehung des Stückes „Die Ermittlung“
7.2Sprache und Bilder bei Weiss
7.2.1Filmisches Erzählen beim Text „Meine Ortschaft“
7.2.2„Die Ermittlung“ im Fernsehen
7.2.3„Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“
7.2.4Ekphrastische Methode
7.3Die Stücke „Inferno“ und „Die Ermittlung“
7.3.1Die Problematik „Austauschbarkeit“ im Stück „Inferno“
7.3.2„Dante/Weiss Inferni“
8Schlussdiskussion
8.1Das Stück „Die Ermittlung“ in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust
8.2Darstellbarkeit des Holocaust
8.3Weiss’ Identität
8.4Das Stück „Die Ermittlung“ im Werkkontext von Peter Weiss
8.5Die Verantwortung des Einzelnen und des Systems
Zur Transkription der originalen Notizbücher von Peter Weiss
Literaturverzeichnis
1Einleitung
Anlässlich des 50. Jahrestages des Frankfurter Auschwitz-Prozesses führten das Frankfurter Autoren Theater und das Gallus Theater vom 6. bis zum 8. November 2013 die szenische Collage „Prozess Auschwitz Peter Weiss“ auf. Die Collage besteht aus vier Teilen: Im ersten Teil geht es um den Text „Meine Ortschaft“, den Weiss über seinen Besuch in Auschwitz-Birkenau, den er Mitte Dezember 1964 unternommen hatte, schrieb. Der zweite Teil stammt aus dem Stück „Die Ermittlung“, das Weiss 1965, basierend auf den Berichten des Auschwitz-Prozesses, verfertigt und als dritten Teil seines „Divina Commedia“-Projekts konzipiert hatte. Der dritte Teil ist eine Collage des Romans „Die Ästhetik des Widerstands“ und der vierte Teil besteht aus dem Stück „Inferno“, das der erste Teil des „Divina Commedia“-Projekts ist und nach dem Tod von Peter Weiss erst 2008 uraufgeführt wurde. Diese Collage ist ein Beispiel für die Tendenz, die vor allem in den 2000er-Jahren bestand, nämlich „Die Ermittlung“ mit anderen Werken von Weiss zusammenzustellen und so den Auschwitz-Komplex darzustellen.
Im Prospekt dieser Collage1 wird „Die Ermittlung“ zum „Standardrepertoire des Nachkriegstheaters“ gezählt und in der Weise hochgelobt, dass Weiss „dem Auschwitz-Prozess ein literarisches Denkmal“ gesetzt habe. Ein anderes Beispiel der positiven Bewertung des Stückes findet man im Jüdischen Museum Berlin. Dort werden Fotos der Aufführung des Stückes an der Freien Volksbühne Berlin aus dem Jahre 1965 gezeigt. Das bedeutet, dass „Die Ermittlung“ als ein repräsentatives Stück bzw. als Teil des kulturellen Gedächtnisses des Holocaust anerkannt ist.
Einige Absichten von Weiss sind bemerkenswert: Er stellt die Verbrechen der Nationalsozialisten als Taten von Menschen dar, während es diskutiert wurde, ob ein Geschehen wie Auschwitz überhaupt auf der Bühne behandelt werden könnte und die Mehrheit der Massenmedien Adolf Eichmann dämonisierte. Weiss hatte noch 1964 bezweifelt, ob eine literarische Darstellung der Judenvernichtung überhaupt möglich sei. Als er aber am 13. März 1964 den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main besuchte, wurde ihm klar, dass sich diese Taten doch beschreiben ließen, „da es Taten sind, von Menschen begangen, an Menschen auf dieser Erde“.2
Wie kyann man ein Geschehen wie Auschwitz auf der Bühne darstellen? Weiss antwortete weiter in einem Interview folgendermaßen:
Alles liegt nur im Dialog, und das Wort muss so stark wirken, dass im Zusammenprall von Worten, von Fragen und Antworten, die ganze Dramatik liegen muss.3
In einer Anmerkung zu seinem Stück schreibt er auch, dass „auf der Bühne nur ein Konzentrat der Aussage übrig bleiben“ kann.4 Was Weiss versuchte, war, mit Dialogen dieses Konzentrat der Aussage zu bilden.
