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Inhalt

[Cover]

Impressum

Spurlos verschwunden

Familienanschluss

Liebe Grüße aus Lima?

Rückkehr nach Siwa

Ort der Albträume

Standbild

Steuerung Plus X

Pfefferminztee

Quecksilber

Feuer und Wasser

Zwei rote Rosen

Betonschuhe

Nadelspitze

Wieder zu Hause

Unter Beobachtung

Steel Claw

Ins Dunkel

Rauchstadt

Wer aufgbt, ist tot

Ausbruch

Bis ganz nach unten

Der Midnight Flyer

Nightshade

Über den Autor

Als Ravensburger E-Book erschienen 2018

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2018 Ravensburger Verlag GmbH

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Alex Rider – Never Say Die
by Walker Books Ltd., 87 Vauxhall Walk, London SE11 5HJ.
Published by arrangement with Anthony Horowitz
Text © 2017 Stormbreaker Productions Ltd.

Cover © Digital Art by Larry Rostant
Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Penguin Books USA.

Aus dem Englischen von Wolfram Ströle

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47866-8

www.ravensburger.de

Für JW – mit Dank

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Fünfzigtausend Menschen waren zur Flugschau in Suffolk gekommen, aber nur einer davon plante einen Mord.

Es war Ende August, die letzte Woche der Sommerferien. Die Schulen hatten noch geschlossen und ganze Familien nutzten das schöne Wetter für einen Besuch des alten, anderthalb Kilometer von der Küste entfernten Militärflugplatzes. Sie schlenderten zwischen Oldtimern aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, einsitzigen Doppeldeckern und Jägern der Typen Spitfire und Hurricane hindurch.

Am Vormittag hatten die Red Arrows, die Kunstflieger der Luftwaffe, eine spektakuläre Show mit Drehungen, einander überkreuzenden Flugbahnen und Sturzflugmanövern gezeigt und Bahnen aus rotem, weißem und blauem Rauch hinter sich hergezogen.

Ein Tornado GR4, der im Irak und in Libyen eingesetzte zweisitzige Jagdbomber, war über die Besucher hinweggedonnert, gefolgt von einer F-35 Lightning II, einem der modernsten und – mit hundert Millionen Pfund – auch teuersten Kampfflugzeuge der Welt.

Für weitere Unterhaltung sorgten Flugsimulatoren, Motorradvorführungen, Drohnen, Kinderschminken und Jahrmarktstände. Alle kamen auf ihre Kosten.

Wie bei jeder öffentlichen Veranstaltung in Großbritannien hatte man umfassende, aber nahezu unsichtbare Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Man konnte nicht alle Autos anhalten und durchsuchen, aber Überwachungskameras filmten jeden Neuankömmling, und jedes Nummernschild wurde sofort überprüft. Zu sehen waren Polizisten und auch einige Spürhunde, ein durchaus gewohnter Anblick.

Niemand bemerkte dagegen die Polizisten in Zivil, die sich unter die Menge gemischt hatten, viele davon mit versteckten Waffen.

Nur wenige Tage zuvor hatte das Joint Terrorism Analysis Centre JTAC auf einer Sitzung in seinen Räumen in der Nähe des Parlamentsgebäudes die Gefahr eines Anschlags während der Flugschau als weiterhin GERING eingestuft. Man rechnete nicht mit Zwischenfällen.

Deshalb schenkte auch niemand der Frau Beachtung, die kurz nach drei auf dem Parkplatz eintraf. Sie fuhr einen Ford Transit, der laut der automatischen Nummernschilderkennung der St. John Ambulance gehörte, der führenden Erste-Hilfe-Organisation des Landes. Tatsächlich trug die Frau die grün-schwarze Uniform einer freiwilligen Mitarbeiterin. In der Hand hielt sie eine mit einem weißen Kreuz gekennzeichnete Nylontasche, in der man, hätte man sie geöffnet, Medikamente und Verbände gefunden hätte.

Die Frau war klein, hatte hängende Schultern und dunkelrote Haare, die so schlecht geschnitten waren, dass sie auf der einen Seite vom Kopf abstanden und auf der anderen anlagen. Ihr Gang hatte etwas Aggressives, wie bei einem Boxer, der den Ring betritt. Sie war übergewichtig und atmete schwer, und auf ihrer Oberlippe standen Schweißperlen. Außerdem war sie stark geschminkt, was sie allerdings nicht attraktiver machte und auf ihrer ledrigen Haut fehl am Platz wirkte. Im Gehen setzte sie eine billige Sonnenbrille auf, die das fiese Funkeln ihrer Augen verbarg.

Mitarbeiter der Veranstaltung wie Sanitäter, Techniker und Organisatoren hatten einen eigenen Eingang zum Flugplatz. Die Frau blieb stehen und zeigte einen Ausweis, dem zufolge sie Jane Smith hieß, was allerdings nicht ihr richtiger Name war. Auch für den Erste-Hilfe-Dienst hatte sie noch nie gearbeitet.

Der Sicherheitsbeamte am Einlass hätte sich wundern können, warum sie erst kam, als die Veranstaltung schon fast vorbei war, und er hätte sie fragen können, warum sie allein war. Aber er war müde und wollte nach Hause. Also warf er nur einen flüchtigen Blick auf den Ausweis und winkte sie durch. Er öffnete nicht einmal ihre Tasche.

In Wirklichkeit hieß die Frau Dragana Novak. Sie war sechsundvierzig Jahre alt und bis vor Kurzem noch Oberstleutnant der serbischen Luftwaffe gewesen, eine Überfliegerin in jeder Hinsicht. Eine Prügelei mit einem anderen Piloten in betrunkenem Zustand hatte ihre Karriere beendet. Der Pilot war doppelt so groß gewesen, aber sie hatte ihn trotzdem so übel zugerichtet, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Er lag sogar immer noch dort.

Natürlich hatte ein Militärgericht sie verurteilt und sie hatte auf eine unsichere Zukunft geblickt und schon erwogen, auf die Rübenfarm zurückzukehren, auf der sie aufgewachsen war. Dann war der Anruf gekommen. Mit einem einmaligen Angebot. Für die Arbeit von zwei Tagen sollte sie zweihunderttausend Pfund erhalten. Ob sie interessiert sei?

