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Die Autorin

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Prof. Dr. Kathrin Mahlau ist Sonderpädagogin und lehrt als Professorin am Lehrstuhl für Sonderpädagogik und Inklusion in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung der Universität Greifswald. Als Sprachheilpädagogin unterrichtete sie mehrere Jahre in Sprachheilklassen und in Klassen im Förderschwerpunkt Lernen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Diagnostik und Förderung bei Kindern mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten und Lese-Rechtschreibauffälligkeiten.

Kathrin Mahlau

Kinder mit Sprachauffälligkeiten

Förderung in inklusiven Schulklassen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033832-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033833-3

epub:   ISBN 978-3-17-033834-0

mobi:   ISBN 978-3-17-033835-7

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache – Wo stehen wir? Wo wollen wir hin?
  2. 2 Die Sprachentwicklung und ihre Bedeutung für das weitere Leben und Lernen
  3. 2.1 Die normale Sprachentwicklung
  4. 2.2 Welche sprachlichen Probleme erschweren Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen das Lernen? – Die gestörte Sprachentwicklung
  5. 2.3 Welche Bedeutung hat Sprache für den Unterricht der Grundschule?
  6. 3 Handlungsmöglichkeiten zur Sprachförderung in inklusiven Schulklassen
  7. 3.1 Diagnostisches Vorgehen – vom Klassenscreening bis zum Förderplan
  8. 3.2 Handlungsmöglichkeiten zur Sprachförderung im Klassenkontext
  9. 3.3 Handlungsmöglichkeiten für die spezielle Sprachförderung
  10. 3.4 Zusammenfassung
  11. 4 Sprachförderung im Rügener Inklusionsmodell
  12. 4.1 Feststellung der sprachlichen Leistungsfähigkeit
  13. 4.2 Sprachförderung und evidenzbasierte Praxis
  14. 4.3 Fazit und abschließende Hinweise zur praktischen Umsetzung
  15. Literatur

1          Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache – Wo stehen wir? Wo wollen wir hin?

 

 

 

Innerhalb ihrer Arbeit stehen viele Lehrkräfte vor der Aufgabe, Mädchen und Jungen mit eingeschränkten Kenntnissen der deutschen Sprache zu unterrichten. Die Lehrerinnen und Lehrer stellen sich die Frage, wie sie einen möglichst optimalen Unterricht gestalten und gleichzeitig die unterschiedlichen sprachlichen Auffälligkeiten der Kinder berücksichtigen können. Um diese Aufgabe zu erfüllen, besteht für die in der Grundschule tätigen Lehrkräfte ein erheblicher Professionalisierungsbedarf. Nach Lüdtke (2015, S. 39) müssen alle »im Feld tätigen Professionen für die neuen, spezifischen Anforderungen inklusiver schulischer Praxis explizit qualifiziert« werden. Dieser Anspruch bezieht sich sowohl auf Sprachheil- oder Sonderpädagoginnen und -pädagogen und akademische Sprachtherapeuten als auch auf Lehrkräfte der Primar- und Sekundarstufe.

Das Paradigma der Inklusion impliziert Unterrichts- und Förderangebote unter einem Dach für Kinder mit und ohne Förderbedarf, mit dem Ziel einer gelingenden Bildungsteilhabe für alle. Für Mädchen und Jungen mit Problemen im Spracherwerb erfolgt die Sicherstellung der Bildungsteilhabe nicht mehr wie bisher in speziellen Sprachheilklassen, sondern im gemeinsamen Unterricht, der die sprachlich-kommunikative Barrierefreiheit zu gewährleisten hat. Um einen inklusiven Unterricht erfolgreich umsetzen zu können, bedarf es einer Erweiterung der Aufgabenfelder von Lehrkräften um die sprachheilpädagogische Fachexpertise. Sach- und Methodenkompetenz sollten um basale Kenntnisse im Umgang mit sprachentwicklungsauffälligen Kindern erweitert werden (Grohnfeldt, 2011; Lüdtke, 2015; Mahlau & Herse, 2017; Reber & Schönauer-Schneider, 2017).