Als das Stück uraufgeführt wurde, wurde es als sozialistisches Propagandastück heftig kritisiert, und damals hätte man wohl kaum gedacht, dass dieses Stück einmal als ein solches repräsentatives Beispiel genannt wird oder Hinweise darauf im Jüdischen Museum zu finden sind. Deshalb soll hier die Frage gestellt werden, wie die Diskussionen um dieses Stück sich entwickelt haben und welche Rolle es genauer im Hinblick auf die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust spielt.
1.1Das kulturelle Gedächtnis
Um diese Erinnerungsgeschichte zu untersuchen, baut die vorliegende Arbeit auf dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses auf, in dem die Literatur eine wichtige Funktion hat. Peter W. Marx fasst im Zusammenhang mit diesem kulturellen Gedächtnis wichtige Forschungsergebnisse zusammen.5 Er spricht über die Antike, über Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, und den griechischen Dichter Simonides6, über den Cicero erzählt.7 Das von der Antike aufgeworfene Thema Gedächtnis und Erinnerung entwickelt sich im 20. Jahrhundert weiter; nun liegt der Schwerpunkt auf dem individuellen Gedächtnis und der individuellen Erinnerung. Ein wichtiges Modell stellt der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs 1950 in seinem Buch „Das kollektive Gedächtnis“ vor, in dem er das Wechselverhältnis von individuellem Gedächtnis, Erinnerung und sozialen Strukturen behandelt.8 Halbwachs zufolge setzt Erinnerung Gesellschaft bzw. eine soziale Struktur voraus.9 Marx führt dazu aus:
Halbwachs’ Konzept stellt einen Wandel innerhalb der Theorien zur kulturellen Erinnerung/Gedächtnis dar, weil seine Bestimmung der Erinnerung als sozial geprägte (Re-)Konstruktion nicht zurückgeführt wird auf biologische oder psychische Prozesse, sondern auf soziale Kohärenzkonstruktionen. Damit legt Halbwachs ein Modell des Kollektivgedächtnisses vor, das dieses nicht nur als Analogon zum individuellen Gedächtnis versteht.10
Der Ägyptologe Jan Assmann und seine Frau, die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, führen Halbwachs’ Theorie weiter.11 Aleida Assmann definiert das Gedächtnis so, dass es auf einer symbolisch vermittelten Grundlage basiere, welche individuell verarbeitet werde. Dieses Gedächtnis bewahre Erinnerung länger auf als das individuell-soziale Gedächtnis12 oder das politisch-kollektive13. Assmann unterscheidet unter den Medien des kulturellen Gedächtnisses Artefakte (wie Texte, Bilder, Skulpturen), räumliche Kompositionen (wie Denkmäler, Architektur, Landschaften) sowie zeitliche Ordnungen (wie Feste, Brauchtum, Rituale).14 Durch diese Medien werde vermittelt, welche Bedeutungen das erinnerte Geschehen oder die erinnerten Personen in der jeweiligen Gegenwart haben. Es ist charakteristisch, dass das kulturelle Gedächtnis mit der historischen, literarisch-künstlerischen und politischen Bildung eng verbunden ist und die Identität der zu der jeweiligen Kultur gehörenden Individuen beeinflusst.
Der Begriff für diese existentielle und verbindliche Teilhabe am kulturellen Gedächtnis heißt „Bildung“. Bildung übersteigt die Prägungen, die durch Herkunft, Erfahrung und politische Gruppierungen empfangen werden. Sie bedeutet Teilhabe an gemeinsamer Identität unter Einschluß und Aktivierung individueller Spielräume.15
Das kulturelle Gedächtnis besteht aus „individueller Wahrnehmung, Wertschätzung und Aneignung, wie sie durch die Medien, durch kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen vermittelt werden.“16 Im Vergleich mit dem politischen Gedächtnis, das zur Vereinheitlichung und Instrumentalisierung tendiert, ist für das kulturelle Gedächtnis eine Vielzahl an Deutungen charakteristisch. Das kulturelle Gedächtnis muss, bei der Vielfalt der individuellen Standpunkte und Erfahrungen, immer neu vermittelt werden.17