Dragana brauchte keine Sekunde zu überlegen. Ihre Kontaktperson hatte sie in einem Wirtshaus in Belgrad getroffen. Dort hatte sie mit großem Appetit ihr Lieblingsgericht sarma verspeist – in Kohlblätter gewickeltes, würziges Rindfleisch – und es mit einem Glas rakija hinuntergespült, dem örtlichen Pflaumenschnaps.

Der Mann, der seinen Namen nicht genannt hatte, hatte ihr gesagt, was sie wissen musste. Der Auftrag war heikel und erforderte alle ihre Fähigkeiten. Dragana hatte keine Fragen gestellt. Sie interessierte sich nur für das Geld. Es war mehr, als sie in ihrem ganzen bisherigen Leben verdient hatte.

Auch als sie jetzt an den verschiedenen Ausstellungsständen, Bars und Imbissbuden vorbeiging, träumte sie von Schmuck, schnellen Autos und teuren Pralinen. Die Besucher der Show waren auf dem Weg zu den Sitzplätzen, um sich die letzte Vorführung des Nachmittags anzusehen. Für viele war sie der Höhepunkt des Tages. Auf der Rollbahn stand ein Hubschrauber und wartete geduldig darauf, dass der Pilot kam und sich ans Steuer setzte.

Dragana blieb an der Absperrung stehen, die sich an der Rollbahn entlangzog, und holte ein Fernglas heraus. Ohne die Sonnenbrille abzunehmen, hob sie es an die Augen. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Dort stand, was sie entführen sollte: der in Amerika hergestellte Sikorsky CH-53E – auch Super Stallion genannt.

Es gibt auf der ganzen Welt keinen vergleichbaren Hubschrauber. Wenn man ihn sieht, kann man kaum glauben, dass er überhaupt fliegt. Zum einen weil er so riesig ist: so hoch wie ein dreistöckiges Haus und länger als drei Stoßstange an Stoßstange hintereinander stehende Londoner Busse. Zum anderen sieht er überraschend hässlich aus, wie aus verschiedenen Teilen zusammengeschraubt, als hätten seine Konstrukteure auf das Äußere keinerlei Wert gelegt.

Aber der Super Stallion kann fliegen – mit einer Höchstgeschwindigkeit von 315 Stundenkilometern – und er kann, was ihn zu etwas Besonderem macht, enorme Lasten tragen. Er ist das Arbeitspferd der US-Armee, imstande, sechzehn Tonnen Ladung in die Luft zu heben. Im Angriffsfall kann er einen Trupp Soldaten mit so vielen Waffen befördern, dass man damit eine komplette Armee auslöschen könnte. Dass er damit überhaupt vom Boden abheben kann, verdankt er seiner Ausstattung. Er besitzt drei ungeheuer leistungsstarke Wellentriebwerke und riesige Rotorblätter aus Titan und Fiberglas mit einem Durchmesser von vierundzwanzig Metern. Die meisten Hubschrauber haben nur vier Rotorblätter, der Super Stallion hat sieben.

Dragana Novak betrachtete ihn eingehend und ließ den Blick über den grau gestrichenen Rumpf, das Cockpit und den Heckrotor wandern. Die serbische Luftwaffe konnte sich eine solche Maschine nicht leisten, aber Dragana hatte auf einer Übung der Vereinten Nationen einmal kurz einen geflogen und erinnerte sich noch an die Erregung, die sie dabei verspürt hatte.

In nicht einmal einer halben Stunde würde der Hubschrauber ihr gehören. Sie hatte keine Kinder und war nicht verheiratet. Doch in diesem Augenblick, beim Betrachten des Hubschraubers, spürte sie, wie ein starkes Gefühl von ihr Besitz ergriff. Sie war bis über beide Ohren verliebt.

Es war Zeit zu handeln. Alles war bis ins letzte Detail geplant und man hatte ihr genau gezeigt, wohin sie gehen musste. Auf der anderen Seite der Rollbahn lagen verschiedene Hangars, auf ihrer Seite vor allem zwei größere Bauwerke, beide noch aus dem letzten Weltkrieg. Das eine war der Tower, das andere ein niedriges Gebäude aus roten Ziegeln mit etwa zwanzig Fenstern in gleichmäßigen Abständen und verschiedenen Türen. Darin waren Büros untergebracht, doch während der Flugschau wurde es von den Piloten und Technikern genutzt. Es gab Zimmer zum Umziehen und Ausruhen und am anderen Ende eine Cafeteria.

Dragana schwang ihre Erste-Hilfe-Tasche über die Schulter und ging zum Eingang, an dem neben einem Beförderungsband, das in einem Gepäckscanner verschwand, zwei uniformierte Beamte standen. Der Scanner sah genauso aus wie auf jedem Flughafen. Zuerst wurden Koffer und Taschen gescannt, dann musste der Besucher durch einen Metalldetektor.

»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin mit Sergeant Perkins verabredet.« Sie hatte vor ihrer Pilotenausbildung fünf Jahre in London studiert und sprach gut Englisch, wenn auch mit einem starken Akzent, der sich anhörte, als missfalle ihr alles, was sie sagte.

»Warum?« Die beiden Beamten sahen einander verwundert an. Sie standen schon den ganzen Tag hier, hatten die Frau aber noch kein einziges Mal gesehen.

Dragana lächelte und zeigte graue, von Wein und Zigaretten verfärbte Zähne. Ihre rechte Hand verschwand in der Jackentasche. »Er hat Kopfschmerzen. Ich bringe ihm Aspirin.«

Das war natürlich Unsinn. Die beiden Männer hätten den Tower anrufen und sich das mit dem Aspirin bestätigen lassen sollen. Aber genau wie die Wache am Eingang zum Veranstaltungsgelände gelangten sie zu vollkommen falschen Schlüssen. Die Frau war allein und trug die Uniform des Hilfsdienstes St. John Ambulance. Und der Tag und mit ihm die Veranstaltung neigte sich dem Ende zu. Was konnte es also schaden, sie passieren zu lassen?