Lehrkräfte benötigen daher Fachwissen über sprachliche Störungsbilder sowie Begleit- und Nachfolgeprobleme, die mit Spracherwerbsstörungen einhergehen, und Kenntnisse über sprachlich-kommunikative Barrieren und deren Verhinderung. Dabei können Synergieeffekte zwischen verschiedenen Professionen, v. a. zwischen Grundschul- und Sprachheilpädagoginnen und -pädagogen, helfen, eine hohe Qualität des Unterrichts zu sichern und die Bewältigung der Alltagsaufgaben in einer inklusiven Schule zu erleichtern.

Der Weg zu einer erfolgreichen inklusiven Beschulung von spracherwerbsbeeinträchtigten Kindern ist in Deutschland an vielen Stellen noch ungeklärt (Bless, 2017). Es lässt sich jedoch festhalten, dass in Deutschland vergleichsweise günstige Voraussetzungen zur Umsetzung einer vielfältigen Förderlandschaft für sprachentwicklungsauffällige Kinder vorliegen. So vermittelt die sprachheilpädagogische Ausbildung sowohl sprachtherapeutische als auch curriculare Inhalte sowie Didaktik und Methodik bei Kindern mit besonderen sprachlichen Entwicklungsproblemen. Diese Kenntnisse sind zentrale Elemente zur Umsetzung eines inklusiven Beschulungskonzepts für Schülerinnen und Schüler mit hohem Förderbedarf im Bereich Sprache. Sie sind u. a. Grundlage für Unterstützungsangebote in den Bereichen der Diagnostik, Prävention und Förderung, spezifische therapeutische Angebote, einen die jeweilige Sprachauffälligkeit berücksichtigenden Unterricht und Beratungssysteme auf verschiedenen Ebenen (Mahlau, 2016a; Reber, 2012).

Die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (Glück, Reber, Spreer & Theisel, 2014) führt in ihrem Positionspapier zur inklusiven Beschulung von Kindern mit einem Förderbedarf im Bereich Sprache ausführlich die Erfassung individueller Auffälligkeiten sowie die Reduzierung sprachlicher Barrieren durch sprachtherapeutische Angebote auf, welche mit personenorientierten, systembezogenen Maßnahmen von Beratungsprozessen bis hin zu sonderpädagogischer Unterstützung mit therapeutischem Charakter reichen. Kinder mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten zeigen häufig unzureichende Lernvoraussetzungen oder andere schulrelevante Entwicklungsprobleme. Diese sollten frühzeitig erkannt und ausgleichend gefördert werden, damit die betroffenen Mädchen und Jungen die schulischen Anforderungen so erfolgreich wie möglich bewältigen können (image Abb. 1). Neben der individuellen Förderung in den Sprachentwicklungs- und Lernbereichen sollten auch die soziale Integration und eine gesunde emotionale und soziale Entwicklung im Mittelpunkt inklusiver pädagogischer Bemühungen stehen (Mahlau & Salzberg-Ludwig, 2015).

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Abb. 1: Unterstützungsbereiche im Förderschwerpunkt Sprache (leicht modifiziert nach Glück et al., 2014, S. 5)

Glück et al. (2014) unterscheiden die in Abbildung 1 dargestellten Bereiche zur Umsetzung einer gelingenden Beschulung sprachauffälliger Mädchen und Jungen im inklusiven Unterricht. Auf der Grundlage diagnostischer Ergebnisse sollen präventive Unterstützungsangebote stattfinden, die der Manifestation vorliegender Sprachstörungen entgegenwirken oder Sekundärsymptomatiken verhindern.

Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Beratung, bei der sowohl Kinder und deren Eltern als auch die Regelschulpädagoginnen und -pädagogen berücksichtigt werden und konkrete Hilfestellungen für die Umsetzung eines sprachförderlichen Unterrichts erhalten. Dazu sind Fortbildungen notwendig, in denen Informationen zur normalen und gestörten Sprachentwicklung gegeben sowie therapeutische und förderliche Konzepte thematisiert werden.

