Gabriela Jaskulla

Die Herbstköchin

Roman

Insel Verlag

Die Herbstköchin

Prolog: Der Turm

Hinauf in den Turm, hinauf! Gianna läuft fast, fliegt. Nur ein paar Schritte, dann hat sie Joachim eingeholt. Joachim, der Gute, der Behäbige, der Schmied, der den Steinmetzen das Werkzeug anfertigt. Er verbringt die meiste Zeit allein in seiner Werkstatt, allein mit dem Feuer, allein mit dem Eimer Wasser, in die er die glühenden Spitzen der Eisen taucht, die Fugeneisen, Zahneisen, Spitzeisen. Je nachdem, wann Joachim die Eisen aus dem Feuer holt, je nachdem, wann er die Enden in das kalte Wasser drückt, dass es zischt und dampft, werden die Spitzen härter oder weicher. Eine zu weiche Spitze verformt sich, eine harte bricht. Das hat man im Gefühl. Der Schmied, obwohl träge und schwer, entscheidet in seiner Werkstatt in Sekundenbruchteilen. Hier aber lässt er sich Zeit. Hier stapft er vor ihr her auf eine enervierende Art und Weise.

Solong. Sein Spitzname. Weil er so lang und so breit ist. Und weil er so lange braucht für alles, außer fürs Schmieden.

Solong. Er dreht sich nicht nach ihr um. Das wäre auch schwierig; der Gang im alten Turm des Doms ist gewunden und schmal.

Solong muss sich beugen beim Hinaufsteigen. Er setzt seine Füße schwer und regelmäßig in den Sand. Rechts herum, rechts herum, rechts herum. Sie steigen und steigen. Auf einem Weg, den schon Hunderte vor ihnen, Tausende festgetreten haben. Der Turm ist der älteste Teil des Doms. Er gehört zu einem früheren Bau; er ist niedriger, gedrungener als die entschieden nach oben strebende gotische Prachtkathedrale, die sich weit über Regensburg erhebt. Der Turm lehnt sich an den späteren Bau an, demütig, wie es scheint, wie ein Diener. Und er hatte ja auch zu dienen, dient noch immer: Durch den Eselsturm wurden die Lasten nach oben geschafft, um weiterzubauen. Sechshundert Jahre dauerte es, bis der Dom fertig war ‒ und seitdem haben die Steinmetze daran zu reparieren und brauchen ihn wieder, den Eselsturm.

Als Kind hat sich Gianna vorgestellt, dass hier wirklich Esel hinaufliefen, immer im Kreis in diesem ockerfarbenen, wüstenfarbenen Turm, der keine Stufen hat, sondern nur diesen Weg, eine Rampe aus Sand, rechts und links begrenzt von Wänden aus großen, geschichteten Steinen. Das verstärkt das Einerlei, das Gleichförmige der Schritte und der Farben, das hat kein Ende, das geht immer weiter, und Gianna nimmt den breiten Rücken Solongs bald nur noch als Fläche war, als schwarzen, gestauchten Rhombus, der steigt und steigt und dabei ein wenig nach links und ein wenig nach rechts schwankt ‒ aber nicht zu viel, sonst stieße er an, sonst berührte seine Schulter die Steine. Jeder dieser Steine ist ein Unikat, jeder trägt das Zeichen des Handwerkers, der ihn geschaffen hat. Gianna hat früher mit dem Zeigefinger oft über die Zeichen gestrichen, es schienen geheimnisvolle Botschaften aus einer anderen Zeit, in einer Sprache, die niemand mehr versteht. Heute aber hat sie keine Zeit zu verlieren. Heute hat sie es eilig, sie will nach oben, denn oben ‒ wartet Quirin.

Wie lange hat sie ihn nicht gesehen? Jahre nicht. Und doch steht er ihr vor Augen. Die Ruhe in seinem Gesicht. Die breiten Schultern. Das Haar, das immer staubig wirkte, auch wenn er es nach der Arbeit sofort wusch und zu kämmen versuchte: Staubhaare, die sich sogleich erneut störrisch aufrichteten. Seine kräftigen Hände ‒ wenn er sich ungeduldig über den Kopf fuhr, sah man die Adern an den Unterarmen hervortreten. Wenn er merkte, dass sie ihn beobachtete, wandte er sich ab, verlegen, ein wenig ungehalten. Dann sah sie seinen massiven Rücken, die überraschend schlanken Beine, die seltsam schwere Anmut, mit der er sich bewegte. Es kribbelt, wenn Gianna daran denkt. Es kribbelte immer, wenn Gianna daran dachte. Aber sie hatte nicht genug nachgedacht, sie war immer nur voraus gewesen, Quirin voraus, ihrem Leben voraus. Damit war nun Schluss. Sie war zurückgekehrt.

