Erstes Kapitel:
Die Wahrheit über das Denken
Komplexität ohne Ende
Eine erste Annäherung an das Denken besteht in der Überlegung, dass Denken etwas mit Komplexitätsreduktion zu tun hat. Im Denken verarbeiten wir Rohdaten zu Informationen, indem wir zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden. Dadurch können wir Muster in der Wirklichkeit erfassen. Diese Art von Komplexitätsreduktion ist eine Voraussetzung des Vermögens, uns mithilfe des Denkens in der Wirklichkeit zu orientieren.
Denken ist in der Tat eine Art Reise durchs Unendliche. Dass wir ständig der Unendlichkeit ausgesetzt sind und deswegen die Wirklichkeit im Denken vereinfachen, kann am einfachsten anhand einer alltäglich nachvollziehbaren Überlegung belegt werden:
Der Kölner Hauptbahnhof ist meistens ziemlich überfüllt. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich an einem Montagmorgen auf dem Weg zu Gleis 9, um dort einen Anschlusszug zu erwischen. Auf dem Weg versuchen Sie, anderen Reisenden auszuweichen. Vielleicht haben Sie noch etwas Zeit, sind hungrig und sehen sich unterwegs nach Verpflegung um. Womöglich suchen Sie auch noch ein kleines Mitbringsel für jemanden.
Während Sie Passanten ausweichen, die gastronomische Lage scannen und nach einem Mitbringsel Ausschau halten, fallen Ihnen bestimmte Gegenstände und Ereignisse auf. Will man Passanten ausweichen, muss man sie beobachten und in Windeseile ihre nächste Bewegung vorhersagen; sucht man nach Verpflegung, erkennt man den Supermarkt im Hauptbahnhof sowie die Currywurstbude; hält man nach einem Mitbringsel Ausschau, erwartet man je nach Vorlieben einen Blumenladen oder womöglich einen Spielzeugladen. Man achtet auf die Ereignisse, die sich im Hauptbahnhof abspielen. Schließlich soll man sich im Gewühl auch noch vor Taschendieben schützen und besonders eiligen Passanten ausweichen. All dies setzt voraus, dass man die gesamte Szene als einen Montagmorgen im Hauptbahnhof erkennt und die Einzelereignisse in die Gesamtszene einbettet.
Szenenwechsel, die erste: Stellen Sie sich nun vor, ein Physiker und ein Ingenieur haben sich auf halbwegs sicherer Distanz zum Hauptbahnhof positioniert. Sie stellen sich die Frage, wie viel Energie das System Hauptbahnhof an einem Morgen verbraucht. Hierbei beziehen sie auch den Energiehaushalt der Passanten mit ein, die zum System Hauptbahnhof gehören. All die Interessen und Erlebnisse der Passanten kommen in ihren Berechnungen allerdings nicht vor. Vielleicht macht sich der Physiker sogar ein Bild von der Sachlage, das völlig ohne den Begriff des Menschen auskommt, indem er für seine Abschätzungen nur Begriffe verwendet, die sich auf die materiell-energetische Wirklichkeit des Universums richten. Dabei wird er sich nach heutigem Stand neben der elektromagnetischen Strahlung auf die sogenannte baryonische Materie konzentrieren, also die aus Atomen aufgebaute Materie. Die dunkle Materie und die dunkle Energie, wie die Namen schon andeuten, sind uns nicht hinreichend bekannt, um in solche Berechnungen einbezogen zu werden.
Szenenwechsel, die zweite: Eine Gruppe von Außerirdischen schaut mittels einer uns nicht bekannten Technik auf denjenigen Bereich des Planeten Erde, den wir als Kölner Hauptbahnhof kennen. Die Außerirdischen wissen nicht, dass Menschen meinen, auf der Erde drehe sich alles um den Menschen. Sie sind keine Menschen und teilen weder unsere Interessen noch unsere Ängste. Daher wissen sie auch nicht, dass Menschen am Kölner Hauptbahnhof vor allem auf das Verhalten anderer Menschen achten und sich an diesem orientieren. Sie untersuchen weder die Menschen noch die Waren noch den Energiehaushalt, der durch Menschen gesteuert wird, sondern beschäftigen sich mit Gegenständen und Ereignissen auf einer ganz anderen Skala.