Weiterhin stellen Aufgaben der Diagnostik einen zentralen Baustein einer inklusiven Förderung dar. »Diagnostische Aufgabenstellungen von Sprachheilpädagogen im inklusiven Kontext betreffen die Lernleistungs- und allgemeine Entwicklungsdiagnostik, die Kind-Umfeld-Analyse, die Lernfortschrittsdiagnostik und insbesondere die Sprachdiagnostik« (ebd., S. 6). In dem für jedes sprachentwicklungsauffällige Kind zu erstellenden Förderplan sind Maßnahmen und ggf. Modifikationen und Zielstellungen festzulegen sowie die Zuständigkeiten der beteiligten Lehrpersonen zu regeln.

Den größten Bereich stellt der Unterricht dar. Hier werden, je nach Ausmaß des Unterstützungsbedarfs, schulische Angebote berücksichtigt, die von allgemeinen Prinzipien qualitativ guten Unterrichts bis zu individuellem sonderpädagogischen Förderbedarf reichen. Dabei sollten in allen Fächern Maßnahmen zur sprachlichen Bildung erfolgen. Bei Kindern mit einem erhöhten pädagogischen Förderbedarf werden spezielle Maßnahmen in Kleinklassen (z. B. LRS-, Sprachheilklassen) bzw. in Gruppen empfohlen. Glück et al. (2014) verweisen darauf, dass spezielle Maßnahmen auch von speziell ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen verantwortet werden sollten. Diese setzen Qualitätsmerkmale sprachheilpädagogischer Kompetenz um, wie eine sprachwissenschaftlich qualifizierte Beschreibung der kindlichen Sprachäußerungen, eine Sprachentwicklungsorientierung, die methodische Angemessenheit und die Bildungszielorientierung. Ziel ist es, dass Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Sprache die Bildungsstandards der Regelschule erreichen. Dazu ist die besondere Gestaltung des Unterrichts (im Sinne eines sprachheilpädagogischen Unterrichts, s. Braun, 2005) notwendig. Unter welchen Rahmenbedingungen dieses spezielle Bildungsangebot realisiert wird, an allgemeinen Schulen im gemeinsamen Unterricht, in Kooperationsklassen oder in Spezialklassen oder an spezialisierten Förderschulen, ist nach Auffassung der Autoren kein entscheidender Faktor.

Die Bereiche der Förderung und Therapie bleiben v. a. den Mädchen und Jungen mit Sprachentwicklungsstörungen vorbehalten. Mit Hilfe von Screeningverfahren werden Kindergruppen gebildet, mit denen spezielle Fördermaßnahmen durchgeführt werden. Diese Maßnahmen können unterschiedliche Bereiche, wie den sprachlichen Ausdruck, den Wortschatz oder auch die phonologische Bewusstheit betreffen und unterrichtsimmanent oder additiv zum Unterricht erfolgen. Für besonders schwerwiegend beeinträchtigte Kinder sollten individuelle Angebote in einem Einzelsetting vorgehalten werden, um therapeutische Maßnahmen umzusetzen. Der Erfolg der therapeutischen Maßnahmen wird in praktisch sinnvollen Abständen kontrolliert und weitere Therapiemaßnahmen entsprechend angepasst (Glück et al., 2014).

Der Bereich der sozialen Integration wurde in der obigen Abbildung ergänzt. Die soziale Integration ist bei inklusiv beschulten Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf häufig ungünstiger als bei Schülerinnen und Schülern ohne einen besonderen Förderbedarf (Huber, 2009). Besonders Kinder mit Sprachentwicklungsproblemen haben es sehr schwer, von Gleichaltrigen sozial anerkannt zu werden (Mahlau & Salzberg-Ludwig, 2015). Dies stellt für die Kinder ein erhebliches, die gesunde emotionale und soziale Entwicklung gefährdendes, Problemfeld dar und sollte im Kontext gelingender Inklusion Beachtung finden (Marten & Blumenthal, 2017).

Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Die Grundschulpädagogik und die Sprachheilpädagogik stehen aktuell vor der Aufgabe, die inklusive Beschulung von Kindern mit sprachlichen Auffälligkeiten qualitativ hochwertig umzusetzen, sodass den Kindern trotz eingeschränkter Sprach- und Lernentwicklungsvoraussetzungen ein erfolgreiches, altersentsprechendes Lernen ermöglicht wird. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es unterschiedlichste, flexibel kombinierbare Unterstützungsangebote. Dazu zählen u. a. das Erkennen von sprachlichen Schwierigkeiten in der Grundschule, die Aufbereitung des Unterrichts nach spezifischen, die Sprachstörung berücksichtigenden, Kriterien, sprachspezifische Fördermaßnahmen im Unterricht und in Einzel- oder Kleingruppen sowie Beratungsangebote und in Einzelfällen eine gut koordinierte Netzwerkarbeit.

Zentrale Voraussetzung zur Umsetzung dieser Unterstützungsangebote ist eine ausreichende Professionalisierung der beteiligten Fachkräfte. Während sprachspezifische Maßnahmen von ausgebildeten Sprachheilpädagoginnen und -pädagogen umgesetzt werden, erfolgt die zeitlich deutlich umfassendere Unterstützung durch die Grundschullehrkraft, welche ebenfalls ein grundlegendes Wissen über (gestörte) Spracherwerbsprozesse und deren Berücksichtigung bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten haben sollte. Beide Formen der Hilfe müssen spezifisch und qualitativ hochwertig sein (Glück et al., 2014; Grohnfeldt, 2015). Konzeptionen inklusiven Unterrichts für den Förderschwerpunkt Sprache sollten dies berücksichtigen (Mahlau, 2017; 2016a).

Mit diesem Buch soll insbesondere den Grundschullehrkräften, aber auch Sonderpädagoginnen und -pädagogen sowie weiteren Personen, die im schulischen Kontext mit sprachlich auffälligen Kindern arbeiten, eine Unterstützung zur Planung und Umsetzung von sprachförderlichen Maßnahmen in die Hand gegeben werden, die zu einer gelingenden Sprachförderung im inklusiven Unterricht führen. Dazu ist es notwendig, sich theoretisches Hintergrundwissen anzueignen, wie es im Kapitel 2 dargestellt wird. Unter Kapitel 2.1 wird dargelegt, welche sprachlichen Ebenen es gibt und was ein Kind sprachlich können sollte, wenn es eingeschult wird. Danach wird zur gestörten Sprachentwicklung übergeleitet. Welche sprachlichen Probleme werden in der Fachwissenschaft unterschieden (image Kap. 2.2) und beeinflussen das Lernen und die emotional-soziale Entwicklung (image Kap. 2.3)? Das umfangreichste dritte Kapitel widmet sich dem Kernstück dieses Buches, den Handlungsmöglichkeiten zur Sprachförderung im inklusiven Unterricht. In Kapitel 3.1 wird ein diagnostischer Ablauf vorgestellt, um den Sprachentwicklungsstand der Kinder mit und ohne sprachliche(n) Auffälligkeiten einzuschätzen. Es wird die Ableitung von Förderzielen und Fördermaßnahmen erläutert, welche in einem Förderplan schriftlich festgehalten werden. Danach erfolgt in Kapitel 3.2 die Darlegung sehr umfangreicher, praxisnaher und durch viele Beispiele veranschaulichter Handlungsmöglichkeiten zur sprachlichen Förderung im inklusiven Unterricht und in Fördergruppen. Diese Handlungsmöglichkeiten orientieren sich an den »Kerndimensionen eines komplementären Unterstützungsprofils für Sprache und Kommunikation« (Lüdtke, 2015; Stitzinger, 2013b). Vorschläge zur Umsetzung einer spezifischen, therapeutisch orientierten Sprachförderung (image Kap. 3.3) ergänzen dieses Kapitel. Eine erfolgreich in die Praxis umgesetzte Konzeption inklusiven Unterrichts für Kinder mit sprachlichen Auffälligkeiten stellt das »Rügener Inklusionsmodell« dar, das im Kapitel 4 beschrieben wird. In einem Fazit werden gelungene Konzeptelemente und Problemfelder betrachtet, die es zu beachten gilt, wenn Kinder mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten nach dem Rügener Inklusionsmodell unterrichtet werden.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird für Personen und Berufsbezeichnungen überwiegend die maskuline Form verwendet, wobei die feminine Form selbstverständlich eingeschlossen ist.