»Na gut«, sagte einer von ihnen. »Aber Ihre Tasche muss durch den Scanner und nehmen Sie alle Metallgegenstände aus den Taschen Ihrer Kleider.«

»Selbstverständlich.« Dragana stellte ihre Erste-Hilfe-Tasche auf das Band und sah zu, wie sie langsam in der Maschine verschwand. Sie wusste, dass in der Tasche nichts war, was Alarm auslösen konnte. Dann ging sie durch den Metalldetektor und lächelte in sich hinein, als das grüne Licht aufleuchtete. Sie sammelte ihre Sachen ein und setzte ihren Weg fort. Das war ja noch leichter, als sie gedacht hatte.

Sie ging einen langen Korridor mit Holzboden und altmodischen Hängelampen entlang.

Ein paar Leute kamen ihr entgegen, doch ohne sie weiter zu beachten. Dafür sorgte wieder die Uniform. Sie gelangte zu einer Tür am Ende des Korridors und klopfte höflich an.

»Herein!« Die Stimme hatte einen amerikanischen Akzent.

In dem Zimmer saßen zwei Männer, beide in Fliegermontur.

Sergeant Brad Perkins war Anfang dreißig, wirkte mit seinem glatt rasierten Kinn, den blonden Haaren und den blauen Augen aber viel jünger. Er hatte erst kürzlich am US Army Aviation Center in Fort Rucker, Alabama, die Ausbildung zum Piloten abgeschlossen und dies war einer seiner ersten Einsätze. Es ärgerte ihn ein wenig, dass der Einsatz zum einen in England und dann auch noch an einem Ort stattfand, von dem er noch nie gehört hatte. Suffolk? Wo zum Teufel lag das?

Neben ihm saß sein Co-Pilot, ebenfalls ein Amerikaner und etwa gleich alt, und trank Cola. Dragana wusste nicht, wie er hieß, und es war ihr auch egal.

»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Perkins.

»Am besten dadurch, dass Sie sterben.« Dragana hatte eine ungewöhnlich aussehende Pistole aus der Jackentasche gezogen. Sie war weiß und aus Keramik und deshalb vom Metalldetektor nicht erkannt worden.

Dragana schoss zweimal. Die Pistole feuerte mithilfe einer kleinen Druckkammer nicht Kugeln, sondern Kunststoffnadeln ab, die mit Tetrodotoxin präpariert waren, einem der tödlichsten Gifte überhaupt. Tetrodotoxin oder auch TTX ist ein in bestimmten Fischen und Kraken vorkommendes Nervengift, das extrem schnell wirkt und das Nervensystem eines Menschen innerhalb von Minuten lähmt.

Perkins wollte aufstehen, starb aber, noch bevor er es zur Hälfte geschafft hatte. Sein Kollege wollte etwas sagen und brach dann zusammen.

Dragana steckte die Pistole ein und ging zu den beiden Männern. Sergeant Brad Perkins blickte mit leeren Augen zu ihr auf. Er war der kleinere der beiden, etwa so groß wie sie. Sie beugte sich über ihn und begann, seinen Overall aufzuknöpfen.

Zehn Minuten später verließ sie in einem Fliegeroverall und mit einer Ledermappe in der Hand das Gebäude. Niemand hielt sie an, als sie zu dem Super Stallion marschierte und einstieg. Das Bodenpersonal hatte zwar mit zwei Männern gerechnet, nicht mit einer einzelnen Frau. Außerdem war sie ein paar Minuten zu früh dran. Trotzdem stoppte sie keiner. Schließlich sah sie aus, als wüsste sie, was sie tat. Sie war wie eine Pilotin angezogen und die Vorstellung, jemand könnte am helllichten Tag einen riesigen Hubschrauber stehlen, war so abstrus, dass dies nicht einmal in Betracht gezogen wurde.

Dragana setzte sich seelenruhig einen Kopfhörer auf und schnallte sich an. Rasch überflog sie die verschiedenen Anzeigen und überprüfte den Kraftstoffstand. Sie schaltete die Hauptbatterie ein, die Bordelektronik und das Haupttreibstoffventil und sah zu, wie die sieben riesigen Rotorblätter sich in Bewegung setzten und immer schneller wurden, bis sie verschwammen. Der Lärm war trotz der Kopfhörer ohrenbetäubend.

Sie legte die linke Hand auf die kollektive Steuerung, dann beugte sie sich vor und bewegte den Gashebel. Sie spürte, wie der Abwind unter ihr mit hundertfünfzig Stundenkilometern auf die Rollbahn schlug.

Ihr Flug wurde freigegeben. »Stallion One, Sie haben Starterlaubnis …« Die Stimme kam vom Tower. Ein junger Mann, sehr englisch und mit seiner aufgesetzten Munterkeit ziemlich kindisch.

Eine letzte Überprüfung. Der Rotor hatte die notwendige Drehzahl erreicht. Mithilfe des Gashebels und der Fußpedale dirigierte sie den Super Stallion vorsichtig über die Rollbahn.

Dragana liebte diesen Moment, in dem die gewaltige Maschine nur ihr gehörte. Sie flüsterte etwas in ihrer Muttersprache, forderte die Maschine auf, ihr zu gehorchen.

Als sie vom Boden abhob, dachte sie kurz an die beiden Männer, die sie getötet hatte. Sie empfand kein Mitleid. Schließlich war sie als Offizier der Armee darin ausgebildet, Menschen zu töten, auch wenn sie bisher noch keine Gelegenheit dazu gehabt hatte. Ein zehnminütiger Flug und zweihunderttausend Pfund auf der Bank. Dafür hätte sie noch fünfzig weitere Menschen getötet.

Sie streckte die Hand aus und drückte auf den Steuerknüppel. Der Super Stallion senkte die Nase, beschleunigte und flog über die Küste auf das Meer hinaus.

»Stallion One, drehen Sie links Steuerkurs null-fünf-null und steigen Sie auf Flughöhe einhundert. Bitte kommen.«

Der Mann im Tower laberte ihr immer noch die Ohren voll. Natürlich würde sie nicht tun, was er sagte. Allmählich nervte er sie. Sie langte nach unten und schaltete den Ton aus. Dann flog sie nach rechts.

