Lea Coplin
Nichts zu verlieren. Außer uns.
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© Bogenberger Autorenfotos
Lea Coplin ist das Pseudonym einer Autorin, die mit ihren gefühlvollen Romanen bereits auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Mehr als fünfzehn Jahre arbeitete sie als Journalistin, bevor sie sich für die Schriftstellerei entschied. »Nichts ist gut. Ohne dich.« ist ihr erstes Buch, das in ihrer Wahl-Heimatstadt München spielt, wo sie mit Mann und Katzen ganz in der Nähe der Schauplätze lebt.
Mehr über die Autorin unter www.lea-coplin.de
»Ich weiß, wie das angefangen hat, auf einem F lughafen in Schottland, mit schlechter Laune und allerlei Zicken. Ich weiß, was dann geschah – es entstand eine Art Zweckgemeinschaft, um ein bisschen mehr vom Land zu sehen, und ... Und ich habe keinen blassen Schimmer, wie das endet.«
Als Max von Linden in Edinburgh aus dem Flugzeug steigt, hat er vor allem eins im Sinn: ausreichend Abstand zwischen sich und seinen verhassten Vater zu bringen. Straßenmusikerin Lina Stollberg treiben ganz ähnliche Motive in die schottische Metropole, doch ihr ist jedes Lügenmär chen recht, um von ihrer wahren Geschichte abzulenken. Als die beiden schon am Flughafen übereinander stolpern, fl iegen nicht nur Gepäckstücke durch die Gegend, sondern auch Funken – es ist Antipathie auf den ersten Blick. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto näher kommen sie sich. Sehr viel näher als geplant. Und nach einem Roadtrip quer durch Schottland stellt sich die Frage: Was ist eigentlich echt zwischen ihnen? Und was bleibt übrig, wenn alle Masken fallen?
Originalausgabe
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook 978-3-423-43464-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71799-1
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ISBN (epub) 9783423434645
Für blö,
und in Erinnerung
an eine wunderschöne Reise.
Ich weiß nicht, weshalb ich ihm nicht meinen richtigen Namen genannt habe, aber jetzt ist es zu spät, um daran etwas zu ändern. Wenn ich ihm diese Lüge beichte, kann ich ihm gleich alles andere erzählen, und das wäre die schlechteste Idee, die die Menschheit je gehört hat.
Ich liege neben ihm, halte die Augen geschlossen und lausche seinem Atem. Es ist so eng auf dieser Rückbank, dass ich mit jeder seiner Bewegungen mitgehe, meine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus seiner Luftzüge. Ich denke, ich sollte ein Stück von ihm wegrücken, ein wenig Abstand zwischen uns bringen, doch gerade fehlt mir die Disziplin dazu.
Ich berühre seine Hand, die auf meinem Bein liegt, und dann gleite ich zurück in den Schlaf, einfach so. Als gäbe es nichts, um das es sich zu sorgen lohnt, und niemanden außer uns beiden, keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur ihn und mich, nur uns beide. Nur Jetzt und Hier. Aber auch das ist eine Lüge. Die womöglich größte von allen.
Zwei Wochen
zuvor
Montag, 25. September
Man sollte meinen, jemand wie ich ist es gewohnt zu fliegen, verschwendet keinen Gedanken an menschliches Versagen, schlechte Wartung und Sabotage, reist zu oft, um deswegen nervös zu werden, doch die Wahrheit ist, es bereitet mir Unbehagen. Mehr als das. Es irritiert mich. Einige Male schon habe ich darüber nachgedacht, weshalb das so ist, warum es mich nervös macht abzuheben, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und bin zu dem Schluss gekommen, dass genau das das Problem ist: Eine Person, die sich nur schwer als vernünftig verwurzelt bezeichnen kann, sollte mit beiden Beinen auf der Erde bleiben, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren.
Habe ich recht?
In Gedanken zucke ich mit den Schultern, in der Realität ist es zu eng dafür. Der Flieger hat noch nicht einmal seine Parkposition erreicht, da sind schon alle aufgesprungen, um sich die nächsten neun Minuten im Gang zu drängeln, dicht an dicht, das Telefon zwischen Kinn und Ohr, während die Hände noch im Gepäckfach wühlen. Ich gebe zu, ich stehe ebenfalls. Ich kann Flugzeuge nun einmal nicht leiden, und bin ich erst eingestiegen, hat das Herauskommen oberste Priorität. Vor mir trommelt ein Anzugträger im klassischen Businesslook mit den Fingern auf einer der Sitzlehnen herum, und sofort spüre ich einen Stich im Magen. Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem Vater, nicht den Anflug von Grau in den Haaren, ein viel schmaleres Kreuz, größer ist er auch. Aber ich kann nichts ausrichten gegen den Film, der sich in meinem Kopf in Bewegung setzt. Im Gegensatz zu dem, was alle anderen von mir denken mögen, verfüge ich durchaus über ein Gewissen, und das hat den Flug leider so gut überstanden wie ich.
Im vorderen Teil der Maschine beginnen die ersten Passagiere mit dem Ausstieg und der Mann vor mir neigt den Kopf nach rechts und nach links wie ein Boxer, der sich vor dem großen Kampf den Nacken dehnt. Ich verkneife mir ein Schnauben. Er ist ebenso ungeduldig wie ich, nur viel schlechter darin, es zu verbergen. Ich hoffe für ihn, dass er nicht in der Stadt ist, um Geschäfte abzuwickeln, denn wenn ich den Kerl von hinten lesen kann wie ein offenes Buch, dann möchte ich nicht wissen, was Verhandlungspartner von vorn zu sehen bekommen.
Auf dem Weg zur Gepäckausgabe denke ich darüber nach, wie ich es am besten anstelle, mein Handy zu nutzen, ohne auf eingehende Anrufe und Nachrichten aufmerksam gemacht zu werden. Ich meine, Benachrichtigungen auf dem Display, die lassen sich sicher irgendwo in den Einstellungen unterbinden. Aber kann man einem Telefon tatsächlich untersagen, Anrufe zu signalisieren? Es ist Montag, der 25. September. Noch knapp zwei Wochen bis zum Geburtstag des Alten, aber ich könnte wetten, die Droh-, Nerv- und Kontrollanrufe meiner Mutter lassen nicht einmal mehr zwei Tage auf sich warten. Und ich habe herzlich wenig Lust, mich dem zu stellen, denn, man wird es kaum glauben, auf offen ausgetragene Konflikte kann ich gut und gern verzichten.
Zumindest auf die mit meiner Mutter. Die Sache mit Leander dagegen … Ich schüttle den Kopf, während ich mein Handy aus der Hosentasche ziehe, nur um auf ein schwarzes Display zu starren. Er ist mein bester Freund, mein einziger womöglich, und ich muss wissen, ob er langsam, aber sicher durchdreht, und dafür brauche ich nun mal dieses verdammte Telefon.