Vielleicht sind ihre Instrumente so hochauflösend, dass sie auf sehr kleinen Skalen wirksam sind, die unseren menschlichen Forschern nicht einmal zugänglich sind. Vielleicht sind diese Außerirdischen so klein (relativ zu unserer Größenordnung betrachtet), dass sie sich auf der Planck-Skala bewegen, also dort, wo die Gesetze der Physik, wie wir sie kennen, schon nicht mehr problemlos anwendbar sind. Womöglich orientieren sich die Außerirdischen aber auch an ganz anderen Maßeinheiten. Wer weiß, ob die Anzahl von Insekten pro Kubikmeter für sie ausschlaggebend ist, wenn sie sich etwa selber eher auf der Skala der für Insekten beobachtbaren Wirklichkeit befinden?
Wir könnten an dieser Stelle noch so lange weitere Szenenwechsel inszenieren, bis Sie keine Lust mehr haben, diesen Text zu lesen, und ich schon kurz vor dem Grab stehe, da ich immer weiter Szenenwechsel aufgeschrieben habe. Denn es gibt unendlich viele Möglichkeiten, eine einzige Szene wie diejenige eines Montagmorgens am Kölner Hauptbahnhof zu erfassen. Jeder dieser Möglichkeiten entspricht eine Wirklichkeit mit ihren Gesetzen und Ereignisabfolgen.
Ich nenne diese unendlich vielen Wirklichkeiten Sinnfelder.20 Ein Sinnfeld ist eine Anordnung von Gegenständen, in der diese auf eine bestimmte Weise zusammenhängen. Die Art und Weise des Zusammenhangs von Gegenständen nenne ich einen Sinn. Die Sinne (zum Beispiel Sehen, Hören, Schmecken) gehören zum Wirklichen (siehe S. 195 ff.). Eine gesehene Szene ist wesentlich auf das Sehen bezogen. Unser Sehen ist der Sinn einer solchen Szene. Dasselbe gilt für etwas, das wir hören. Wenn ich höre, dass es klopft, gehört mein Hören genauso zum Wirklichen wie das Klopfen. Unsere Sinne schauen nicht wie durch ein Schlüsselloch in die Wirklichkeit hinein, sondern sie sind selber beteiligt daran, wie es sich in Wirklichkeit verhält.
Natürlich gibt es auch Sinnfelder, die kein Denker erkennt. Jedenfalls haben wir keine guten Gründe, dies auszuschließen. Es wären nur dann wirklich alle Sinnfelder erkennbar, wenn es einen allwissenden Gott gäbe. Doch selbst ein allwissender Gott hätte Schwierigkeiten mit den unendlichen Sinnfeldern, weil er nicht nur alle Sinnfelder, die sich außerhalb seines eigenen Sinnfelds befinden, erkennen müsste, sondern auch sein eigenes Sinnfeld, um wirklich alles zu erkennen. Das wirft Schwierigkeiten auf, um die es in diesem Buch aber nicht gehen wird, da sie in den Bereich der philosophischen Theologie gehören.
(Nur ein kleines Gedankenexperiment dazu am Rande: Wenn Gott alles außerhalb seiner selbst und schließlich auch noch sich selbst erkennt, dann gibt es einen Gesamtbereich dessen, was Gott erkennt. Zu diesem Bereich gehören dann sowohl Gott als auch die Welt [alles, was nicht Gott ist]. Wenn Gott sich aber dauernd mit Gott und der Welt befasst, befasst er sich dann auch damit, dass er sich dauernd mit Gott und der Welt befasst? Und damit, dass er sich damit befasst, dass er sich damit befasst, dass er sich dauernd mit Gott und der Welt befasst? Kann Gott über Gott und die Welt nachdenken und dabei gleichzeitig darüber nachdenken, dass er über Gott und die Welt nachdenkt? Ein Fass ohne Boden.)
Die Pointe dieser ganzen Überlegung zum unendlichen Szenenwechsel besteht darin, dass es keine privilegierte Wirklichkeit gibt, kein Sinnfeld, von dem aus man sinnvollerweise alle Sinnfelder erfassen und erkennen könnte. Selbst wenn man das angerissene Gottesproblem lösen könnte, würde dies an der menschlichen Position wenig ändern, da wir ja nicht Gott und folglich auch nicht allwissend sind. An die Stelle der einen Welt oder der einen Wirklichkeit tritt eine Unendlichkeit von Sinnfeldern. Das Wirkliche gibt es nicht im Singular, vielmehr handelt es sich beim Wirklichen um eine irreduzible, niemals zu vereinfachende Komplexität.