Allen musste längst klar sein, dass etwas nicht stimmte. Primär- und Sekundärradaranlagen würden den Weg des Hubschraubers verfolgen und die Flugsicherung in Swanwick würde bald Alarm schlagen, wenn sie es nicht schon getan hatte. Man würde dort wissen, dass sie von der vereinbarten Route abgewichen war und nicht auf Anweisungen reagierte. Mit Dutzenden Satelliten im All würde man jede ihrer Bewegungen verfolgen. Zudem war der Super Stallion voller Sende- und Empfangsgeräte, die sie nicht hatte abschalten können und die auch in diesem Moment Daten übertrugen. Sie liebte den Hubschrauber, fühlte sich mit ihm eins. Aber sie konnte nicht verhindern, dass er sie beide verriet.

Entscheidend war das richtige Timing. Sie hatte sich die Route, die sie nehmen musste, genau eingeprägt und wählte jetzt die entsprechenden Einstellungen. Unter ihr zog die graue Fläche der Nordsee dahin, doch dann wendete sie und nahm Kurs auf Süden. Durch das Fenster sah sie den Hafen von Felixstowe mit seinen an den Kais aufgereihten Kränen und die beiden aus dem Landesinneren kommenden Flüsse Stour und den Orwell.

Sie überprüfte den Kurs, beschleunigte und überflog in niedriger Höhe das Ufer und den Pier. Dass man sie sehen konnte, wusste sie, aber es war egal, in gewisser Weise sogar nützlich.

Die Wiese, die sie suchte, lag unmittelbar östlich der A12, der Straße von Suffolk nach London. Sie sah einige verstreute Gebäude, einen ehemaligen Bauernhof. Man hatte ihr Karten und Fotos gezeigt und sie hatte sie sich so oft angeschaut, dass sie den Ort auf Anhieb erkannte. Am Rand der Wiese parkten einige Autos. Sie wusste, dass am Ziel ihrer kurzen Reise ein halbes Dutzend Männer auf sie warteten.

Und da war das Ziel auch schon. Sie sah es aus sechshundert Metern Höhe und begann sofort mit dem Sinkflug. Beim Landeplatz handelte es sich um eine rechteckige Stahlplatte im Gras, auf die der Hubschrauber exakt draufpasste. Drei dicke stählerne Bügel waren mit der Platte verschweißt, einer vorn und zwei hinten, in der Form eines Dreiecks. Das war der schwierigste Teil. Der Super Stallion hatte drei riesige Räder. Sie mussten genau neben den Bügeln aufsetzen, sonst funktionierte der Plan nicht.

Aber Dragana dachte gar nicht daran, dass etwas schiefgehen könnte. Sie befehligte den Hubschrauber und er gehorchte ihr aufs Wort. Trotz seines Gewichts von fünfzehn Tonnen brachte sie ihn so sanft nach unten wie ein fallendes Blatt. Einige Augenblicke schwebte sie über der Platte, dann setzte sie auf. Sie spürte, wie die Hydraulik das große Gewicht übernahm, und schaltete die Triebwerke ab. Die Rotoren wurden langsamer. Die Männer, die auf sie gewartet hatten, kamen bereits im Laufschritt näher. Die Instrumente, die sie in der Hand hielten, sahen aus wie Radkrallen, mit denen die Polizei Autos am Wegfahren hinderte.

Jeder wusste, was er zu tun hatte. Dragana stieg aus dem Cockpit und ging zu einem Wagen. Inzwischen knieten die Männer schon unter dem Hubschrauber und schlossen die Räder an die drei Bügel an. Die Krallen, die sie dazu verwendeten, bestanden aus einer Magnesiumlegierung, dem leichtesten und stärksten Metall der Welt.

Sie brauchten zwei Minuten. Noch bevor sie fertig waren, hatte Dragana Novak die Wiese bereits verlassen. Sie saß auf dem Rücksitz eines schnellen Autos, unterwegs nach London. Der Super Stallion war jetzt fest mit der Platte verbunden, nur fünfundvierzig Kilometer von dem Flugplatz entfernt, wo man ihn gestohlen hatte.

Einer der Männer hielt eine Fernbedienung mit zwei Knöpfen in der Hand. Er wartete auf ein Signal, dann drückte er einen Knopf. Augenblicklich erwachte eine hydraulische Vorrichtung unter der Metallplatte zum Leben und die Platte begann sich langsam, Zentimeter für Zentimeter, zu heben wie eine sich im Boden öffnende Falltür, nur dass darunter nichts kam. Der Super Stallion kippte nach hinten, das Cockpit zeigte nach oben.

Zuletzt hing er senkrecht in der Luft. Der nächste Teil der Operation konnte beginnen.

»Und dann?«

Die Direktorin der Abteilung für Spezialoperationen beim britischen Geheimdienst MI6 saß in ihrem Büro im sechzehnten Stock des Gebäudes in der Londoner Liverpool Street und blickte auf den Bericht, den man ihr soeben in die Hand gedrückt hatte.

Mrs Jones war erst vor drei Wochen zur Leiterin der Abteilung ernannt worden und in das Büro gezogen, das einst ihrem Chef Alan Blunt gehört hatte. Sie war schlank und dunkelhaarig und trug ein schwarzes Kostüm und dazu als einzigen Schmuck eine silberne Brosche, die wie ein Dolch geformt war. Und sie wirkte erschöpft. Von dem Moment an, in dem Blunt ausgeschieden war, hatte sie eine schwere Last auf den Schultern gespürt. Sie wusste jetzt, was es hieß, für die Sicherheit eines ganzen Landes verantwortlich zu sein. Und nun auch noch das! Es war bei allen bisherigen Problemen, Befürchtungen und Gefahren die erste wirkliche Krise seit ihrer Amtsübernahme.