Assmann erläutert das kulturelle Gedächtnis weiter durch zwei Gedächtnistypen, nämlich das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis übernimmt Sicherungsformen der Wiederholung; dazu gehören beispielsweise Traditionen, Riten und Kanonisierungen von Artefakten. Beim Speichergedächtnis geht es um Sicherungsformen der Dauer; Beispiele dafür sind Bücher, Bilder, Filme, Bibliotheken, Museen und Archive. Assmann legt begrifflich fest, dass das Speichergedächtnis das kulturelle Archiv sei, „in dem ein gewisser Anteil der materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt wird, nachdem diese ihre lebendigen Bezüge und Kontexte verloren haben.“18 Die Dynamik zwischen dem Speicher- und Funktionsgedächtnis erläutert Assmann folgenderweise:
Aus dem vom Willen und Bewusstsein ausgeleuchteten „aktiven“ Funktionsgedächtnis fallen beständig Elemente ins Archiv zurück, die an Interesse verlieren; aus dem „passiven“ Speichergedächtnis können neue Entdeckungen ins Funktionsgedächtnis heraufgeholt werden.19
Nach dieser Definition ist beispielsweise das Theater Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, das den geschriebenen Text als „passives“ Speichergedächtnis und „aktives“ Funktionsgedächtnis hat. Gerald Siegmund kritisiert schon 1994 dieses seiner Meinung nach zu enge Verständnis des Theaters als Gedächtnisspeicher. Er schreibt:
In der radikalen Gegenwärtigkeit des Theaters entsteht das, was dargestellt werden soll, erst im Moment der Darstellung. Das Gedächtnishafte des Theaters liegt dann nicht mehr in der Wiederholung und Verdoppelung von ihm vorgängigen Tatsachen, sondern in der Wiederholung von noch nicht Dagewesenem.20
Darüber hinaus gibt Siegmund mithilfe der Definition des Gedächtnisses von Renate Lachmann eine funktionale Differenzierung zwischen dem „informativen“ und dem „kreativen“ Gedächtnis. Am Beispiel des Stückes „Die Ermittlung“ kann man diese Dynamik des kulturellen Gedächtnisses beobachten. Einerseits gibt es ein Gedächtnis, nämlich den geschriebenen Text, der aus unterschiedlichen Aussagen der Zeugen und Weiss’ literarischer Bearbeitung besteht. Andererseits gibt es Inszenierungen, die zu allen Zeiten unterschiedliche Schwerpunkte und Interpretationen dieses Stückes geben und somit bestimmte Dynamiken zeigen.
1.2Übersicht über die Arbeit
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit fünf Leitfragen. Die erste Aufgabe ist es, einen Überblick über die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust zu geben und die Frage nach der Bedeutung des Stückes „Die Ermittlung“ in ihr zu stellen. Dabei wird berücksichtigt, dass Weiss das Wort „Holocaust“, das erst in den 1970er-Jahren verbreitet wurde, nicht benutzt, sondern vielmehr das Wort „Auschwitz“ verwendet. „Auschwitz“ bedeutet für Weiss allerdings nicht, wie heute im Sprachgebrauch üblich, den Ort der Judenvernichtung, sondern den Ort des universalen Bösen. Um Weiss’ Stellung genau zu betrachten, wird zuerst eine Übersicht über die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust im politisch-justiziellen Kontext und im künstlerisch-literarischen Kontext gegeben. Bei der Betrachtung des politisch-justiziellen Kontextes wird sichtbar gemacht, welchen neuen Aspekt der Auschwitz-Prozess ermöglicht und wo seine Grenze liegt. Im künstlerisch-literarischen Kontext wird analysiert, wie das später „Holocaust“ genannte Thema in der deutschen Literatur behandelt wird. In dieser Erinnerungsgeschichte spielt „Die Ermittlung“ eine wichtige Rolle: Das Drama spiegelt einerseits die Veränderungen der Gesellschaft in den 1960er-Jahren wider, zu der auch der Auschwitz-Prozess beiträgt; andererseits geht das Stück mit seiner Einsicht, dass die Frage zu untersuchen sei, welches System überhaupt die Verfolgungen und die Ermordungen durch die Nationalsozialisten ermöglicht hat, seiner Zeit voran.
Die zweite Frage ist, wie das Stück „Die Ermittlung“ rezipiert und diskutiert wurde. Unmittelbar nach den Uraufführungen wurde es mit Zitaten von Weiss’ politischen Aussagen in Westdeutschland heftig als pro-sozialistische Propaganda kritisiert. Seine dokumentarische Methode wurde in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich bewertet. Das Stück stand ganz wesentlich in der Spannung des Ost-West-Konflikts. In diesem Zusammenhang wird genauer betrachtet, welchen Charakter „Die Ermittlung“ hat.