Dieser Komplexität werden wir übrigens auch nicht dadurch Herr, dass wir einen Singular verwenden wie die Wirklichkeit oder die Komplexität. Es soll hier nur angezeigt werden, dass keine Untersuchung auch nur einer einzigen Szene, die uns vertraut vorkommt, alles erfassen kann, was zu dieser Szene gehört. Schließlich gehört auch immer die Möglichkeit eines Szenenwechsels dazu. Und niemand kann eine Szene wie den Montagmorgen am Kölner Hauptbahnhof zusammen mit allen möglichen Szenenwechseln erfassen.
Denken? Was ist das eigentlich?
Damit kommen wir zum Protagonisten dieses Buchs, dem Denken. Als vorläufige Annäherung an das Denken können wir sagen, dass es eine Reise durch Sinnfelder ist, die das Ziel hat, uns durch die Erfassung von Tatsachen eine Orientierung im Unendlichen zu ermöglichen. Denken ist das Fassen von Gedanken. Ein Gedanke ist ein Inhalt des Denkens. Es ist dasjenige, was man erfasst. Ein Inhalt des Denkens beschäftigt sich damit, was in einem Sinnfeld geschieht, etwa mit dem Dargestellten auf einem Gemälde David Hockneys. Denkinhalte haben eine Form. Sie sorgen dafür, dass der oder dem Denkenden ein Gegenstand – etwa jemand, der gerade in einen Pool gesprungen ist – auf eine bestimmte Weise erscheint. Das drückt man in der Philosophie üblicherweise so aus, dass etwas als etwas erfasst wird. Ich erfasse zum Beispiel jemanden, der gerade in einen Pool gesprungen ist, als einen Schwimmer. Deswegen versuche ich nicht, diese Person zu retten, sondern schaue mir die Szene mehr oder weniger unbeteiligt an. Gedanken haben also einen Gegenstand. Der Gegenstand eines Gedankens ist dasjenige, wovon der Gedanke handelt. Der Inhalt eines Gedankens ist dagegen die Art und Weise, wie der Gedanke von seinem Gegenstand handelt (als was beziehungsweise wie einem Denker sein Gegenstand erscheint).
Wie ich noch erklären werde (siehe S. 300 ff.), können wir Gedanken nicht produzieren, sondern nur rezipieren. Gedanken fallen uns ein. Wir können lediglich die Empfänger sein, also unser Denken auf die richtige Wellenlänge einstellen. Der US-amerikanische Philosoph Mark Johnston (*1954) spricht demzufolge davon, dass wir im Denken keine »Präsenzproduzenten (producers of presence)« sind, sondern »Probesonden (samplers of presence)«.21 Also empfangen wir Daten, steuern diesen Vorgang aber nicht dadurch, dass wir die Daten vorher bearbeiten.
Das Denken setzt Wegmarken, an denen es sich orientiert. Eine Wegmarke zur Orientierung durch den Kölner Hauptbahnhof ist der Begriff des Passanten, eine andere der Begriff des Gleises. Ein Begriff erfüllt die Funktion des Gleichsetzens von Ungleichem, was der britische Philosoph Hilary Lawson (*1954) insgesamt als Denken bestimmt. Die Idee geht nicht auf Lawson zurück, sondern bestimmt die Philosophiegeschichte von Platon bis Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969), der sie 1966 in seinem Buch Negative Dialektik einer gründlichen Kritik unterzogen hat.22 Die Idee, dass Denken = Verzerren ist, ist die Quelle unzähliger Denkfehler, die hier demaskiert werden.