Vier Männer blickten sie über den Schreibtisch hinweg an: zwei aus ihrer Abteilung und zwei weitere in der Uniform der regulären Streitkräfte. Die Frage, die sie gestellt hatte, galt ihrem Stabschef, John Crawley, der schon seit Ewigkeiten für den Geheimdienst arbeitete. Früher war er ein äußerst erfolgreicher Agent gewesen. Es hieß, in nur einem Jahr hätten drei konkurrierende Dienste versucht, ihn abzuwerben, während drei weitere Organisationen ihn ermorden wollten. Mit seinem schütter werdenden Haar, dem müden Blick und der vollkommen durchschnittlichen Erscheinung konnte man ihn nur allzu leicht unterschätzen, was ein schwerer Fehler gewesen wäre.

»Der Hubschrauber flog auf das Meer hinaus in Richtung europäisches Festland«, erklärte er. »Wir dachten zuerst, er sollte nach Russland gebracht werden. Doch dann, nach sieben Kilometern, wandte er sich nach Süden und flog zur Küste zurück. Die Flugsicherung in Swanwick folgte ihm mit Primär- und Sekundärradar. Zuletzt wurde er über Felixstowe gesehen. Und dann löste er sich in Luft auf.«

»Was meinen Sie damit?«

»Genau das, was ich sage, Mrs Jones. Wir sind ihm per Satellit gefolgt und haben das Signal seines Transponders empfangen. Und dann nichts mehr.«

»Wohin ist er verschwunden?«

Crawley schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht ist er in den Fluss Orwell gestürzt. Das klingt noch am plausibelsten. Aber wir haben bereits Leute vor Ort und sie haben nichts gefunden.«

Mrs Jones wandte sich an den Mann, der neben Crawley saß. »Was wissen wir bisher?«

Der zweite Agent war die jüngste Person im Raum, Ende zwanzig, schwarz, mit intelligenten Augen und kurz geschnittenen Haaren. Zu seinem frischen weißen Hemd trug er eine farbenfrohe Krawatte. Aufgrund einer Schusswunde, die er bei einem kürzlichen Einsatz in der Timorsee davongetragen hatte, bewegte er sich langsam. Doch er hatte sich erstaunlich schnell erholt und unbedingt an die Arbeit zurückkehren wollen. Mrs Jones mochte ihn. Sie hatte ihn selbst vom SAS angeworben, einer Spezialeinheit der britischen Armee, und unter ihre Fittiche genommen. Er hieß Ben Daniels.

Jetzt klappte er einen Laptop auf und drückte eine Taste. Auf dem an die Wand montierten 72-Zoll-Bildschirm erschien ein Bild.

»Unseren Daten zufolge ist der Hubschrauber auf einer dieser Wiesen gelandet«, sagte er. »Wir sind ihm bis zuletzt gefolgt, und dann war er, wie Mr Crawley gesagt hat, plötzlich verschwunden.« Er zeigte auf das Bild. »Es gibt hier verschiedene landwirtschaftliche Gebäude, wie Sie sehen, eine Scheune, eine Windmühle und ein paar Häuser. In der Nähe steht eine Kirche. Das Problem ist, dass man nirgends einen Hubschrauber von der Größe des Super Stallion verstecken kann … Auch nicht, wenn man irgendwo das Dach abnimmt und drinnen landet.«

Mrs Jones betrachtete die Fotos. Es gab tatsächlich eine Scheune, die jedoch zur Hälfte eingestürzt war. Konnte der Hubschrauber unter dem Stroh versteckt sein? Aber das hatte man bestimmt überprüft. Windmühlen war sie in Suffolk schon vielen begegnet und diese hier sah aus wie alle anderen: mit Holzverschalung und weißen Flügeln. Früher hatte man damit Getreide gemahlen, doch das war lange her. Und die Kirche? Nein, sie war zu klein, genau wie Crawley gesagt hatte.

Mrs Jones überflog die anderen Fotos. Ein Hügel, ein Heuhaufen, zwei Strommasten und der Fluss. Wenn der Hubschrauber nicht dort war, wo war er dann?

»Er könnte auf einem Lkw gelandet sein«, fuhr Ben Daniels fort. »Der Lkw könnte ihn weggebracht haben, ohne dass wir wüssten, wohin. Man bräuchte dazu allerdings ein ziemlich großes Fahrzeug.«

»Das ist alles sehr unbefriedigend, Mrs Jones.« Gesprochen hatte diesmal einer der beiden anwesenden Militärs. Er hieß Sir Norman Clarke und war General und stellvertretender Chef des Verteidigungsstabs, der zweitmächtigste Mann der britischen Streitkräfte. Clarke war klein und kahlköpfig und hatte ein grimmiges Gesicht und einen rötlich blonden Schnurrbart. Er bellte jedes Wort wie ein Kommando. »Die Amerikaner sind verärgert. Sie haben zwei Leute verloren. Durch Mord!«

»Das verstehe ich, Sir Norman. Aber wir tun alles, was wir können.«

»Das reicht offensichtlich nicht. Wir müssen das Gebiet noch einmal absuchen. Und wenn der Super Stallion per Lkw abtransportiert wurde, dann muss er doch auf irgendwelchen Überwachungskameras auftauchen, Herrgott noch mal!«

»Es gibt noch eine viel ernstere Frage, der wir uns stellen müssen.« Diesmal hatte der andere Offizier gesprochen. Er hieß Chichester und arbeitete beim Geheimdienst der Marine, ein hagerer, ernster Mann. Chichester sprach langsam, als müsste er jedes Wort gut abwägen. »Warum wurde der Hubschrauber gestohlen? Könnte dies das Vorspiel eines weiteren Terrorangriffs sein?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Mrs Jones hatte die Möglichkeit bereits erwogen. Es war ihr erster Gedanke gewesen, als sie vom Diebstahl erfahren hatte. »Der Super Stallion hat nur eine Reichweite von tausend Kilometern. Man kann ihn zwar mit Maschinengewehren ausrüsten, aber unserer war nicht bewaffnet. Er ist für den Transport gedacht.«