In den 1980er-Jahren entstanden scharfe Kritiken gegen das Drama in den USA. Es wurde besonders bemängelt, dass Weiss Auschwitz nicht als jüdisches Thema definiere und dass es im Stück um eine „praktische Austauschbarkeit“ zwischen den Häftlingen und den Wächtern gehe. Diese Problematik kann man schon 1965 in einem Kommentar über Palitzschs Uraufführung in Stuttgart finden, in der die Angeklagten und Zeugen von den gleichen Schauspielern dargestellt wurden. Aber damals war dies nicht das Hauptthema der Diskussion. Die 1980 von Thomas Schulte-Michels auf die Bühne gebrachte Inszenierung wird Anlass der Thematisierung der Problematik „Austauschbarkeit“. Seitdem wird diese Problematik im Zusammenhang mit der Frage nach Weiss’ Identität analysiert.
Die dritte Frage ist demnach, ob Weiss’ Intention in der Tat eine solche „Austauschbarkeit“ ist. Um diesen Punkt zu klären, wird das Spannungsfeld zwischen Weiss’ Judentum und seiner politischen Stellung thematisiert. Dabei werte ich seine unveröffentlichten und veröffentlichten Notizbücher und auch andere seiner Nachlass-Texte aus. Das Thema, das in den Diskussionen und Aufsätzen „Austauschbarkeit“ genannt wird, erörtere ich im Kontext dieser Nachlassmaterialien.
Die Spannung zwischen Weiss’ politischer Gesinnung und seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Thematik kann man bei seiner Beschäftigung mit dem Stück „Trotzki im Exil“, das 1970 uraufgeführt wurde, gut erkennen. Hier zeige ich, dass Weiss, anders als die Trotzkisten, Trotzkis politische Stellung kritisch bewertet und vor allem, wie Trotzki für Weiss eine sehr wichtige Figur ist, da er als Jude von allen möglichen Gegnern verfolgt wird. Dabei wird auch thematisiert, wie die jüdische Problematik bei führenden Kommunisten und Sozialisten, wie Lenin, Stalin, Trotzki und Rosa Luxemburg, diskutiert wird. Diese Sichtweisen beeinflussen auch Weiss’ Konzeption des „Jüdischen“.
Anschließend wird darauf genauer eingegangen. Das Stück „Trotzki im Exil“ ist für Weiss Anlass zu einer weiteren und intensiven Beschäftigung mit seiner eigenen Verbindung zum Judentum. Ab 1972 nimmt er das jüdische Thema im Kontext seiner Herkunft auf. Die Untersuchung seiner unveröffentlichten und veröffentlichten Notizbücher zeigt die Veränderung seiner Stellungnahme vom „Weltbürger“ zu „Jude + Ausländer“. In der Phase der Arbeit an der „Ästhetik des Widerstands“ beschäftigt er sich schließlich auch mit dem jüdischen Thema als literarischem Motiv. Dabei ist es charakteristisch, dass er dies primär unter biografischen Aspekten unternimmt.
Wie ich aufzeige, ist eine Kritik unangemessen, die behauptet, dass Weiss in der „Ermittlung“ eine „praktische Austauschbarkeit“ zwischen den Häftlingen und den Wächtern behaupte. Aber die Diskussionen um einige Inszenierungen in den 1990er- und 2000er-Jahren zeigen, dass diese Interpretation sozusagen eine eigene Tradition bildet. Die vierte Frage ist, wie „Die Ermittlung“ nach dem Mauerfall inszeniert wurde. Dabei stehen die Diskussionen um die Inszenierung von Esther und Jochen Gerz 1998 und die Inszenierung von Kathrin Mädler 2009 im Mittelpunkt, in denen die „Austauschbarkeit“ die Hauptrolle spielt und der Rollenwechsel positiv bewertet wird. Dieses Phänomen wird im Zusammenhang mit dem Diskurs über den Holocaust nach der deutschen Wiedervereinigung analysiert. „Die Ermittlung“, als Teil des kulturellen Gedächtnisses an den Holocaust, weist auch darauf hin, dass sich dieses Gedächtnis unabhängig von der Aussage des Autors entwickelt und wandelt.