»Aaah, Scheiße, was …« Das Ganze geht viel zu schnell, als dass ich sagen könnte, wie genau es passiert ist, doch etwas oder jemand rempelt in meine Seite, mit voller Wucht, und reißt mich anschließend zu Boden. Ich rudere mit den Armen, mein Smartphone fliegt in Richtung der Kofferbänder, doch ich kann den Sturz nicht aufhalten. Ich knalle mit dem Steißbein auf den Steinboden, was nicht gerade guttut, und während ich das Gesicht verziehe, werfe ich einen Blick auf das Mädchen, das neben mir auf dem Boden sitzt und mich offenbar zu Fall gebracht hat. Sie sieht mich an, die Augen schmal, der Ausdruck darin nicht gerade sonnig, doch sie sagt keinen Ton, bevor sie sich als Erste aufrappelt, beziehungsweise den Versuch unternimmt. Es dauert zwei Sekunden und verlangt einen weiteren Blick, bis mir klar wird, dass ihr riesiger Rucksack sie am Aufstehen hindert. Also helfe ich ihr hoch, was kein sonderlicher Aufwand ist, denn sie ist mini und ein Fliegengewicht. Wie konnte sie mit derartiger Wucht in mich reinrumpeln?
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Wenn meine Instrumente auch nur einen Kratzer abbekommen haben, verklage ich dich, bis dein Daddy dir die Zuwendungen streicht.«
Überrascht blinzle ich sie an. Der dunkle, raue Ton ihrer Stimme passt überhaupt nicht zu dem Gesicht des Mädchens, und das, was sie sagt, ergibt gar keinen Sinn. Ich meine, abgesehen davon, dass sie mich als reichen Schnösel abstempelt, obwohl sie noch kaum einen Blick auf mich geworfen hat, was an ihren eigenen katastrophalen Klamotten liegen könnte, gegen die alles andere in jedem Fall wie Designermode wirken muss. Darüber hinaus aber entbehrt die Aussage sämtlicher Logik, denn immerhin hat dieses Gör mich umgerannt, und nicht umgekehrt. Ich sehe zu der Toilettentür, aus der sie ungebremst herausgestürmt ist, und sage ihr das.
»Ich bin nicht diejenige, die blind durch die Gegend gelaufen ist, weil ich auf mein Handy gestiert habe«, erwidert sie mürrisch.
Das Handy, richtig. Ich sehe auf, während sie sich nach ein paar Koffern bückt, und will gerade in die Richtung davonmarschieren, in die es geflogen ist, als eine junge Frau mir mein iPhone entgegenstreckt.
»Das gehört Ihnen, oder?«
»Aaah, allerdings.« Ich schenke der Frau ein Lächeln. »Vielen Dank, dass Sie es gerettet haben.«
»Nun, es ist mir quasi vor die Füße gefallen.« Sie wird rot, ganz leicht nur, und mein Lächeln ein kleines Stück breiter. Ich sehe ihr nach. Netter Hintern. Nicht mein Typ, aber der Hintern ist nett.
Neben mir gibt die Remplerin einen missmutigen Laut von sich, als habe sie meine Gedanken gehört.
Ich drehe das Telefon in der Hand ein paarmal hin und her. »Scheint in Ordnung zu sein. Dein Glück, denn sonst müsste ich womöglich deinen alten Herrn verklagen, bis er sich nicht mal mehr diese Secondhandklamotten für dich leisten kann.«
Sie hält in der Bewegung inne, um mich anzusehen, und ich grinse ihr entgegen, um meiner Aussage die Schärfe zu nehmen, denn so ernst habe ich das nicht gemeint. Denke ich. Ich meine – wer austeilt, sollte auch einstecken können, oder? Diesmal betrachte ich sie genauer. Es ist wahr, die dunkle Stimme passt nicht zu der blonden, irgendwie asymmetrischen Flechtfrisur und den großen blauen Augen, die kalt zu mir aufsehen. Kein bisschen Gefühl spiegelt sich darin. Nicht der Hauch einer Andeutung, dass ich sie mit meiner Aussage verletzt haben könnte. Im Gegenteil: Ihr Gesicht strahlt Härte aus, was wiederum zu ihrer gewöhnungsbedürftigen Stimme passen könnte, sähe sie nicht so unfassbar … jung aus. Ja, wirklich. Schülerinnenmäßig. Unterstufe. Womöglich liegt es an der Größe. Ganz sicher liegt es nicht an den Kurven, die weiß Gott wen interessieren, aber mich nicht, oder an den Piercings in Nase und Unterlippe. Womöglich ist sie tätowiert irgendwo. Was mir ebenfalls egal sein kann. Ein bisschen Schminke hier und da, denke ich, damit ließe sich noch was ausrichten. Oder auch nicht.
Nach einigen weiteren Sekunden eisigen Schweigens knicke ich ein. Vielleicht wegen eben dieser riesigen Augen oder dem seltsamen Ausdruck darin oder der ganzen unaufgeräumten Erscheinung dieses Mädchens. »Gut«, höre ich mich jedenfalls sagen, »es tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen, du mich offenbar auch nicht, also haben wir beide Schuld oder aber niemand. Einverstanden?«
Sie nickt nicht einmal. Wirft mir einfach einen ungerührten Blick zu und stolziert mit ihren Köfferchen davon.
Herr im Himmel. Ich seufze. Und ich sehe ihr nicht nach. Diese unsinnige Unterhaltung hat mich schon genug abgelenkt.
Wovon eigentlich?
Ah ja. Leander, richtig.
Es mag einen Grund geben, warum ich hier gelandet bin (er fängt mit D an, hört mit addy auf und hängt unmittelbar mit einem bevorstehenden Freudenfest zusammen), doch es lässt sich auf keinen Fall leugnen, dass diese Reise auch eine Flucht ist. Ich denke nicht, dass ich das jemals vor einem anderen als mir selbst zugeben werde, aber ich fühle mich nun mal nicht gern hilflos. Und Leander dabei zu beobachten, wie er sich in diese Decke aus Schmerz und Selbsthass hüllt, wie er dichtmacht, unberührbar, unerreichbar ist und dabei doch so durchsichtig, dass jeder an seiner Selbstzerstörung teilhaben kann, das … ich weiß nicht. Für den Moment war es einfach schwer zu ertragen. Für mich. Bela dagegen – man muss ihn bewundern dafür, was er für Leander tut. Was nicht viel ist, weil nicht gewünscht, aber immerhin. Er ist da.
Was man von mir nicht behaupten kann.
Ich sitze im Bus vom Flughafen in die Innenstadt, und das seltsame Mädchen sitzt zwei Reihen vor mir. Hätte sie sich für die andere Seite des Gangs entschieden, ich könnte sie nicht einmal sehen, so klein ist sie. Mini, wie schon erwähnt. Bestimmt nicht größer als einssechzig. Mit wirren Flechtkränzen um den Kopf, zu weiten Klamotten, kariert noch dazu. Und diese Stiefel. Schauderhaft. Als habe sie meine Gedanken gehört – schon wieder – dreht sie sich zu mir um, bevor sie sich Kopfhörer in die Ohren steckt, ein Buch aus der Tasche zieht und beginnt, darin herumzublättern.