»Ja, natürlich«, sagte Sir Norman barsch. »Aber wer transportiert hier was?« Seinem Ton nach hätte man glauben können, dass Mrs Jones an allem schuld war. »Der Premierminister ist in großer Sorge«, fuhr er fort. »Wir sprechen von einem extrem großen Fahrzeug. Das kann nicht einfach verloren gehen.«

»Die Suche wird auch fortgeführt«, sagte Crawley. »Die Polizei ist mit einem Großaufgebot im Einsatz. Unsere Agenten sind in ganz Suffolk unterwegs. Wir konnten die Nachricht bisher aus der Presse heraushalten und sind in höchster Alarmbereitschaft.«

Mrs Jones seufzte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass in diesem Fall alle Zeichen auf eine Operation von Scorpia hindeuteten. Der Diebstahl war einerseits vollkommen skrupellos begangen worden. War es wirklich notwendig gewesen, die beiden amerikanischen Piloten zu töten? Man hätte sie doch genauso gut betäuben können. Andererseits war alles perfekt geplant gewesen. Und schließlich wirkte der Fall vollkommen rätselhaft, ähnlich wie ein Zaubertrick.

Doch das war unmöglich. Denn die unter dem Namen Scorpia bekannte Verbrecherorganisation gab es nicht mehr. Ihre Mitglieder waren entweder tot, im Gefängnis oder auf der Flucht.

»Wir müssen uns noch einmal die unmittelbare Umgebung von Felixstowe ansehen«, sagte sie. »Und wir schicken Taucher in den Fluss und ins Meer.« Sie zeigte auf die Fotos. »Und wir müssen dort suchen – auf der Farm, in den Hügeln, überall!«

»Das haben wir schon getan«, sagte Crawley.

Mrs Jones sah ihren Stabschef scharf an. »Dann tun Sie es noch einmal.«

Noch während sie sprach, schwärmten Agenten des MI6 über das Gelände aus. Es wurde bereits dunkel, aber sie hatten starke Taschenlampen dabei, deren Strahlen über das Gras wanderten und Bäume, Strommasten und baufällige und leere Scheunen beleuchteten. Die Windmühle betraten sie nicht. Sie war viel zu klein und kam von daher sowieso nicht infrage.

Niemand bemerkte, dass die Bretterwände der Mühle sehr dünn waren und aus Sperrholz bestanden, das erst vor Kurzem angebracht worden war. Es fiel auch niemandem auf, dass die Windmühle ungewöhnlicherweise sieben Flügel hatte.

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Achttausend Kilometer entfernt, in San Francisco, wachte Alex Rider auf und sah sich um.

Er wohnte jetzt schon eine Weile hier, aber trotzdem kam ihm alles neu vor – das ganze helle, farbenfrohe Haus am oberen Ende der Lyon Street im Viertel Presidio Heights. Im vierten Stock, unmittelbar unter dem Dach, hatte er ein eigenes Zimmer, das nur über eine schmale Treppe zugänglich war.

Jeden Morgen strömte das Sonnenlicht durch das schräge Fenster über seinem Bett, und beim Anziehen konnte er sogar das Meer sehen und in der Ferne Alcatraz, das berühmte Gefängnis, und Angel Island.

Es war ein altes Haus, im viktorianischen Stil erbaut und mit vielen zusätzlichen, mehr oder weniger willkürlich angebauten Zimmern. Innen war es ein Labyrinth aus Gängen, Türen und hölzernen Treppen. Hinter dem Haus lag ein Garten, in dem man abends schön sitzen konnte. Überall hing Efeu und in Terrakottakübeln wuchsen bunte Blumen, Orangen- und Zitronenbäume.

Manchmal dachte Alex daran, wie weit er von zu Hause weg war. Doch dann verbesserte er sich. Das stimmte ja gar nicht mehr. Jetzt war er hier zu Hause.

Edward Pleasure hatte das Haus gekauft, als er nach Amerika gezogen war, um dort seine Karriere als Schriftsteller und Journalist fortzusetzen. In gewisser Weise hatte Alex dazu beigetragen, das Haus zu bezahlen. Edward Pleasure war der Autor von Der Teufel, den jeder kennt, der wahren Geschichte des internationalen Popsängers, Antidrogenaktivisten und milliardenschweren Unternehmers Damian Cray. Das Buch war ein Bestseller geworden und hatte seinen Autor berühmt gemacht. Doch es war Alex gewesen, der Damian Cray enttarnt hatte, was ihn selbst fast das Leben gekostet hätte. Das Buch steckte voller Informationen, die nur von ihm kommen konnten.

Edward Pleasure hatte Alex mehr oder weniger adoptiert, nachdem Alex’ letzter Auftrag in Ägypten in einer Katastrophe geendet hatte. Er hatte den Eindruck gehabt, dass Alex am Ende seiner Kräfte war. Auf dem Weg durch die Abfertigungshalle in Heathrow hatte Alex kaum gesprochen und im Flugzeug hatte er nur aus dem Fenster gestarrt.

Betrachte dich bitte als Teil unserer Familie, Alex. Edward hatte das gesagt, als das Flugzeug über der amerikanischen Küste in den Sinkflug ging. Es ist ein Neuanfang für dich und wir werden alles tun, dass er gelingt.

Und vielleicht war er ja auch gelungen. Nach einigen Wochen in Kalifornien schien Alex wieder etwas mehr der Alte zu sein. Er hatte Gewicht zugelegt, obwohl er für einen Jungen, der vor Kurzem fünfzehn geworden war, immer noch ziemlich mager aussah. Doch er ging ins Fitnessstudio und wanderte gern oder verbrachte das Wochenende am Strand. Die blonden Haare trug er kurz geschnitten.

Gelegentlich bemerkte Edward einen gehetzten Blick in seinen Augen und auch seine Schulnoten gaben Anlass zur Besorgnis – aber noch war es zu früh für ein Resümee. Alex brauchte Zeit, um sich einzuleben. Insgesamt war Edward optimistisch. Er wusste, was Alex durchgemacht hatte, war jedoch überzeugt davon, dass er nach und nach darüber hinwegkommen würde.

Ein neuer Tag begann.