Noch eine weitere Tendenz, die in den 2000er-Jahren einsetzt, ist zu erwähnen, nämlich diejenige, „Die Ermittlung“ mit anderen Werken von Weiss zusammenzustellen. Dabei werden der Text „Meine Ortschaft“, das Stück „Inferno“ und der Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ miteinander verbunden. Dabei handelt es sich um Texte, in denen Weiss versucht, verschiedene Medien, wie Filme oder Bilder bzw. Gemälde, mit der Literatur zu verbinden und auf diese Weise die Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten auf verschiedenen Ebenen und vermittels verschiedener Medien darzustellen. Im Werkkontext von Peter Weiss wird „Die Ermittlung“ weiter unter dem Aspekt ihrer Entstehung, der Problematik der Austauschbarkeit zwischen Täter und Opfer und der Frage nach der eigenen Identität von Peter Weiss selbst betrachtet.
In diesem Kontext wird die fünfte und letzte Frage gestellt, wie Weiss sich mit dem Thema Sprache und Bilder beschäftigt. Um diesen Punkt zu analysieren, untersuche ich, neben Weiss’ Rede „Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“21, die er 1965 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises hielt und in der es hauptsächlich um dieses Thema des Verhältnisses von Sprache und Bild geht, das filmische Erzählen, das im Text „Meine Ortschaft“ und im Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ auftaucht. Auch ist in diesem Zusammenhang Weiss’ Versuch zu erwähnen, „Die Ermittlung“ nicht nur auf der Bühne aufzuführen, sondern auch als Fernsehprogramm zu inszenieren. Anschließend untersuche ich weiter die ekphrasische Methode im Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ und im Stück „Inferno“, das der erste Teil des „Divina Commedia“-Projekts ist und erst 2003 veröffentlicht wird. Hier gehe ich auch auf eine Vorlesung von der italienischen Regisseurin Agnese Grieco mit dem Titel „Dante/Weiss Inferni“ ein, die sie im Februar 2014 in Berlin auf Deutsch und Italienisch hielt. Diese Veranstaltung ist ein Beispiel für die transnationale Tendenz, die etwa ab 1990 in Hinsicht auf die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust zu beobachten ist.
1http://www.gallustheater.de/2013/11/prozess.php (01.03.2015)
2Peter Weiss: Notizbücher 1960 – 1971. Frankfurt am Main 1982, S. 226.
3Sinn und Form. In: Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt am Main 1986, S. 74.
4Weiss, Die Ermittlung, S. 9. In: Werke in sechs Bändern. Bd. 5. Frankfurt am Main 1991, S. 7 – 199.
5Peter W. Marx: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi. (Diss. Tübingen) 2003, S. 137 – 169.
6Simonides trug ein Gedicht bei einem Festmahl von Skopas vor. Da die Namen der Götter Kastor und Pollux fehlten, zahlte Skopas nur die Hälfte der Summe für das Loblied. Wenig später verließ Simonides das Festmahl, weil er draußen zwei Männer treffen wollte. Nachdem Simonides gegangen war, stürzte das Dach des Saals ein und Skopas und die anderen Gäste starben. Simonides konnte anhand der Sitzordnung die unkenntlichen Leichen identifizieren.
7Marcus Tulius Cicero: De oratore. Über den Redner. Stuttgart 2010, S. 431 ff.
8Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1991.
9Halbwachs, S. 14 – 26. Abschnitt „Von der Möglichkeit eines strikt individuellen Gedächtnisses“
10Marx, S. 149.
11Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997.
12Vgl. Aleida Assmann und Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit. Stuttgart, 1999. Das individuelle Gedächtnis bezeichnet Assmann als das „kommunikative Gedächtnis“. Auch Assmann erklärt, dass das individuelle Gedächtnis primär durch Kommunikation gebildet werde. Infolgedessen nennt Assmann dieses Gedächtnis „kommunikatives Gedächtnis“. Im Jahr 2006 definierte Assmann erneut die Gedächtnisformationen. Nach dieser Definition gibt es zwei Grundlagen für die Gedächtnisbildung, wovon eine biologisch funktioniere und die andere symbolisch vermittelt werde. Das kommunikative Gedächtnis basiere auf biologischen Grundlagen. Assmann unterscheidet zwischen dem „individuellen Gedächtnis“, welches neuronal gebildet, und dem „sozialen Gedächtnis“, welches kommunikativ gebildet werde. Diese zwei auf das Individuum bezogenen Formen werden hauptsächlich im Zeitraum von drei Generationen übermittelt und gehen durch den Generationswechsel nach 80 – 100 Jahren verloren.