2          Die Sprachentwicklung und ihre Bedeutung für das weitere Leben und Lernen

 

 

 

Eine besonders bedeutsame Entwicklungsaufgabe im Kindesalter ist der Erwerb der sprachlichen Fähigkeiten. Die meisten der monolingual aufwachsenden Kinder durchlaufen eine ungestörte Sprachentwicklung, jedoch ist mit einer Häufigkeit von 5 bis 8 % kein anderer Bereich so oft von Störungen betroffen, wie die Sprachentwicklung (Grimm, 2003). Da das Erlernen der Sprache auch für weitere Entwicklungsbereiche grundlegend ist, zeigen sich eine Vielzahl von nachfolgenden oder begleitenden Problemen, die besonders die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung betreffen. Lehrkräfte sollten wissen, dass das schulische Lernen durch eine Sprachentwicklungsstörung umfassend beeinträchtigt sein kann (u. a. Gasteiger-Klicpera & Klicpera, 2005; Mahlau, 2008; Ritterfeld, Starke, Röhm, Latschinske, Wittich & Moser Opitz, 2013; Schröder & Ritterfeld, 2014). So zeigen sich bei gut 50 % der Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen Probleme beim Erlernen der Schriftsprache (Arand, 1998; Gasteiger-Klicpera & Klicpera, 2005), der Mathematik (Ritterfeld et al., 2013) und im allgemeinen Erwerb und Anwenden von Wissen (Dannenbauer, 2009; Mahlau & Jeschke, 2014). Viele der Kinder sind doppelt oder sogar dreifach beeinträchtigt (Mahlau & Jeschke, 2014). Bei ein und demselben Kind können sowohl die Sprachentwicklung als auch der Schriftspracherwerb als auch das allgemeine schulische Lernen als auch der emotional-soziale Bereich betroffen sein.

Zudem sind Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsproblemen einem erhöhten Risiko für soziale und emotionale Störungen ausgesetzt. Davon ist nach Angabe von Grimm (2003) ein erheblicher Anteil – zwischen 40 % und 80 % – betroffen. Die Kinder zeigen neben den Sprachentwicklungsproblemen Auffälligkeiten in der Aufmerksamkeit, im Sozialverhalten und in der emotionalen Grundstimmung (Amorosa, 2008). Lehrkräfte sollten weiterhin wissen, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen Schwierigkeiten haben, Freunde zu finden und Freundschaften zu halten (Durkin & Conti-Ramsden, 2007). Sie gehören zu den sozial am wenigsten integrierten Kindern (Mahlau & Salzberg-Ludwig, 2015).

Im Folgenden soll nun der normale sprachliche Entwicklungsstand von Kindern im Grundschulalter beschrieben werden, anschließend wird vergleichend auf den gestörten Sprachentwicklungsverlauf eingegangen.

2.1       Die normale Sprachentwicklung

Der Erwerb der Sprache ist ein äußerst komplexer Vorgang. Es werden nicht nur Fähigkeiten zur Bildung aller Laute der Muttersprache erworben, sondern auch viele Wörter der Umgebungssprache, Kenntnisse darüber, wie Sätze korrekt gebaut werden, und Kompetenzen des Erzählens und Beschreibens. Ziel der Sprachentwicklung ist es, mit anderen Personen verbal in Beziehung zu treten, also zu kommunizieren. Damit ist es möglich, Wünsche und Informationen anderen mitzuteilen, sich als sozial kompetent und anerkannt zu erleben und sich selbst zu verwirklichen.