Alex ging ins Bad, duschte und putzte sich die Zähne. Dann zog er sich an. Er hatte zu Beginn des Wintersemesters – des Herbstsemesters, wie man in London gesagt hätte – mit der Schule angefangen. Eine Schuluniform gab es an der Elmer E. Robinson Highschool nicht, also zog er eine Jogginghose, ein T-Shirt und einen Kapuzenpullover an, alles in derselben Hollister-Filiale in der Market Street gekauft.

Danach warf er einen Blick in den bodenlangen Spiegel neben dem Bett. Er sah aus wie ein beliebiger Amerikaner. Erst wenn er den Mund aufmachte, fiel er auf. Seinen britischen Akzent fanden natürlich viele süß.

Auf seinem Schreibtisch lag eine Hausarbeit mit dem Thema Haben Tiere ein Bewusstsein? Er hatte den Aufsatz für das Fach Humangeografie schreiben müssen, war sich aber nicht sicher, ob er die Frage überhaupt verstand. Die verlangten fünfhundert Wörter hatte er zwar mit einiger Mühe zustande gebracht, doch er rechnete mit einer schlechten Note – einem Ausreichend oder vielleicht sogar Mangelhaft.

In Brookland, seiner alten Schule im Süden Londons, hatte er immer gute Noten geschrieben, auch wenn er Stoff versäumte, weil der MI6 ihn aus dem Unterricht holte. Jetzt waren sie ihm irgendwie egal. Er nahm den Aufsatz und stopfte ihn in seinen Rucksack. Dann ging er nach unten.

Sabina saß bereits mit ihrer Mutter in der Küche beim Frühstück. Es gab Pfannkuchen und frisches Obst, Cornflakes und Kaffee. Alex erinnerte sich noch daran, wie er die Familie kennengelernt hatte: Sie hatte ihn zu einem Surf-Urlaub nach Cornwall eingeladen. Ihm war aufgefallen, wie nah Mutter, Vater und Tochter sich standen, und er hatte sie insgeheim darum beneidet. Seine eigenen Eltern waren kurz nach seiner Geburt gestorben und er hatte nie eine richtige Familie gehabt.

Gut, jetzt lebte er in einer. Er war für Edward und Liz wie ein Sohn und für Sabina, die drei Monate älter war als er, wie ein jüngerer Bruder. Warum hatte er dann trotzdem das Gefühl, nicht dazuzugehören? Warum betrat er das Zimmer immer noch wie ein geladener Gast?

»Guten Morgen, Alex!« Liz strahlte ihn an und schenkte ihm ein Glas frisch gepressten Orangensaft ein. Sie war eine große, stets gut gelaunte Frau mit einem runden Gesicht. Wenn sie sich wegen Alex Sorgen machte, ließ sie es sich jedenfalls nie anmerken. »Bist du mit deiner Hausarbeit fertig geworden?«

»Ja, gestern Abend.« Alex setzte sich neben Sabina. In der Ecke schlug Familienhund Rocky, ein Labrador, träge mit dem Schwanz auf den Boden, als freute auch er sich, Alex zu sehen.

»Ich musste zwei Seiten Matheaufgaben machen«, klagte Sabina. »Ich habe ewig dafür gebraucht!«

»Du hättest ja gleich damit anfangen können, als du sie bekommen hast«, erwiderte ihre Mutter. »Statt die ganze Zeit fernzusehen.«

Sabina hatte sich schon einen amerikanischen Akzent zugelegt. Sie war noch nicht einmal ein Jahr in Amerika, schien sich aber rasch eingelebt zu haben.

Edward Pleasure war verreist. Er arbeitete in Los Angeles an einer Reportage und würde erst in zwei Wochen zurückkehren. Liz schrieb ebenfalls und stellte gerade ein Buch über Mode fertig. Sie hatte ein Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses mit Blick auf den Garten.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte sie.

Alex blickte auf und zögerte kurz. »Ja«, antwortete er dann mechanisch. »Alles okay.«

Aber das stimmte nicht. Wieder hatte ihn ein Albtraum geweckt. Er hatte in der Kapelle des Forts aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Wüste außerhalb Kairos gesessen. Auch Razim war da, der verrückte Agent von Scorpia, der dadurch berühmt werden wollte, dass er eine Maßeinheit für Schmerzen fand. Und vor ihm stand Julius Grief und hüpfte aufgeregt auf und ab. Der Junge war auf seine Art genauso verrückt. Man hatte ihn durch Operationen in eine exakte Kopie von Alex verwandelt, und Alex war, als sehe er sich selbst in einem Zerrspiegel.

Er war an einen Stuhl gefesselt und unfähig, den Blick von dem Fernsehbildschirm vor ihm abzuwenden. An verschiedenen Teilen seines Körpers wie Hals, Fingern, Stirn und Brust waren Drähte befestigt und er spürte den kühlen Luftzug der Klimaanlage auf der nackten Haut. Aber etwas anderes war noch kälter: seine Panik. Razim und Julius Grief wollten den Menschen töten, der ihm am nächsten stand, und er sollte dabei zusehen.

Auf dem Bildschirm erschien Jack Starbright. Sie war seine beste Freundin und hatte den größten Teil seines Lebens für ihn gesorgt. Doch jetzt konnte er nichts für sie tun. Jack war aus ihrer Zelle geflohen, indem sie einen Stab des Fenstergitters herausgebrochen hatte. Draußen auf dem Hof hatte ein Auto geparkt. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Sie war eingestiegen, ohne zu ahnen, dass Razim und Julius genau das wollten und dass jede ihrer Bewegungen überwacht wurde.

Im Traum schrie Alex, sie solle sofort wieder aussteigen. Er wand sich auf seinem Stuhl und zerrte an den Stricken, mit denen er gefesselt war, doch Julius Grief lachte nur.

Das Auto fuhr aus dem Fort und in die Wüste hinaus. Und dann explodierte es, wie jede Nacht, wenn Alex endlich eingeschlafen war. Razim hatte darin eine Bombe versteckt. Er hatte die ganze Flucht inszeniert, nur um Alex zu quälen. Alex sah die Flammen, wie er sie schon zigmal gesehen hatte, und wachte in seinem Zimmer im vierten Stock auf. Sein Kopfkissen war verschwitzt und tränennass.