13Während das individuelle und das soziale Gedächtnis mit der Zeit verloren gehen, bleibt das kollektive Gedächtnis bestehen. Der Träger dieses Gedächtnisses ist das Kollektiv. In einer erweiterten Definition bezeichnet Assmann dieses Gedächtnis auch als das „politische Gedächtnis“, das auf symbolisch vermittelter Grundlage kollektiv bewahrt werde. Assmann teilt dieses politische Gedächtnis weiter ein in „Siegergedächtnis“, „Verlierergedächtnis“, „Tätergedächtnis“ und „Opfergedächtnis“. Bei der Erinnerung an den Holocaust ist das Gedächtnis also in Täter- und Opfergedächtnis zu unterteilen. Neben dem Holocaust wurde das Opfergedächtnis in Hinsicht auf den Bombenkrieg und die Vertreibung aus dem Osten diskutiert. Literarische Beispiele, in denen es um Versuche der Deutschen geht, selbst in diese Opferrolle einzurücken, sind etwa „Luftkrieg und Literatur“ (1999) von W. G. Sebald oder „Im Krebsgang“ (2002) von Günter Grass.
14Assmann, 1999, S. 49.
15Ebd. S. 51 f.
16Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. München, 2006, S. 57.
17Assmann, 2006, S. 58.
18Ebd. S. 57.
19Ebd. S. 57.
20Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas. (Diss. Tübingen) 1994, S. 76.
21Peter Weiss: Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache. In: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 170 – 187.
2Erinnerung an den Holocaust und „Die Ermittlung“
Das Wort „Holocaust“ wurde erst gegen Ende der 1970er-Jahre durch die amerikanische Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ verbreitet.22 Als Peter Weiss 1965 das Drama „Die Ermittlung“ schrieb, gab es noch nicht die Bezeichnungen „Holocaust“ oder „Shoa“, die die Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten bedeuten.23 Weiss benutzt weder das Wort „Holocaust“ noch das Wort „Shoa“, sondern verwendet das Wort „Auschwitz“ in seinen Notizbüchern, mit den oben genannten semantischen Abweichungen.
Was spielt das für eine Rolle wie die Orte aussehn, überall das Gleiche, das universale KZ, Auschwitz, Dresden, Verdun, Hiroshima, Armeniermord usw. –
wir leben in einer einzigen Grabkammer, reisst sie nieder, reisst sie endlich nieder, dass wir atmen können –24
Für Weiss sind alle Katastrophen, die er in dieser Notiz z. T. mit Ortsnamen belegt, gleich. Das Wort „Auschwitz“ ist somit nur einer von vielen Namen, die das universale Böse markieren.
Um diesen Punkt zu analysieren, ist es sinnvoll, dass man den Begriff „Erinnerungsort“ verwendet, wie dies auch in neueren Forschungen (etwa zu „deutschen Erinnerungsorten“)25, die unten erwähnt werden, geschehen ist.
2.1Der Erinnerungsort „Auschwitz“ und Peter Weiss
Der Begriff „Erinnerungsort“ wird in dem Projekt „Les lieux de mémoire“ von dem französischen Historiker Pierre Nora entwickelt. In diesem von 1984 bis 1992 dauernden Projekt erforscht Nora zusammen mit anderen Wissenschaftlern insgesamt 130 Erinnerungsorte. Diese historiografisch-kulturwissenschaftliche Forschung zielt auf eine neue Möglichkeit, nationale Perspektiven zu überwinden.
Bei diesem Projekt behandeln Nora und andere Frankreich nicht als etwas Einheitliches. Sie versuchen vielmehr aufzuklären, wie die verschiedenen Vorstellungsbilder des „Französischen“ oder neue Bedeutungen der historischen Ereignisse erzeugt werden. Ihre Geschichtsbetrachtung untersucht „nicht die Vergangenheit, so wie sie eigentlich gewesen ist, sondern ihre ständige Wiederverwendung, ihr[en] Gebrauch und Mißbrauch sowie ihr[en] Bedeutungsgehalt für die aufeinanderfolgenden Gegenwarten; nicht die Tradition, sondern die Art und Weise, wie diese geschaffen und weitergegeben wird.“26 Unter diesem Aspekt werden Erinnerungsorte wie Literatur, Gedenktage, Feste, bestimmte Orte, wie z. B. Paris oder das Elsass, betrachtet. Das dreibändige Werk, „Les lieux de mémoire“, wird weltweit übersetzt und rezipiert.