Die sprachliche Umgebung des Kindes hat einen hohen Einfluss auf seine Sprachentwicklung. Studien zeigen, dass Kinder mit weniger oder ungünstiger Sprachanregung, z. B. aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit Migrationshintergrund, später mit dem aktiven Spracherwerb beginnen, weniger Wörter erwerben und damit ein höheres Risiko haben, sprachliche Störungen zu entwickeln, als andere Kinder (Grimm, 2003).

In der Linguistik (Braun, 2005) differenziert man »Sprache« in vier Ebenen (image Tab. 1). Diese bilden die Grundlagen, um Sprache hinsichtlich ihrer Struktur und Funktion zu beschreiben, und dienen gleichzeitig dem Ableiten von diagnostischen und von Fördermaßnahmen (Mahlau & Herse, 2017; Reber & Schönauer-Schneider, 2017; 2014).

Sprache lässt sich in die Ebenen der Aussprache, des Wortschatzes, der Grammatik und der Kommunikation systematisieren. Jede Ebene teilt sich nochmals in zwei weitere Unterebenen sowie in die aktive (produktive) und passive (rezeptive) Dimension. Bei der aktiven Sprachverwendung, der Sprachproduktion, geht es darum, was das Kind selbst aktiv zu äußern vermag. Wie groß ist der von ihm beim Sprechen verwendete Wortschatz, welche Laute kann es produzieren, welche Satzformen bildet es schon? Das Sprachverständnis, die rezeptive Seite der Sprache, gibt uns Hinweise darauf, ob das Kind versteht, was andere Personen sagen.

Tab. 1: Die Sprachebenen – Inhalt und Beispiele

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SprachebeneUnterebeneFähigkeitBeispiel

Kenntnisse über die sprachlichen Ebenen sind bedeutsam, wenn beurteilt werden soll, ob Kinder über eine altersgerechte Sprachentwicklung verfügen, oder ob möglicherweise Probleme im Spracherwerb vorliegen. Was sollte ein Kind sprachlich können, wenn es in die Schule kommt? Ein körperlich und psychisch altersgerecht entwickeltes Kind, das in einer entwicklungsgünstigen Umwelt aufgewachsen ist, sollte mit sechs Jahren seine Muttersprache im Wesentlichen produktiv und rezeptiv verinnerlicht haben. In der Infobox 1 wird das zu erwartende sprachliche Können von Schulanfängern zusammengefasst, bevor im nächsten Abschnitt auf die umschriebene Spracherwerbsstörung eingegangen wird.

Infobox 1: Sprachliche Fähigkeiten von Schulanfängern

•  Auf der Ebene der Aussprache sollten alle Laute und Lautverbindungen korrekt gebildet werden können. Auch Zischlaute und schwierige Konsonantenverbindungen wie [kr] oder [gl] müssen die Kinder korrekt aussprechen. Laut(fehl)bildungen, die offensichtlich durch den Zahnwechsel verursacht sind ([s]-Laute), werden erst nach dem vollständigen Auswachsen der vorderen Schneidezähne beurteilt.

•  Im Bereich des Wortschatzes haben die Kinder ca. 2.500 bis 3.000 Wörter durch Wissenszuwachs und die Anwendung von Wortbildungsregeln erlernt. Sie sollten sich differenziert ausdrücken können, also auch Wörter, die semantisch aus einem Wortfeld kommen und sich nur gering unterscheiden (laufen, rennen, schlendern, wandern, gehen), aktiv korrekt verwenden.

•  Im Bereich der Syntax kann ein ca. sechsjähriges Kind in seiner Muttersprache komplexe Satzkonstruktionen verstehen und bilden. Dazu gehören längere Hauptsätze sowie Nebensatzstrukturen. Auch im Bereich der Morphologie sind Wortableitungen der Pluralbildung, der Akkusativ- und zunehmend auch der Dativbildung zu erwarten.

