Teil 1

Der geschmiedete Himmel

Eines unterscheidet die Himmelsscheibe von Nebra von den meisten anderen Berühmtheiten der Archäologie: Sie ist etwas völlig Unerwartetes. So spektakulär viele Funde auch sein mögen, streng genommen sind die meisten von ihnen keine Überraschung. Als der Ägyptologe Howard Carter 1922 auf den goldfunkelnden Sarkophag des Tutanchamun stieß, war es genau das, wonach er und viele Archäologen vor ihm gesucht hatten: ein ungeplündertes Pharaonengrab. Heinrich Schliemann war fest davon überzeugt, in den Werken Homers genügend Hinweise entdeckt zu haben, um am Hellespont die Ruinen Trojas zu finden. Als er tatsächlich auf sie stieß, war das eine Sensation – für ihn selbst jedoch nur die Bestätigung seiner Erwartungen. Und der Anthropologe Donald Johanson war auf der Suche nach fossilen Überresten unserer menschlichen Vorfahren, als er in einem äthiopischen Wadi das Fragment eines homininen Unterarms fand. Überraschend war da nur, zu welch komplettem Skelett der Knochen gehörte. Abends, während das Ausgrabungsteam den Fund feierte, erklang der Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds« und bescherte der Urmenschen-Dame ihren legendären Namen.

Nach der Himmelsscheibe aber hat keiner gesucht. Man hatte nicht einmal die geringste Ahnung, dass etwas in ihrer Art überhaupt existieren konnte. Die Kultur, aus der sie stammte – Aunjetitz –, war nur Experten ein Begriff, und selbst die hätten nicht damit gerechnet, im heutigen Mitteldeutschland auf die bisher früheste Himmelsdarstellung der Welt zu stoßen.

Wäre die Himmelsscheibe in Ägypten ausgegraben worden, hätte man einen kulturellen Kontext gehabt, der ihr Verständnis erleichterte. Dann würden Ägyptologen sie mit der Sternendecke der Unas-Pyramide aus dem Alten Reich vergleichen, wo Sterne rein dekorativ wie auf einer Tapete in Reih und Glied angeordnet sind. Und wären auf die historisch späteren astronomischen Decken eingegangen, wie die berühmte aus der Sarkophaghalle des Pharao Sethos I. Die ist einige Jahrhunderte jünger als die Himmelsscheibe. Auf ihr wimmelt es von mythologischen Wesen jeglicher Couleur. Angesichts der rationalen Darstellung der Himmelsscheibe wären die Ägyptologen dann zu dem Schluss gekommen, dass die Sternenkunde am Nil doch schon viel wissenschaftlicher war, als man das bisher angenommen hatte. Das wäre eine Überraschung gewesen, eine Sensation vielleicht – aber keine Revolution unseres Wissens.

Doch im Fall der Himmelsscheibe von Nebra ist das anders. Immerhin haben wir es mit einer Region zu tun, die noch 2000 Jahre später von den Römern für barbarisch gehalten wurde. Niemand hätte dort, wo nicht einmal die Schrift existierte, nach einer solch astronomischen Meisterleistung gesucht. Während also die meisten Funde in der Archäologie bisheriges Wissen bestätigen, stellte die Himmelsscheibe es auf den Kopf. Wir mussten erst die Kultur aufspüren, die solch ein Wunderwerk erschaffen konnte.

Noch etwas anderes unterscheidet die Himmelsscheibe von normalen archäologischen Funden. Sie war anfangs nur ein dunkles Gerücht, das in der Schatzgräberszene kursierte; es war völlig unklar, wer sie besaß und was mit ihr geschah. Deshalb stand am Anfang auch keine Grabungskampagne, sondern eine Fahndung. Und aus diesem Grund können wir unser Buch nicht mit einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme der Kultur beginnen, aus der sie kommt, sondern müssen mit einem Krimi starten: mit der abenteuerlichen Rettung der Himmelsscheibe aus den Händen der Hehler.

Daran schließt sich eine weitere Besonderheit an. Kaum war sie sichergestellt, musste nach dem gesucht werden, was sonst in der Archäologie immer schon da ist: der Fundort. Nur er konnte die Geschichte der Himmelsscheibe liefern. Deshalb war es unumgänglich, die Raubgräber zu stellen und ihnen das Geständnis abzuringen, wo ihr Metalldetektor angeschlagen hatte. Erst danach war es möglich, die Himmelsscheibe zu erforschen und in jene verborgene Welt vorzudringen, an deren einstigen Glanz noch das Funkeln ihrer Sterne erinnert. Wir betrieben also Archäologie rückwärts.

Jetzt erst konnten sich Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen an die Arbeit machen. Es ist phänomenal, was sie alles an Informationen aus diesem eigentlich doch recht kleinen Objekt herausholten. Auch der Gerichtsprozess um die Himmelsscheibe trug seinen Teil zu ihrer Erforschung bei, wurde doch dort nicht zuletzt um die Frage gerungen, ob sie nicht eine Fälschung sei. Deshalb wurde noch viel mehr investiert, um ihre Echtheit zu prüfen, als das in der Archäologie ohnehin schon der Fall gewesen wäre.

Von alldem handelt der erste Teil unseres Buchs. Wir erkunden prähistorische Sternenwelten, vertiefen uns in die Geheimnisse bronzezeitlicher Metallurgie, entschlüsseln den Sternencode des geschmiedeten Himmels, gehen auf Goldsuche und schrecken bei der Fahndung nach der Herkunft des astronomischen Wissens nicht einmal vor den Dämonenwelten des alten Mesopotamiens zurück. Starten aber werden wir mit jener Geschichte, die einer von uns beiden immer und immer wieder erzählen muss und die ihm seitens der Boulevardpresse den völlig unpassenden Titel des »Indiana Jones von Halle« eintrug. Doch Harald Meller trägt weder Schlapphut noch Peitsche, und seine Suche nach der Himmelsscheibe brachte ihn an einen Ort, den Indiana-Jones-Darsteller Harrison Ford sicherlich als viel zu kurios abgelehnt hätte. Aber auch das kann Archäologie bieten.