Ich wende mich dem Fenster zu, doch Regentropfen verzerren die Sicht. Die Welt dahinter sieht düster aus. Im Großen und Ganzen präsentiert sich Edinburgh nicht gerade von seiner freundlichen Seite, inklusive Wetter, dem Zusammenstoß vor dem Damenklo und der Tatsache, dass ich nun schon für einen Snob gehalten werde, ohne überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. Doch es ist weit weg von München, 1775 Kilometer etwa. Und nach diesem heißen, trockenen Sommer wird mir eine Abkühlung guttun.
Mein Blick haftet an den Tropfen auf der Scheibe.
Und daran hält er fest, bis wir das Stadtzentrum erreichen.
Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt dauert keine 30 Minuten, aber sie kommt mir ewig vor. Ich versuche, die Geräusche um mich herum auszublenden, doch trotz der Kopfhörer gelingt es mir nicht. Das Holpern der Räder. Das quatschende Pärchen vor mir. Das Lachen des Typen, der schon an der Haltestelle an seinem Handy hing und es bis kurz vor unserer Ankunft nicht weglegt. Das alles mischt sich unter die Musik von Pete Doherty, der mir schon zum dritten Mal den gleichen Song ins Ohr krächzt. Das Stück werde ich als nächstes covern. Unerklärlicherweise berührt mich der Kerl, ob er nun den Ton trifft oder nicht.
Ich würde gern ein paar Zeilen an Robin schreiben, aber im Bus wird mir grundsätzlich übel, also lasse ich es. Stattdessen sehe ich geradeaus auf den Hinterkopf des Mädchens vor mir, bis sie sich zu ihrem Freund hinüberbeugt, um die nächste Viertelstunde mit ihm rumzuknutschen. Also blicke ich aus dem Fenster. Wenn sich jetzt noch Schmatzgeräusche über Doherty legen, kotze ich.
Der Typ von eben sitzt natürlich auch im Bus. Das war so klar. Bei den Designer-Klamotten wäre sicher ein Taxi drin gewesen, aber nein. Womöglich spart er auf die nächste Yacht oder etwas in der Art, wer weiß das schon? Ich schnaube. Dann schiebe ich den Gedanken weg.
Dafür, dass ich Streits generell lieber vermeide, war ich in den vergangenen Tagen zu oft in einen verwickelt. Erst der Riesenkrach mit meiner Mutter, jetzt der blöde Zusammenstoß mit diesem Typen. Okay, hak das ab, Lina. Tief durchatmen. Der Kerl kann mich nicht beleidigen. Er kann mich nicht treffen. Und ich hab ja auch ausgeteilt, also, vergessen wir’s. In meinem Kopf ist ehrlich kein Platz für diesen oberflächlichen Scheiß.
Der Bus hält am Bahnhof Waverley Station und ich sprinte quasi hinaus. Bis der Fahrer mir meinen Rucksack und die Instrumente aus dem Kofferraum geholt hat, habe ich die Touristeninfo ausgemacht, die ich als Erstes ansteuern werde. Ich brauche einen Stadtplan. Und einen Tipp, wo ich eine nette Jugendherberge finde. Ich hole mir beides und mache mich auf den Weg in die Royal Mile, um mich im dortigen Backpackers einzubuchen.
Der Regen hat aufgehört und blauer Himmel spannt sich über die Stadt, als hätte es die Schauer zuvor nie gegeben. Es wäre schön, wenn es im Leben ebenso wäre. Ein bisschen Sonnenschein, und zack – vergessen sind die Stürme, in die du zuvor geraten bist. Ich wette, bei Pretty Boy waren das nicht allzu viele, denke ich bitter. Und dann denke ich, was für eine dumme Kuh ich doch bin. Ehrlich, hör auf, dich zu vergleichen, du Nuss! Kann sein, ich hab im Augenblick nicht sonderlich viel, rein materiell betrachtet, doch ich habe Robin. Ich habe Robin. Und Robin hat mich. Und wie singt schon der alte Pete?
Make no mistake
She sheds her skin like a snake
On the dirty road to fame.
Niemand wird mich aufhalten. Nicht meine Mutter, nicht ihr dämlicher Typ, ganz sicher kein dahergelaufener Schönling, der sich für was Besseres hält.
»Hi.«
»Hello!«
»Ich bin gerade erst angekommen und hab leider keine Reservierung. Ist bei euch noch was frei?«
»Ich denke nicht.«
»Du denkst oder du weißt, dass nichts mehr frei ist?« Ich starre mit gerunzelter Stirn auf den Jungen hinter dem Empfangstresen, der meinen Blick ähnlich grübelnd erwidert.
»Ich denke, wir sind in diesem Monat ausgebucht, so wie im letzten oder in den nächsten paar. Aber irgendwas klingelt da in meinem Hirn, dass eventuell jemand abgesagt haben könnte.«
Wir sehen einander an, doch er rührt sich nicht. Bis ich den Kopf schief lege und ein aufforderndes »Und?« von mir gebe, fürchte ich schon, er könnte eingeschlafen sein.
Er blinzelt, dann räuspert er sich. »Sorry. Wo waren wir?«
»Äh … ein Bett? In einem der Zimmer? Du wolltest nachsehen, ob jemand abgesagt hat?« Allmählich komme ich mir verarscht vor, der Rucksack zieht schwer an meinen Schultern und Hunger bekomme ich auch langsam, aber irgendwie wirkt der Typ gar nicht, als wollte er mich ärgern. Eher, als sei er … stoned?
»Ah ja.« Er nickt und kramt gleichzeitig in dem Stapel offener Bücher und Mappen, der vor ihm auf dem Tisch liegt. »Sorry nochmal. War ’ne harte Nacht.«
Also doch eher müde.
»Aaah, da ist es ja.« Er zieht ein dickes, schwarzes Buch hervor und beginnt, darin zu blättern.
»Mein Kumpel ist von seiner Freundin verlassen worden«, sagt er. »Bier, Whisky, Tränen, der ganze Kram, du weißt schon.«
Ich zucke mit den Schultern, aber er liest, also sieht er es nicht. Der ganze Kram. Keine Ahnung.
Miss Stollberg, kaum jemand singt so emotional über Gefühle wie Sie. Also, erzählen Sie mal – Waren Sie schon oft verliebt?
In Gedanken blicke ich meinen künftigen Interviewer skeptisch an. Ich bin ehrlich nicht sicher, Matthew, sage ich, ich weiß es nicht. Wobei, wenn ich darüber nachdenke … nein. Nein, verliebt war ich noch nie. Und bitte sagen Sie doch Lina zu mir.
»Du hast Glück, heute Morgen hat jemand abgesagt. Eine Gruppe Mädchen kommt zu fünft statt zu sechst. Zehn-Bett-Zimmer, Girls only. Okay für dich?«
»Sehr okay.« Ich nicke.