•  Auf der Ebene der Kommunikation und Pragmatik sollte es eigene Gedanken für andere nachvollziehbar ausdrücken und Geschichten nacherzählen können. Weiterhin kann es – abhängig von individuellen Erfahrungen – abstrakte Bedeutungen und sprachliche Hintergründigkeiten (Witz, Ironie, Sarkasmus) verstehen (Rosenkötter, 2008).

2.2       Welche sprachlichen Probleme erschweren Kindern mit Sprachentwicklungs-störungen das Lernen? – Die gestörte Sprachentwicklung

2.2.1     Umschriebene Spracherwerbsstörungen

Definition und Prävalenz

Die umschriebenen Spracherwerbsstörungen werden nach der ICD-10-GM (International Classification of Diseases and Releated Health Problems, 10. Revision; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DMDI], 2017) als eine Entwicklungsstörung definiert, bei der die Fähigkeit des Kindes, die expressiv und rezeptiv gesprochene Sprache zu gebrauchen, deutlich unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegt. Dabei sind die normalen Spracherwerbsverläufe von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt. Unter der Kennnummer F80.- wird eine Reihe von Ausschlusskriterien benannt. So werden Kinder ausgeschlossen, bei denen die Ursache für ihre Sprachstörung nicht direkt mit neurologischen Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht werden kann (z. B. Aphasien), im sensorischen Bereich (z. B. hör- oder sehbeeinträchtigte Kinder) oder in den nonverbalen kognitiven Fähigkeiten (z. B. durch eine kognitive Beeinträchtigung) oder in auffälligen emotionalen Störungen bzw. Problemen in den zwischenmenschlichen Beziehungen (z. B. eine schwere Verhaltensstörung) begründet ist. Die ICD-10-GM unterscheidet die Artikulationsstörung, die expressive und die rezeptive Spracherwerbsstörung. Umschriebene Spracherwerbsstörungen können von auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen begleitet werden. Für den deutschsprachigen Raum konnte Grimm (2003) anhand unterschiedlicher linguistischer Analysen zeigen, dass betroffene Kinder strukturell abweichende Sätze produzieren, die im normalen Sprachentwicklungsverlauf nicht vorkommen. Auch für Fromm, Schöler und Scherer (1998) ist die Sprachentwicklungsstörung die »Folge eines qualitativ andersartigen, gestörten Spracherwerbs« (ebd., S. 22), der nicht als Verzögerung anzusehen ist.

Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA; Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003) werden expressive und gemischt expressiv-rezeptive Sprachdefizite unter dem Störungsbild Language Disorder zusammengefasst. Beide Sprachdimensionen, die expressive und auch die rezeptive Fähigkeit, müssen diagnostisch erfasst werden, um das Störungsbild ausreichend darzustellen (APA; Saß et al., 2003). Neben Störungen in der Artikulation sowie im Sprachverständnis und in der Sprachproduktion zeigen betroffene Kinder Probleme in den pragmatischen Fähigkeiten. Die Kinder können Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion aufweisen, wobei das Ausmaß der Beeinträchtigung jedoch nicht die Kriterien einer Autismusspektrumsstörung erfüllen darf (Conti-Ramsden & Durkin, 2012). Im Gegensatz zur ICD-10-GM differenziert die DSM-5 Probleme in der verbalen und nonverbalen Kommunikation als Social (Pragmatic) Communication Disorder.