2001 folgte in Deutschland das dreibändige Werk „Deutsche Erinnerungsorte“ von Etienne François und Hagen Schulze. Darin wird der Begriff „Erinnerungsort“ so definiert:
Wir verstehen also „Ort“ als Metapher, als Topos im buchstäblichen Wortsinn. Der Ort wird allerdings nicht als eine abgeschlossene Realität angesehen, sondern im Gegenteil stets als Ort in einem Raum (sei er real, sozial, politisch, kulturell oder imaginär). Mit anderen Worten: Wir sprechen von einem Ort, der seine Bedeutung und seinen Sinn erst durch seine Bezüge und seine Stellung inmitten sich immer neu formierender Konstellationen und Beziehungen erhält.27
Im Vergleich zum französischen Projekt ist es ein Merkmal dieser deutschen Erinnerungsforschung, dass sie auch Erinnerungsorte an den Holocaust thematisiert. In der Einleitung wird der Satz von Aleida Assmann zitiert: „Auschwitz ist die nationale Katastrophe, die das kulturelle Gedächtnis der Deutschen gesprengt hat und sprengt.“28 Neben dieser Auffassung, dass der Holocaust in dieser Weise für das nationale kulturelle Gedächtnis bestimmend sei, wird auch auf die „europäische und universale Tragweite“ hingewiesen. Die Herausgeber schreiben:
Seitdem schließlich Auschwitz zur Signatur des Jahrhunderts erhoben, seit ihm der Rang eines absoluten Bösen zuerkannt wurde, mit der Folge, daß es sich als negatives Geschichtszeichen in das kollektive Gedächtnis und Bewußtsein der Welt nachhaltig eingegraben hat, hat sich auch die Frage nach der Einstellung zur deutschen Vergangenheit zu einer Frage von universaler Dimension erweitert.29
Damit setzt sich Peter Reichel in diesem Band genauer auseinander.30 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte dieser Ort noch nicht diese universale Bedeutung. 1947 fand eine Ausstellung, die deutlich Merkmale der kommunistischen Erinnerung an den Holocaust zeigte, in Auschwitz statt. In dieser Ausstellung wurde von der polnischen Regierung und ehemaligen Häftlingen das Leiden „der polnischen Nation und anderer Nationen“ gezeigt. Ins Zentrum wurden der antifaschistische Widerstand und sein Sieg über Hitler-Deutschland gerückt. Es geschah erst in den 1970er-Jahren, dass eine Ausstellung unter den Aspekten des Leidens und des Kampfes der Juden stattfand.
Reichel weist weiter auf den Konflikt zwischen jüdischen Organisationen und Polen hin. Die jüdischen Organisationen protestierten, dass Auschwitz durch den Besuch des Papstes 1979 und den Bau eines katholischen Klosters 1984 „zu einem Ort des christlichen Antijudaismus“ gemacht wurde. Die Angst der Polen war, dass dadurch die Polen sogar auf die Täterseite gerückt werden könnten.
Wie dieser Aufsatz von Reichel zeigt, wird Auschwitz heute nicht mehr nur in Hinsicht auf die deutschsprachigen Gebiete behandelt, sondern unter einem weltweiten Aspekt. Andererseits ist es eine besondere deutsche Problematik, wie der Holocaust in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich erinnert wurde. Zu diesem Thema erschien 2009 das Buch „Erinnerungsorte der DDR“ von Martin Sabrow.31 Sabrow definiert das in der DDR öffentlich zugelassene Gedächtnis als Traditionsgedächtnis.32 Das Traditionsgedächtnis über den Holocaust tauchte in der DDR sowie auch in Polen im Zusammenhang mit dem Antifaschismus auf. Annette Leo erwähnt, dass „im DDR-offiziellen Antifaschismusbild die Kommunisten“ „als die wichtigste Opfergruppe des NS-Terrors“ und „gleichzeitig als die führende Kraft im Widerstand“ gelten.33 Sie analysiert weiter, dass dieser Antifaschismus auch gegen die aktuellen Feinde des Sozialismus, wie z. B. das „Adenauer-Regime“, gerichtet gewesen sei. So wurde ja z. B. die Mauer offiziell „antifaschistischer Schutzwall“ genannt und die USA wurden wegen des Vietnamkrieges als „USA-SS-SA“ diffamiert. Wie im Abschnitt 5.1.1 gezeigt wird, vergleicht auch Weiss beispielsweise den Vietnamkrieg mit Auschwitz. Dies entspricht der damaligen sozialistischen Sicht. Die Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsort Auschwitz bzw. mit der Erinnerung an den Holocaust geschieht immer aus verschiedenen Perspektiven, von verschiedenen Seiten, wie sie z. B. von Juden, Polen, Ost- und Westdeutschen vertreten werden bzw. wurden. Dies deutet darauf hin, wie unterschiedlich der Ort Auschwitz bzw. der Holocaust erinnert werden können.