»Du hast echt Glück. Normalerweise ist hier um diese Zeit alles dicht.«
»Dann hooray. Kann ich das Bett für 14 Tage mieten?«
Und nun fängt der Typ an zu lachen, dass seine Rastahaare wippen und all die weißen Zähne gegen seine dunkle Haut um die Wette blitzen.
»Oh Mann, du bist echt lustig. Wie heißt du?«
»Ich weiß zwar nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat, aber … Lina. Lina Stollberg.«
»Ich bin Aaron. Und das Bett ist erst mal frei bis … Freitag. Dann sehen wir weiter, okay?«
»Okay.«
»Spind?«
»Unbedingt.«
»Das kostet zehn Pfund Pfand, die du zurückbekommst, wenn du den Schlüssel wiederbringst.«
»Alles klar.« Ich krame in meiner Gürteltasche nach Geld für den abschließbaren Schrank in meinem Zimmer, der schon allein für die Instrumente wichtig ist. Ich bin gekommen, um Geld zu verdienen, nicht, um mich beklauen zu lassen.
»Du musst in den ersten Stock, die letzte Tür auf der rechten Seite.«
»Danke.«
»Klar.«
»Jetzt kannst du weiterschlafen.«
Er lacht wieder, und mir fällt auf, dass er Grübchen hat, eines in jeder Wange, die unter den dunklen Bartstoppeln nicht leicht auszumachen sind. Sie sind hübsch. Der Typ ist hübsch.
Ich bin schon halb die Treppe oben, als er mir hinterherruft: »Hey, Lina. Ist das eine Geige da in dem Kasten?«
»Eine Ukulele«, erwidere ich.
»Cool. Und in dem anderen?«
»Akkordeon. Ein ziemlich kleines aber nur. Ich will ein bisschen Straßenmusik machen.«
»Ah.« Er grinst. »Eine Straßenmusikerin! Die sind ziemlich beliebt bei uns in der Stadt. Das wird sicher super werden.« Er beißt sich auf die Unterlippe und ich weiß nicht, es macht mich verlegen.
»Also, dann …« Unschlüssig sehe ich nach oben und mache mich schließlich auf den Weg in mein Zimmer. Die Wände sind gelb gestrichen wie die Türen der Schränke, die Stockbetten haben einen orangefarbenen Rahmen und mein Bett ist das untere rechts vor dem Fenster. Vom Foyer dringt das Knacksen eines Lautsprechers zu mir, dann setzt Musik ein, irgendwas Altes. Queen? Aaron pfeift dazu, und ich muss lächeln.
Der Anfang ist gemacht, Lina, denn du bist hier, und morgen schon, morgen, da beginnt dein neues Leben. Ich beschließe, Robin davon zu schreiben, und das ist das Erste, was ich tue, noch bevor ich meine Sachen in den Schrank räume und die Bettdecke beziehe.
Das Zimmer ist zu klein, gemessen an dem, was es kostet, aber sei’s drum, es ist nicht mein Geld, das hier an englische Ledermöbel und Jugendstillampen verschwendet wird, es ist das Geld meines Vaters. Oder besser gesagt, das meines Großvaters, wenn man bedenkt, dass er es war, der die Familie mit ausreichend Grundvermögen und Immobilien versorgt hat. Darüber also braucht sich niemand der von Lindens zu sorgen – nicht um Geld, meine ich.
Ich stelle meine Tasche auf dem Kofferdiener ab, dann durchquere ich den Raum mit drei Schritten und schiebe die Vorhänge beiseite. Die Aussicht ist städtisch, im besten Sinne. Von hier kann ich auf die Brücke sehen, die erst eine schmalere Straße, dann das ausladende Glasdach des Waverley Bahnhofs überspannt. Dahinter dominiert ein ziemlich eindrucksvolles Gebäude das Bild. Viktorianisch, würde ich schätzen, sicher bin ich nicht. Ich lasse den Vorhang zurückfallen und setze mich aufs Bett.
Um ehrlich zu sein – ich gebe gern das Geld meines Vaters aus. Es stellt einen gewissen Reiz dar, dem Mann Kreditkartenabrechnungen in Unsummenhöhe vorzulegen und dann auf seine immer gleiche Reaktion zu warten, die da wäre: keine. Nichts. Rein gar nichts. Im Grunde interessiert es ihn überhaupt nicht, wofür ich sein Geld ausgebe oder warum ich es tue oder wie ich lebe oder was ich rauche oder mit wem ich schlafe, solange es nicht mit seinem Leben oder dem Anschein davon kollidiert. Ist das nicht fantastisch? Das ist der Freifahrtschein, den sich jedes Kind wünscht, etwa nicht? Tu, was du willst, solange es nicht an der perfekten Fassade kratzt, die ich für mich und mein Dasein gezimmert habe.
Mein alter Herr ist unglaublich enttäuscht von mir. So enttäuscht, dass er denkt, er könne mich am besten treffen, wenn er mir damit droht, den Geldhahn zuzudrehen, um meine augenscheinliche Verschwendungssucht und meinen grässlich ausschweifenden Lebensstil zu unterbinden, bloß – hat er es jemals getan? Nie. Und insgeheim bewundere ich ihn dafür, weil es bedeutet, dass ihm klar ist, dass mir im Grunde nichts an all dem liegt, was man für sein Geld kaufen kann. Weder mache ich mir etwas aus Partys noch aus Drogen noch aus teuren Hotels. Die Wohnung, die mir mein Großvater überschrieben hat, ist nett, aber brauche ich sie? Ich bin mir ziemlich sicher, ich könnte ohne Probleme auch in einem Einzimmerapartment in Obergiesing hausen. Nun. Sagen wir, ich nehme an, ich könnte es. Würde ich in einem Einzimmerapartment in Obergiesing leben, würde das in gewisser Hinsicht Freiheit bedeuten, und zwar eine Freiheit, die kein Geld der Welt erkaufen kann. Ich wäre nicht der Sohn des Bundestagsabgeordneten Caspar von Linden, dynamisch, ehrgeizig, aufstrebend. Die Partei hat noch etwas vor mit ihm, Maximilian, behalte das im Hinterkopf bei allem, was du tust. Aber ja. Hinter jedem erfolgreichen Patriarchen stehen eine Frau und ihre Kinder, die liebend gern die aalglatte Musterfamilie spielen.
Ich werfe meine Jacke über und krame das Päckchen Zigaretten aus der Tasche, das ich mir noch in München gekauft habe. Ich bin es so gewohnt, dass nur noch draußen geraucht werden darf, ich denke nicht einmal darüber nach, ob es in diesem Zimmer gestattet sein könnte oder nicht. Stattdessen ziehe ich die Tür hinter mir zu, gehe hinunter in die Lobby, durch das Eingangsportal, auf die Straße. Inzwischen ist es später Nachmittag und das Licht hat sich verändert. Die sandbraunen Fassaden der alten Häuser schimmern auf einmal rosa, das Blau des Himmels geht gegen violett. Ich zünde eine Zigarette an, inhaliere erleichtert und marschiere los, über die Brücke auf die andere Seite der Stadt, Pubs und Trubeligkeit entgegen. Kaum zwei Stunden hier, und die Einsamkeit kriecht durch das Leder meiner Jacke auf die Haut wie die kalte Luft, die der Wind über die Schornsteine fegt.