Gianna treibt Solong zur Eile an.

Bitte!

Die Dringlichkeit in ihrer Stimme überrascht sie selbst. Solong macht eine beschwichtigende Geste. Es geht ja nicht schneller. Gianna hatte sich nur kurz gewundert, als Quirin diesen Treffpunkt vorschlug. So viel Romantik hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Aber, gesteht sie sich beschämt ein, sie hat ihm vieles nicht zugetraut, sie hat ihn immer unterschätzt im Vergleich zu seinem Bruder, dem älteren, dem hemmungslos attraktiven Damian. Quirin ist anders, stiller. Macht nicht so viel Wind. Steht aber im Sturm. Wie hat sie ihn so lange so nachlässig behandeln können?

Solong trägt ihren Korb. Das hat er sich nicht nehmen lassen. Im Korb ist eine Flasche Wein, sind Weintrauben und Brot. Dunkles Roggenbrot, das ein wenig nach Nüssen schmeckt und nach Brand, dazu katalanischer Rotwein, nicht zu schwer, nicht zu leicht. Sie hatte sich Zeit gelassen bei der Auswahl. Nie war es ihr schwerer gefallen, nie war sie unsicherer und umsichtiger gewesen. Sie hat über sich selbst lachen müssen: Ist sie nicht der Profi, die Köchin, die Küchenchefin, erfahren, gewitzt durch Niederlagen und Triumphe in etlichen Ländern? Und doch: Es soll alles stimmen bei diesem Wiedersehen.

Nur noch ein paar Schritte, dann sind sie oben. Dann wird Solong eine niedrige, schwere Tür öffnen und ihr den Zugang ermöglichen zum neuen Turm. Und dann wird er ihr den Vortritt lassen auf die Galerie. Die Galerie verbindet die beiden mächtigen Türme des gotischen Doms. Von unten ist sie nicht einzusehen, von oben hat man den phantastischsten Blick auf die Stadt. Eine feine, steinerne Terrasse ist das, ein Balkon für den lieben Gott. Spielzeugklein unten die Menschen, hingewürfelt die bunten Häuser der Altstadt. Jetzt aber, am Abend, nur ein Lichtergefunkel, bescheiden gegen das des Himmels. Jetzt sind sie da. Schwerfällig schiebt Solong sich zur Seite. Warum schaut er sie so ernst an, ja besorgt?

Gianna, hör mal …

Er will ihr noch etwas sagen, er will sie, so scheint es, auf etwas vorbereiten. Will er sie etwa warnen? Wovor? Vor dem Übergang zwischen den Türmen, der immer noch eine Baustelle ist? Ein paar Meter Bretter und Eisengerüst, und durch die Lücken rauscht die stete Gegenwart der Stadt? Oder will er sie warnen vor dem Mann, den sie doch so gut kennt, so gut, glaubt sie, wie keinen? Quirin, das ist wie Heimkommen, sie weiß das, auch, wenn sie ihn lange nicht gesehen hat, auch, wenn sie ihn verlassen hat ‒ nicht einmal, viele Male. Aber Quirin ist keiner, der zählt oder abrechnet. Quirin war immer nur schönste Gegenwart, rau und hell, so wie der Stein, mit dem er am liebsten arbeitet: grauer Granit, selten geworden in der Gegend. Sie hatte ihm den Staub von der Stirn geküsst, aus viel zu früh gewachsenen Falten. Er hatte gelacht und gesagt:

He, das ist nicht nötig, glaubst du, in der Dombauhütte gibt es kein Wasser und keine Seife? Aber sie hatte darauf bestanden, weiterzumachen, wie eine Katze hatte sie sein Gesicht geleckt, mit ihrer spitzen, kleinen, harten Zunge, und irgendwann hatte auch er sich in eine Katze verwandelt, einen Kater allerdings, einen sehr gefräßigen ‒ so hatten sie gespielt. Und dann war sie gegangen. Immer wieder. Und er war geblieben. Immer. Lange her. Sie reißt sich zusammen. Der Blick von Solong, seine Geste: Geh schon!

Sie betritt den Raum zwischen den Türmen. Unter ihr der Bretterboden des Gerüsts und darunter, in siebzig Metern Tiefe, die Stadt. Die Baustelle verbindet die beiden Türme, und da, beim anderen Turm, ist das Geviert der Galerie. Sie sieht einen niedrigen Tisch, ein Meer von brennenden Kerzen, und da ist endlich Quirin.

Gianna macht einen Schritt, will auf ihn zulaufen, will seinen Namen rufen, will wieder zwanzig sein oder, ach was, fünfzehn, will rufen, dass alles wieder gut ist, dass sie sich freut, dass ‒ aber er steht nicht auf, um ihr entgegenzugehen, er dreht sich nicht einmal um, er …

Regensburg im Herbst

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