Wie gesagt, notiert Weiss 1964 den Namen Auschwitz neben anderen Orten wie Dresden, Verdun, Hiroshima, Armenien.34 Aber zugleich ist dieser Ort doch für ihn auch ein besonderer Ort, denn er hat das Gefühl, dass er selber zu Auschwitz gehöre. Im Jahr der Uraufführung des Stückes, 1965, bezeichnet er Auschwitz als „meine Ortschaft“. In diesem Prosatext, den er nach seinem Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im Dezember 1964 schreibt, nennt er zuerst Städte wie London, Prag, Zürich, Stockholm, Paris und andere, in denen er während seines Exils wohnte.35 Er schreibt weiter:
[…] [W]enn ich untersuche, was jetzt daraus hervorgehoben und für wert befunden werden könnte, einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden, so gerate ich nur immer wieder an das Zurückweichende, alle diese Städte werden zu blinden Flecken, und nur eine Ortschaft, in der ich nur einen Tag lang war, bleibt bestehen. […] Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam.36
In diesem Text ist das Wort „Auschwitz“ nur einmal genannt. Davor bezieht Weiss sich auf seinen Geburtsort:
Auch sie [die Ortschaft] trägt einen polnischen Namen, wie meine Geburtsstadt, die man mir vielleicht einmal aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gezeigt hatte. Sie liegt in der Gegend, in der mein Vater kurz vor meiner Geburt in einer sagenhaften kaiserlich-königlichen Armee kämpfte. Von den übriggebliebenen Kasernen dieser Armee wird die Ortschaft beherrscht.
Zum besseren Verständnis der dort Werksamen und Ansässigen wurde ihr Name verdeutscht.37
Unmittelbar nach diesem Abschnitt folgt der Satz „Auf dem Bahnhof von Auschwitz scheppern die Güterzüge.“38 Weiss knüpft eine schwache Verbindung zwischen seiner Geburtsstadt und Auschwitz, wenn er darauf hinweist, dass beide Städte auch einen polnischen Namen haben würden. Aber das Wort „Geburtsstadt“ lässt eine Zugehörigkeit assoziieren. Weiss schreibt:
Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren. Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als daß mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten.39
Obwohl Weiss selbst nicht das KZ am eigenen Leib erfahren hat, ist „Auschwitz“ dennoch für ihn „sein“ Ort und auch der Ort einer universalen Erfahrung. Er sagt in einem Interview des New Yorker Times Magazine 1966:
The Nazis did kill six million Jews, yes, but they killed millions of others. The word “Jew” is in fact never used in the play. The closest I come to it is in mentioning a victim named Sarah. I do not identify myself any more with the Jews than I do with the people of Vietnam or the blacks in South Africa. I simply identify myself with the oppressed of the world.
[…] “The Investigation” is about the extreme abuse of power that alienates people from their own actions. It happens to be German power, but that again is unimportant. I see Auschwitz as a scientific instrument that could have been used by anyone to exterminate anyone. For that matter, given a different deal, the Jews could have been on the side of the Nazis. They, too, could have been the exterminators.
“The Investigation” is a universal human problem.40
Diese Stellungnahme Weiss’ wird in den 1980er-Jahren vor allem in den USA scharf kritisiert: Dass er in diesem Zusammenhang nicht das Wort „Jude“ verwendet und dass er eine universale Perspektive hat, Auschwitz also nicht als ein historisch einmaliges Ereignis ansieht, sondern „nur“ als ein Beispiel des Missbrauchs von Macht, wird ihm übel genommen. Auf diesen Punkt gehe ich im vierten Kapitel noch genauer ein. Für Weiss geht es also nicht um die Juden als besondere Opfergruppe, sondern um die Ermordung von Menschen überhaupt. Was er behandelt ist „ein universales menschliches Problem“. Trotzdem wird dieses Stück heute, wie oben gezeigt, als ein Versuch der Beschreibung des Holocaust verstanden und gehört in die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust.
2.2Die Erinnerungsgeschichte an den Holocaust
41