Wenn ich nicht Max von Linden wäre, denke ich, wer wäre ich dann?
Dienstag, 26. September
Ich war schon immer eine gute Lügnerin. Und ich schätze, bei meiner Herkunft kann es gar nicht anders sein. Schon mein Vater war ein Betrüger, in meiner Vorstellung zumindest. In den Geschichten, die ich mir ausmalte, war er nicht einfach nur nicht da, er war … ein Pirat, der sich mit wehendem Haar auf die Reling seines Schiffs stützt, gestohlenes Gold an den Händen, eine schöne Frau in jedem Hafen. Er schwor meiner Mutter ewige Treue, und dann war er weg. Auf zu Abenteuern, von denen andere Väter nur träumen konnten, nicht ahnend, dass er nicht nur die Frau zurückließ, sondern gleichermaßen das Kind.
Oder er war ein Prinz, gefangen in einem unerträglichen Hofprotokoll, meiner Mutter zugetan, doch zu gewissenhaft, seine Verantwortung abzulegen. Er belog sie über seine Herkunft, darüber, was er wirklich für sie empfand, behauptete, er sei nicht gut genug für sie.
In einer anderen Fantasie war er es tatsächlich nicht – ein Taugenichts durch und durch, schon als Teenager auf die schiefe Bahn geraten, als Erwachsener dann stets mit einem Bein im Gefängnis. Diese Geschichte kam nicht oft auf den Tisch. Immer nur dann, wenn die Wut zu groß wurde, das Gefühl des Verlassenseins zu schwer zu ertragen.
Und unsere Mutter – auch für sie dachte ich mir Legenden aus, wenn auch nicht ganz so drastische. Meistens war sie einfach eine überforderte Frau, die meinen Bruder und mich vorübergehend in Pflege gab, um uns später wieder zu sich zu holen. Eine Teenagermutter, oder psychisch labil, aber immer voller Liebe. Manchmal suchte sie nach uns und konnte uns nicht finden. Manchmal wartete sie noch auf den richtigen Moment. Wer auch immer unsere Traummutter war, sie war besser als die, mit der wir leben mussten.
Meine Geschichten, sie beruhigten Robin. Wann immer er sich in sich selbst zurückzog oder einen Wutanfall austobte, der die Wände erzittern ließ – wenn ich anfing, mir Geschichten für ihn auszudenken, beruhigte sich seine Atmung und seine Muskeln entspannten sich. Also ließ ich meiner Fantasie freien Lauf. Oft. Immer mehr. Bis ich selbst kaum mehr sagen konnte, wo die Lüge endete und die Realität begann.
»Hey, Lina, wie geht’s? Schon Pläne, wo du heute spielen willst?«
Ich schlucke den letzten Bissen Toast hinunter und drehe mich zu Aaron um. Er lehnt in der Küchentür, ein breites Grinsen im Gesicht, und sieht mich erwartungsvoll an.
Ich zucke mit den Schultern. »Royal Mile?« Es klingt wie eine Frage. »Ich hab gelesen, dass man da an einigen Ecken stehen kann.«
»Stehen kannst du überall«, erwidert Aaron, »aber da ist sicherlich am meisten los.«
Ich nicke. Dann wende ich mich wieder meinem Kaffee zu, der schrecklich schmeckt, um ehrlich zu sein, aber bei einem Frühstück, das lumpige zwei Pfund kostet, darf man nicht meckern. Vor allem, wenn es neben Kaffee, Tee, Toast und Müsli auch noch sagenhafte Rosinenscones enthält. Zwei davon sind bereits in den Taschen meines Kapuzenkleids verschwunden. Wenn ich jetzt so viel esse, wie in mich reingeht, brauche ich bis zum Abend vielleicht nichts mehr. Reisen ist teuer. Edinburgh ist teuer. Es ist unsinnig, auf der einen Seite so viel Geld auszugeben, wenn man auf der anderen Seite doch nur Geld verdienen will. Aber hätte ich deshalb in Berlin bleiben sollen? Unmöglich. Und Edinburgh – einer der Straßenmusiker auf der Museumsinsel hatte mir davon erzählt. Dass man hier gut stehen könne, ohne bürokratischen Aufwand, ohne irgendwelche dämlichen Beschränkungen.
Aaron setzt sich an meinen Tisch. »Und? Wie hast du geschlafen?«
Das Mädchen neben mir wirft einen selbstgefälligen Blick in unsere Richtung, als habe sie immer schon geahnt, dass der Typ vom Empfang sich zu mir setzen würde. Isabell. Ich glaube, das ist ihr Name. Sie gehört zu den fünf Mädchen, mit denen ich mir zu meinem Leidwesen das Zimmer teile, denn mindestens vier von ihnen sind gestern Nacht erst nach zwei von ihrem Ausflug weiß Gott wohin zurückgekehrt, unfähig, sich leise oder gar im Dunklen umzuziehen, geschweige denn zu flüstern. Gefühlt hat es Stunden gedauert, bis die vier endlich Ruhe gaben, und dann konnte ich kaum noch einschlafen. Ich habe an Robin gedacht. In welchem Bett er jetzt liegt. Wie er sich dabei fühlt.
»Lina?«
»Sorry.« Ich sehe Aaron schuldbewusst an. »Was wolltest du wissen?«
»Wie du geschlafen hast.«
Und nun wird mir doch ein bisschen warm bei der Frage. Ich meine, sie einmal zu stellen, weil es eine Art Floskel ist, okay. Doch in Wiederholung? Fragt er das jede hier?
»Gut«, sage ich schließlich knapp, ohne Isabell eines Seitenblickes zu würdigen. Dann spüle ich den letzten Bissen Scone mit Orangensaft hinunter. »Ich muss jetzt los.«
»Was spielst du so?«
»Äh … dies und das.«
»Dein eigenes Zeug?«
Ich schüttle den Kopf. Noch nicht. »Cover. Pop, aber eher weniger. Indie. Altes Zeug manchmal. Im Grunde alles Mögliche.«
Das Grinsen wieder. »Das würde ich zu gern hören. Bist du um drei noch irgendwo draußen? Da hab ich frei.«
Ich hebe die Schultern. »Du wirst mich finden. Vielleicht.« Und dann bin ich verschwunden, wie um meinen Worten Wahrheit zu verleihen.
Ich bin nicht darauf aus, Freundschaften zu schließen. Erst recht will ich mich nicht auf einen Typen einlassen. Ich bin hier, um den Kopf klarzukriegen. Um Geld zu verdienen, in die Schweiz zu fahren, Robin zurückzuholen und nach Berlin zu bringen. That’s all.