Um zu verstehen, was eigentlich auf dem Spiel steht, möchte ich diesen Gedanken einmal illustrieren. Gleis 1 und Gleis 9 des Kölner Hauptbahnhofs sind im Einzelnen ziemlich verschieden. Die Treppenstufen sind nicht in gleichem Maß beschmutzt, andere Zuglinien halten dort, und die Schienen sind physikalisch gesehen auch nicht identisch, da sie unterschiedlich abgenutzt sind. Außerdem befindet sich Gleis 1 an einer anderen Stelle als Gleis 9. Das heißt philosophisch ausgedrückt, dass Gleis 1 und Gleis 9 sich dadurch voneinander unterscheiden, dass sie im Einzelnen verschiedene Eigenschaften haben. Eine Eigenschaft ist etwas, wodurch sich etwas von etwas anderem unterscheidet, mit dem man es ansonsten verwechseln könnte.
Obwohl Gleis 1 und Gleis 9 aufgrund ihrer verschiedenen Eigenschaften nicht identisch sind, sind sie vergleichbar. Ihre Vergleichbarkeit wird durch die Funktion hergestellt, die sie übernehmen. Sowohl an Gleis 1 als auch an Gleis 9 halten Züge. Der Fahrplan gibt Auskunft darüber, wann genau welcher Zug wohin abfährt – oder zumindest, wie dies vorgesehen ist. Gleis 1 und Gleis 9 sind demnach zwar nicht identisch, aber in einigen Hinsichten ähnlich. Diese Ähnlichkeiten von Gleis 1 und Gleis 9 sind im Begriff des Gleises zusammengefasst. Ein Begriff übernimmt häufig die Funktion des Gleichsetzens des Ungleichen. Deswegen sind Begriffe ziemlich nützlich. Ohne sie könnten wir uns nicht orientieren. Sie sind die Wegmarken, dank derer wir überhaupt etwas erkennen können.
Denken ist dasjenige Medium, in dem wir uns auf unserer Reise durchs Unendliche orientieren. Es gibt die Richtung vor, in der wir nach Gegenständen und Ereignissen Ausschau halten, die für bestimmte Zwecke wichtig sind, etwa für den Zweck, seinen Zug zu erreichen oder auf dem Weg durch den Hauptbahnhof eine Apfelschorle zu kaufen. Natürlich kann man sich im Hauptbahnhof auch ganz anders orientieren, zum Beispiel, wenn man dort Drogen verkaufen möchte oder auf der anderen Seite des Gesetzes als Polizist versucht, die Drogendealer zu identifizieren. Auch Spionagearbeit am Kölner Hauptbahnhof kommt sicherlich vor und wird nur von den allerwenigsten bemerkt. Denn um Spionagearbeit zu erkennen, braucht man Begriffe, die Spione und Geheimdienste, wie ihr Name schon sagt, lieber geheim halten wollen.
Nicht nur Menschen können denken
Ohne zu denken könnten wir uns nicht im Unendlichen orientieren. Dank Ihres Denkens können Sie nachvollziehen, was ich hier über den Kölner Hauptbahnhof geschrieben habe. Sie stellen sich die skizzierten Szenen sicherlich irgendwie vor. Die Art und Weise, wie Sie sich die Szene vorstellen, ist eine Ausübung Ihrer Einbildungskraft, die Teil Ihres Denkens ist. Sich etwas in der Einbildungskraft auszumalen ist eine Art und Weise, einen Gedanken zu erfassen, das heißt zu denken.
Das Denken ist kein Privileg des Menschen. Andere Lebewesen orientieren sich auch. Sie verfügen ebenfalls über Begriffe, die sie im Denken als Wegmarken einsetzen. Ein Schwein denkt etwa, dass es Futter erhalten wird. Es denkt, dass Gefahr bevorsteht, wenn man mit erhobener Axt bedrohlich auf es zurennt. Es denkt sicherlich noch viele Gedanken mehr, von denen wir keine Ahnung haben, da im Schweineleben andere Wegmarken wichtig sind. So wie Schweine nicht einmal ahnen können, wer Super Mario ist, und warum er größer wird, wenn er einen Pilz einfängt, können wir nicht einmal ahnen, was im Schweineleben alles vorfällt und welche Begriffe Schweine einsetzen, um sich in den Sinnfeldern auszutoben, die für sie wichtig sind.
An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir uns ausdrücklich von einem Vorurteil befreien, das aus der Philosophie des letzten Jahrhunderts stammt. Dieses Vorurteil trägt den Namen »linguistische Wende«. Die linguistische Wende ist die Umstellung von der Untersuchung des Wirklichen auf die Untersuchung unserer sprachlichen Werkzeuge zur Untersuchung des Wirklichen.