Eine für das Handlungsfeld »Unterricht und schulische Förderung« sehr wertvolle Ergänzung ist die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (International Classification of Functioning, Disability and Health. Children & Youth Version; ICF-CY). Aufbauend auf den ICD-10-GM-Diagnosen ermöglicht die ICF-CY die Erfassung von Störungen mit Körperfunktionen und -strukturen, Einschränkungen der Aktivität und der Teilhabe sowie relevanter Umweltfaktoren und ist speziell auf die Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters ausgerichtet (Hollenweger & Kraus de Camargo, 2013). So kann die individuelle Problematik eines Kindes auf kognitiver, körperlicher oder sozialer Ebene beschrieben werden, um die Spracherwerbsstörung aus einer umfassenden Perspektive heraus zu verstehen. Neben rein sprachlichen Defiziten werden so auch andere, gleichzeitig auftretende Beeinträchtigungen und ihre kumulativen Effekte sichtbar (Campbell & Skarakis-Doyle, 2007; Dempsey & Skarakis-Doyle, 2010). So ziehen umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache oft sekundäre Folgen nach sich, wie Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, Störungen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, im emotionalen und Verhaltensbereich (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2017).

Von einer umschriebenen Störung des Sprechens und der Sprache sind laut einschlägiger Studien zwischen 2 % und 30 % aller Kinder betroffen (von Suchodoletz, 2013). Bei Anwendung der Kriterien aus der ICD-10-GM (DIMDI, 2017) kann von einer Prävalenz von 5 % bis 8 % ausgegangen werden. In vergleichbarer Weise finden sich Angaben für die Kriterien des DSM-5 mit 5 % für umschriebene Störungen der Sprachproduktion und 3 % mit zusätzlichen Problemen im Bereich des Sprachverständnisses. Dabei sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen. In einer Untersuchung von Tomblin, Records, Buckwalter, Zhang, Smith und O’Brien (1997) zeigten sich bei 6 % der Mädchen und bei 8 % der Jungen Störungen in der Sprachentwicklung.

Ursachen

Die Ursachenforschung zeigt, dass sich die Sprachentwicklungsstörung insbesondere auf unzureichende phonologische Informationsverarbeitungsleistungen zurückführen lässt (Grimm, 2003; Häring, Schakib-Ekbatan & Schöler, 1997; Schöler & Schakib-Ekbatan, 2001). Locke (1997) entwickelte eine international anerkannte Theorie zur Erklärung des normalen wie auch des gestört verlaufenden Spracherwerbs. Zur Erklärung des Letzteren stellt der Übergang von der zweiten zur dritten Phase den kritischen Zeitpunkt dar (Dannenbauer, 2001a; Grimm, 2003), wenn es zu einem Aktivitätswechsel der beiden Hemisphären kommt. Während in den ersten beiden Phasen die rechte Hemisphäre die Speicherung prosodischer Informationen und unanalysierter prosodischer Muster als Sprachmaterial übernimmt, wird im Alter zwischen 20 und 28 Monaten die linke Hemisphäre aktiv. Deren Aufgabe ist es, das bisher erlernte und rechtshemisphärisch abgespeicherte sprachliche Material zu analysieren, um allgemeingültige sprachkombinatorische Regeln abzuleiten. Während ein sprachlich normal entwickeltes Kind zu diesem Zeitpunkt mindestens 50 Wörter aktiv verwendet, welche somit der linken Hemisphäre zur Analyse und Regelinduktion zur Verfügung stehen, haben umfassend sprachentwicklungsgestörte Kinder weitaus weniger Wörter und sprachliche Ganzheiten erlernt. Diese Kinder nennt man im englischen Sprachraum late talkers (Grimm, 2003, Kannengieser, 2012).

So verwenden Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen im Alter von 2;0 Jahren noch unter 20 Wörter, mit 2½ Jahren ca. 90 Wörter und mit 3;0 Jahren knapp 200 Wörter (Braun, 1999). Es gelingt den betroffenen Kindern nicht, den verspätet beginnenden Spracherwerb aufzuholen. Zwischen den Entwicklungsverläufen der sich sprachlich normal entwickelnden und der Kinder mit Spracherwerbsstörungen zeigt sich ein scherenartiger Verlauf (Grimm, 2003), d. h., dass der Abstand der sprachlichen Leistungsfähigkeit zwischen den durchschnittlich entwickelten und den Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen immer größer wird. Besonders problematisch ist, dass der Wortschatzspurt bei den late talkern ausbleibt. So konnten Rescorla und Team (2000) in einer Studie zeigen, dass die late talkers