Ich gehe aufs Zimmer, ziehe meine Gürteltasche aus dem Spind und mich damit auf die Toilette zurück. Ich weiß nicht, aber in Sachen Geld bin ich paranoid, also zähle ich lieber hinter der verschlossenen Klotür nach, was ich noch habe. 87 Pfund, wie es aussieht, die übrig sind von den Euros, die ich am Flughafen gewechselt habe. Die Übernachtung hier im Backpackers kostet zehn Pfund, plus zwei Pfund fürs Frühstück, der Rückflug ist glücklicherweise bezahlt. Doch alles andere muss ich erstmal verdienen, und natürlich bin ich dann noch weit entfernt von dem, was nötig sein wird, um mir und Robin eine Grundlage in Berlin zu schaffen.
War es eine Schnapsidee hierherzukommen? Hätte ich in Deutschland leichter Geld verdienen können? Klar – ich schnaube in Gedanken – als Kellnerin vielleicht oder Kassiererin im Supermarkt. Ist es das, was du willst, Stollberg?
Es ist so, Matthew, zu Beginn meiner Karriere, da habe ich eine Zeit lang versucht, bei Aldi ein bisschen was dazuzuverdienen. Aber wissen Sie was? Ich bin keine Verkäuferin. Und die Kasse klingt nur halb so schön wie meine Ukulele.
Ich verdrehe die Augen. Ich hätte genauso gut in Berlin Musik machen können. Ich hätte dortbleiben können. Bloß ausgehalten hätte ich es nicht. Der Abstand war wichtig. Und er sollte mir ein bisschen was wert sein, finde ich. Ich gehe zurück aufs Zimmer und mache mich bereit für die Straße.
Ich war Musikerin, obwohl ich noch gar keine war, Matthew. Und das hat mir geholfen, die schwierigsten Zeiten zu überstehen.
»Was murmelst du da?«, fragt eine meiner Mitbewohnerinnen, doch bevor ich ihr antworten muss, bin ich bereits aus der Tür.
Ich stehe auf den Stufen zum Eingang der Jugendherberge und lasse meinen Blick die Straße hoch und runter schweifen. Die Royal Mile ist genau das, was ihr Name verheißt: eine prächtige Straße voller alter, geschichtsträchtiger Gebäude, an deren ehemals hellen Sandsteinfassaden sich schwarzer Rauch der Zeit festgefressen hat. Die Fensterrahmen der Läden, von denen sich einer an den anderen reiht, leuchten in fröhlichen Farben – grün, violett, gelb, rot. Und Menschen ziehen hier vorbei, viele Menschen, die über das Kopfsteinpflaster flanieren, das den Eindruck von Mittelalter noch verstärkt. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft habe ich das Gefühl, dass ich womöglich nicht völlig umsonst nach Edinburgh gekommen bin, dass hier mehr auf mich wartet, als nur ein bisschen Kleingeld für meine Musik. Es riecht nach einem Anfang. Nach Veränderung. Danach, einen ersten Schritt zu machen in die Richtung, in die ich gehen möchte.
Das Zimmermädchen trommelt gegen meine Tür, nicht zum ersten Mal heute Morgen, und weckt damit den kleinen Trupp Bauarbeiter, der gerade dabei ist, mein Hirn zu sanieren. Es klopft und hämmert in meinem Schädel und allmählich beginne ich, meine Bekanntschaft mit den heimischen Whiskys zu bereuen. Es ist elf Uhr zwanzig. Ich blinzle den Radiowecker an, der neben mir auf dem Nachttisch steht. Ernsthaft? Noch nicht einmal halb zwölf? Und da muss sie solchen Lärm veranstalten?
Ich quäle mich unter der dicken, weichen Daunendecke hervor und öffne in Boxershorts die Tür, was der jungen Frau in der blauen Uniform eine hübsche Röte ins Gesicht malt. Selbst schuld, denke ich. »Fifteen minutes«, erkläre ich ihr. Dann stelle ich mich unter die Dusche.
Was ich bei meinem gestrigen Pub-Crawl unberücksichtigt gelassen habe, ist die Tatsache, dass eine Menge Alkohol notwendig ist, um rotierende Gedanken auszuhebeln oder zumindest ein Gefühl von Taubheit entstehen zu lassen. In meinem Fall: jede Menge. Und sosehr ich es genossen habe, mich einige Stunden lang nicht in meinen üblichen Gedankenspiralen zu verheddern, sosehr verachte ich den Kater, der mich umtreibt, als ich den Fuß vor das Hotel setze und in den diesigen Tag starte. Das Wetter hat wieder einmal umgeschlagen. Statt blau ist der Himmel heute milchfarben, und der Dunst hüllt Häuser und Menschen ein wie ein durchsichtiger Schleier. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach oben, greife in die Tasche nach den Zigaretten und will mich auf den Weg machen, als jemand an meinem Ärmel zieht.
»Rauchen ist schrecklich ungesund, hat dir das noch nie jemand gesagt?«
Ich schaue auf das Mädchen herunter, das mit dunklen, ernsten Augen zu mir aufblickt, als wollte es mich verhaften. Sie kann nicht älter sein als acht oder neun, sie ist schmal und klapprig wie die meisten Kinder und sie stützt sich auf Krücken, was der Schiene an ihrem linken Bein zu verdanken sein dürfte.
Ich lasse das Päckchen zurück in die Tasche gleiten. »Du hast vollkommen recht, rauchen ist eine grässlich ungesunde Angewohnheit. Fang besser nie damit an.«
»Keine Sorge, ich bin nicht dumm.« Wieder dieser ernste Blick, wieder dieses harsche Schottisch, das mit ihrem Kinderstimmchen in ziemlichem Clinch liegt.
Sie mustert mich von Kopf bis Fuß und ich muss lachen. »Was? Ich rauche nicht extrem viel, okay? Nicht wie ein Schornstein.« Ich mache eine vage Geste mit der Hand in Richtung der Stadthäuser um uns herum, deren Dächer zahllose Schlote spicken.
»Schon eine Zigarette am Tag erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen«, erklärt sie, ohne auch nur über eines der Wörter zu stolpern. »Es hilft überhaupt nichts, das Rauchen einzuschränken. Man muss schon ganz aufhören.«
»Du klingst, als hättest du eine medizinische Fachzeitschrift auswendig gelernt. Woher hast du diesen Kram?«
Sie rollt mit den Augen. »Das weiß jedes Kind.«
»Ja, darauf möchte ich wetten.«
Einige Sekunden lang mustert sie mich, dann sagt sie: »Meine Granny arbeitet in einem Krankenhaus, wenn sie im Hotel fertig ist.«
»Ah.« Ich betrachte die Kleine genauer. Sie wirkt nicht verwahrlost oder etwas in der Art, doch das Hosenbein, in dem ihr gesunder Fuß steckt, ist einen Tick zu kurz und die Farbe ihres gelben Mickymaus-T-Shirts ist rausgewaschen.
»Ist dir nicht kalt?« Ich werfe einen vielsagenden Blick auf ihre nackten Arme.
»Meine Jacke ist drinnen.«
Wie aufs Stichwort hallt eine Stimme zu uns nach draußen. »Olivia! Komm sofort wieder rein! Du sollst nicht herumholpern mit deinem Fuß! Und dann ohne Jacke!« Eine Frau stürmt um die Ecke, genauso hager wie das Mädchen und mit den gleichen dunklen Augen, die Haare zu einem grauen Dutt hochgekämmt. Granny, schätze ich. Sie wirft einen Blick auf mich, legt eine Jacke um Olivias Schultern und entschuldigt sich schließlich ausschweifend bei mir.
»Sie hat Sie doch nicht belästigt? Eigentlich sollte sie in der Küche auf mich warten. Dieses wilde Mädchen!« Und an die Kleine gerichtet: »Du wildes, ungestümes Mädchen! Was tue ich bloß mit dir? Du wirst alles noch viel schlimmer machen, wenn du nicht stillhältst. Sie hat sich das Schienbein gebrochen«, erklärt sie, an mich gewandt. »Und sie muss diese Woche noch zu Hause bleiben, bevor sie zurück in die Schule kann. Ich hab gerade niemanden, der auf sie aufpasst.«
Ein Anflug von Beklommenheit macht sich in meinem Inneren breit, eine Ahnung davon, dass ich froh sein sollte, nicht zu wissen, wo die Mutter der Kleinen steckt, weshalb ihre Großmutter in diesem Alter zwei Jobs zu bewerkstelligen hat und was all das für ein Mädchen in ihrem Alter bedeutet.
»Sie hat mich keinesfalls belästigt«, sage ich, »nur auf etwas Wichtiges aufmerksam gemacht.« Ich zwinkere Olivia zu und sie grinst mich an, ein Zahnlückenlächeln, das für noch mehr Unbehagen sorgt.
»Also dann: War nett, dich kennengelernt zu haben, Olivia.«
Genau wie ich deutet sie eine kleine Verbeugung an. »War auch nett, dich kennenzulernen …«
»Max.«
»Max.« Sie grinst noch breiter.
Ihre Oma hält die Kleine am Arm, während sie ihr die Krücken abnimmt, um ihr die Jacke anzuziehen. »Entschuldigung nochmal. Sie haben sicher Besseres zu tun.«
Ein letztes Mal winke ich Olivia zu, dann schlage ich den Weg über die Brücke ein.
Besseres, denke ich. Besseres. Als was?
Auch nach einem schwarzen Kaffee, Eiern und Speck in einem Café an der Princess Street bin ich noch nicht gänzlich zurechnungsfähig und zumindest noch unaufmerksam genug, dass ich versehentlich in die falsche Richtung renne, weshalb ich am Fuß einer gewundenen Straße lande, die auf einen Hügel führt. Ich steige hinauf.
Von hier aus kann man das Meer sehen und mir wird bewusst, dass ich vergessen hatte, dass es hier einen Hafen gibt. Auf der anderen Seite ragt die Silhouette der Stadt empor, und weil der Dunst sich inzwischen gehoben hat, die Wolken nun bedrohlicher scheinen, wirkt das Bild von Edinburgh noch ein wenig finsterer, wie eine vergilbte, in die Jahre gekommene Schwarz-Weiß-Fotografie. Die Stadt hat nichts Anheimelndes, aber alles an Faszination, so viel ist sicher.
Ich lasse mich auf einer der Parkbänke nieder und für ein paar Minuten tue ich nichts anderes, als nach vorn zu schauen, auf den Rasen vor mir, die Leute, die darauf herumwandern, das Antlitz Edinburghs dahinter. Es ist wunderschön hier oben, aber irgendwie fällt es mir schwer, mich auf die fremde Stadt und all das Neue um mich herum einzulassen. Diese Unruhe in meinem Inneren, sie beginnt erneut zu … wabern. Keine Ahnung, aber das ist exakt das Gefühl. Als wölbten und dehnten sich meine Eingeweide hierhin und dorthin, so lange, bis mir schlecht wird. Was für ein bescheuertes Bild. Aber ja, so ähnlich fühlt es sich an.
Okay.
Ich sollte mich ablenken. Einen Reiseführer kaufen. Mich mit etwas anderem als mit mir selbst beschäftigen. Auf keinen Fall herumsitzen und mir darüber Gedanken machen, was sich in meinem verdammten Leben mit all dem vielen Geld und den vielen Freiheiten und den unbegrenzten Möglichkeiten, was sich in diesem scheißversnobten Leben irgendwie verknotet haben könnte. Ich sollte ehrlich nicht so viel nachdenken. Was wundervoll ist gemessen daran, dass mir, allein in einer fremden Stadt, für die nächsten Tage gar nichts anderes übrig bleiben wird.
Ich seufze. Eine Passantin, die ihren Hund spazieren führt, wirft mir einen misstrauischen Blick zu. Also setze ich ein breites Lächeln auf und das Misstrauen vertieft sich. Letztlich ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche, um es nach, wie lange, zwei Tagen? Um es nach zwei Tagen zum ersten Mal wieder einzuschalten. Ich frage mich, ob es den Freiflug in der Gepäckhalle tatsächlich überlebt hat, und das Bild dieses verrückten Mädchens schießt mir durch den Kopf. Was sie hier will? Trotz ihres schlampigen Altkleiderlooks und ihres Rucksacks wirkte sie nicht wie eine Backpackerin. Für jemanden, der Urlaub machen will, sah sie zu angestrengt aus, zu verbissen. Seltsames Ding. Zum Glück nicht mein Problem. Frauen, die mich aus unerfindlichen Gründen nicht leiden können, haben mich Gott sei Dank noch nie interessiert.
Kaum ist das Telefon hochgefahren, da beginnt es zu brummen und zu tschirpen, dass ich mir fast wünschte, es wäre über den Jordan gegangen. Genau wie ich befürchtet hatte. Das Bild meiner Mutter leuchtet auf dem Display, und automatisch verziehen sich meine Lippen zu einem spöttischen Grinsen, während ich darauf warte, dass sie wieder auflegt. Wenn sie wüsste, dass ich ihr dieses Foto zugewiesen habe, sie würde mich umbringen. Es ist von einem der letzten Familienessen. Meine Mutter, Christiane von Linden, hochgewachsene dunkle Schönheit, öffnet ihre rubinrot geschminkten Lippen, um sich mit der Spitze ihres kleinen Fingers einen Tupfen Salatsauce aus dem Mundwinkel zu wischen. Dabei sieht sie so ungeheuer blöd aus, dass das Foto gut und gerne als Klassiker des modernen Snobismus in die Geschichte eingehen könnte.
Das Handy verstummt. Ich scrolle durch meine Nachrichten. Es sind einige von meiner Mutter (Wo steckst du? Ruf mich zurück! Wir müssen dringend wegen des Geburtstags deines Vaters miteinander reden), ein paar von dem alten Herrn selbst (Wo steckst du jetzt wieder? Deine Mutter versucht, dich zu erreichen), die meisten sind von Bela. Ich überfliege sie.
BELA: Kannst du heute Abend versuchen, ein Auge auf Leander zu haben? Meine Eltern sind in der Stadt, ich geh mit ihnen essen.
BELA: Hallo? Ja oder nein? Ich will nicht, dass wir ihn am Ende vom Gehsteig kratzen müssen.
BELA: Ganz toll, Max. Ehrlich. Klasse.
Es folgen ein paar Nachrichten darüber, wohin ich mir mein Telefon stecken kann, dass Leander schnarchend in seinem Bett liegt, dass ich mir überlegen sollte, meine Alkoholvorräte in mein Zimmer zu räumen oder sie sonst wie unzugänglich zu machen, dass ich ein Arsch bin, ihm nicht zu antworten, dann:
BELA: Wo steckst du? Bei irgendeiner Tussi? Wie heißt sie? Ich würde ihr gern sagen, dass sie sich schon mal auf einen hübschen, polnischen Abgang gefasst machen kann, das arme Ding.
BELA: Da kann man schon froh sein, wenn es nicht die eigene Freundin ist, mit der du rummachst. Stimmt’s?
BELA: Arsch.
Für einen Moment löse ich den Blick von meinem Telefon und lasse ihn stattdessen über das Häusermeer vor mir gleiten. Es herrscht Waffenstillstand zwischen Bela und mir, keine Liebe, das ist mir klar, und das Schlimmste ist, dass er mit seinen Anschuldigungen recht hat, mit jeder einzelnen davon. Hätten wir eine andere Beziehung, wenn ich kein solcher Arsch wäre? Vermutlich nicht. Hätte ein anderer mit seiner Freundin geschlafen?
Vermutlich nicht.
Die letzte Nachricht ist von heute Morgen, sieben Uhr zwanzig.
BELA: Alles klar, du bist anscheinend abgetaucht. Da Unkraut bekanntlich nicht totzukriegen ist, gehe ich davon aus, dass du lebst. Bleibt zu hoffen, dass du nicht losgezogen bist, um deiner soziopathischen Seite nachzugeben und unschuldige Leute umzubringen. Ich besuch’ dich nicht im Knast, das dürfte klar sein, oder?
BELA: Falls es dich auch nur im Entferntesten interessiert, wie es deinem FREUND geht: Leander ist nach wie vor im Zombie-Modus, reden zwecklos, Alkohol verstecken auch, denn in seinen wenigen nüchternen Momenten gelingt es ihm durchaus, sich das Zeug selbst zu besorgen. Den Rest der Zeit schläft er, wenigstens das.
BELA: Ciao.
Das habe ich in jedem Fall verdient, denke ich, während ich beginne, eine Antwort zu tippen. Warum habe ich eigentlich nicht wenigstens ihm gesagt, wo ich hinfliege? Es mag nach außen anders wirken, aber manchmal weiß ich selbst nicht, weshalb ich gegen die Norm handle, außer dass es … Spaß macht. Für gewöhnlich. Es macht Spaß zu verblüffen. Zumindest vertreibt es die Unruhe.
ICH: Ich bin in Edinburgh. Bei einem Sommerkurs. Geschichte des schottischen Altertums. In zwei Wochen bin ich spätestens zurück.
Obwohl es mitten am Tag ist und Bela vermutlich in der Schreinerei, kommt seine Antwort unmittelbar.
BELA: Schwachsinn.
BELA: Der Sommer ist vorbei.
BELA: Wo steckst du wirklich?
Ich seufze.
ICH: Ich BIN in Edinburgh. Privatstudium.
BELA: …
ICH: Okay, vergiss es. Wie geht es Lean?
BELA: Das riecht so meilenweit nach gequirlter Scheiße, sogar gegen den Wind. Was stimmt nicht mit dir? Du willst Daddy ärgern? Von mir aus. Aber warum sagst du nicht wenigstens Leander, wo du steckst – wenn schon nicht mir?
BELA: Wahrscheinlich weil du ein Arsch bist.
BELA: Und weil Leander sich sowieso nicht dafür interessiert.
ICH: Wie geht es ihm?
BELA: Wie den Zombies aus Walking Dead. Nur dass Leander keine Menschen frisst, sondern Whiskyflaschen.
ICH: Und genau deshalb hab ich nichts gesagt. Man kann ihm nicht helfen, und es interessiert ihn nicht.
BELA: Dann willst du ihn sich einfach zu Tode saufen lassen?
ICH: Ah, guck an, wer da spricht. Wie oft hast du deinen Dickschädel ins Klo der Sonne gehängt. Bist du deshalb drin ersoffen? Nein.
ICH: Gib ihm Zeit. Das ist eine Phase. Er muss erst mal verarbeiten, was passiert ist.
BELA: Klar. Du musst ihm ja auch nicht dabei zusehen. Absolut geschickter Zeitpunkt, um für ein paar Wochen zu verschwinden, das muss man dir lassen.
Noch einmal hebe ich den Blick vom Display. Entweder ich bin außer Form, oder Bela hat tatsächlich mit der Zeit gelernt, mich zu lesen. Was ich bezweifle. Es muss an mir liegen.
BELA: Okay, ich muss weitermachen.
BELA: Ach nein, warte – ich hab versucht, Jana anzurufen. Weißt du was von ihr?
ICH: Hast du sie nicht gesprochen?
BELA: Ist nicht rangegangen.
ICH: Auch nicht noch mal aufgetaucht?
BELA: Nope. Und irgendwie hab ich das Gefühl, dass Leander auch keinen Kontakt zu ihr hat.
Hm. Seltsam. Wer hätte gedacht, dass sich Jana Sailer so schnell vertreiben lässt? Weder ist sie der Typ, jemanden im Stich zu lassen, noch, sich so leicht geschlagen zu geben.
ICH: Wie gesagt, er wird aus dieser Phase auftauchen.
BELA: Wenn du meinst, Dr. Psycho.
BELA: Bin weg. Cheers. Genieß deinen Urlaub.
Ich stecke das Handy zurück in die Jackentasche, überlege es mir anders, ziehe es noch mal hervor und schalte es aus. Diese Unterhaltung hier hat kein bisschen geholfen – wobei oder wogegen auch immer. Fest steht nur, dass ich mir für meine Mutter eine bessere Ausrede einfallen lassen muss als diesen Sommerkurs, selbst wenn sie keine Ahnung davon hat, wann wo die Semester beginnen und die Sommerpausen vorbei sind.
Dieses Gespräch werde ich verschieben. Eine Schimpftirade pro Tag reicht völlig aus. Also löse ich mich von dem Anblick Edinburghs, stehe auf und mache mich auf den Weg, den Hügel hinunter.
Der gestern erworbene Kater hält sich nach wie vor tapfer und bringt zudem einen überzogenen Hunger auf fettiges, furchtbares Zeug mit sich. Nach den Eiern, die ich vermutlich noch nicht einmal verdaut habe, gelüstet es mich nach einem Burger mit Pommes, Majo, allem Drum und Dran. Also steuere ich das nächste Pub an. Die Kneipe heißt World’s End, was mir irgendwie passend vorkommt, und dort vertilge ich eine mehr oder weniger apokalyptische Mahlzeit und studiere währenddessen den Stadtplan, den mir der Hotelportier in die Hand gedrückt hat.