Sabinas Mutter hatte ihm einen Pfannkuchen auf den Teller gelegt, aber er schob den Teller weg. Er konnte jetzt nichts essen.

Sie bemerkte es und betrachtete ihn aufmerksam. »Hast du keinen Hunger, Alex?«

»Nein, danke.« Alex versuchte zu lächeln. »Orangensaft reicht mir.«

»Dann iss aber bitte etwas zu Mittag. Sabina, pass du darauf auf!«

»Ja, Mum.« Man hörte Sabina an, dass sie sich ebenfalls Sorgen machte. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte.

Kurz darauf machten sie sich auf den Weg. Sie besuchten beide dieselbe Schule. Sie lag nur wenige Blocks nördlich vom großen Presidio Park und gab dem Viertel seinen Namen.

Für Alex sah die Elmer E. Robinson Highschool mehr wie eine Universität aus. Ein halbes Dutzend niedriger Gebäude waren über einen gepflegten Rasen verteilt und am Eingang wehte das Sternenbanner in Übergröße. Die Schule hatte ein Theater, eine neue Bibliothek, eine Aula mit tausend Sitzplätzen, Tennisplätze, Basketballplätze und natürlich ein Football-Feld. Sie wurde von über zweitausend Schülern besucht und Brookland wirkte daneben klein und altmodisch.

»Alles klar?«, fragte Sabina, als sie sich dem Brunnen vor dem Haupteingang näherten. »Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss.«

»Alles klar, wirklich.«

»Vielleicht solltest du dir das mit Los Angeles doch noch überlegen. Bestimmt haben wir dort viel Spaß und Dad würde dich auch so gern sehen.«

Sonst kam Edward Pleasure am Wochenende nach Hause, aber diesmal hatte er am Samstag eine Besprechung. Die Familie hatte deshalb beschlossen, das schöne Wetter zu nutzen und einen Ausflug an die Küste von Santa Monica zu machen.

»Nein. Ich bleibe gern hier und es ist gut, wenn ihr drei etwas Zeit für euch habt.« Sie waren an der Treppe angekommen, die zum Haupteingang hinaufführte. »Dann bis später. Schönen Tag!«

»Dir auch.«

Die beiden trennten sich. In der ersten Woche, in der Alex sich noch eingewöhnen musste, war Sabina bewusst in seiner Nähe geblieben, aber dann hatten sie vereinbart, dass es für sie vermutlich leichter war, wenn sie getrennte Wege gingen und Alex selbst Anschluss finden konnte.

Alex hatte außerdem festgestellt, dass Sabina einen anderen Jungen kennengelernt hatte. Blake war siebzehn, breitschultrig und blond und eine Frohnatur. Er war Anführer der Basketballmannschaft und einer der beliebtesten Jungs der Schule. Alex fand ihn auf Anhieb unsympathisch und ärgerte sich dann über sich selbst. Was hatte er bloß? In England war er nie so gewesen.

Es lief nicht gut, musste er sich eingestehen. Die meisten Schüler waren zwar nett, aber irgendwie blieb er trotzdem allein. Und er wusste auch, warum. Man gewinnt keine Freunde, wenn man nicht offen ist, und Alex schleppte zu viele Geheimnisse mit sich herum. Er konnte niemandem sagen, warum er keine Eltern mehr hatte, warum er bei Sabina und ihrer Familie wohnte, was er im vergangenen Jahr alles erlebt hatte, warum er in die Staaten gezogen war und wie er überhaupt ein Visum bekommen hatte. Er konnte nur hoffen, dass das alles mit der Zeit besser werden würde. Nach einem oder vielleicht auch zwei Jahren würden die anderen ihn vielleicht eher akzeptieren.

Gleich würde es zur ersten Unterrichtsstunde klingeln. Alex ging zu seinem Schließfach, um einige Bücher herauszuholen. Doch als er die Metalltür öffnete, erschien aus dem Nichts eine Hand und schlug sie wieder zu. Mit einem Knoten im Magen drehte Alex sich um. Ja, genau wie er vermutet hatte. Clayton Miller und Colin Maguire, CM und CM. Die beiden wollten ihm wieder eine Dosis Demütigung verabreichen.

Alex wusste, dass es an jeder Schule auf der Welt solche Jungen gab und dass nichts sie vertreiben konnte, auch wenn die Lehrer sich noch so sehr bemühten und noch so viele Eltern sich beschwerten. Sie waren Schläger und Rabauken, ohne dass es einen offensichtlichen Grund dafür gegeben hätte. Vielleicht waren sie selbst Opfer, auf irgendeine Weise durch ihre eigenen Familien geschädigt. Vielleicht konnten sie sich selbst nicht leiden. Jedenfalls tauchten sie immer zu zweit auf und hatten es immer auf ein bestimmtes Opfer abgesehen. Natürlich gab es an der Schule einen Verhaltenskodex für Schüler, der jede Art der Misshandlung untersagte – körperlich, geistig oder im Netz. Leider hatten die beiden ihn nicht gelesen.

Colin war mit sechzehn der Jüngere von ihnen, mit schwarzen Locken, unreiner Haut und Sommersprossen. Er war nicht unbedingt dick, eher schlaff und aufgeschwemmt aufgrund seiner schlechten Ernährung, mangelnder Bewegung und des Rauchens von Zigaretten.

Clayton war ein Jahr älter. Er hatte die gegelten blonden Haare zurückgekämmt und schielte. Außerdem trainierte er wie besessen in seinem Zimmer und in dem Fitnessstudio, in dem sein Bruder arbeitete, und das sah man ihm auch an.

Colin besaß den Verstand, Clayton die Muckis. Colin traf die Entscheidungen, Clayton sorgte dafür, dass sie ausgeführt wurden.

»Wie geht’s dir, England?«, fragte Colin. Er nannte Alex so, seit er wusste, dass er aus Großbritannien kam.

»Gut, danke«, sagte Alex ruhig.

»Ich hab eine Frage an dich«, fuhr Colin fort und Clayton kicherte in Erwartung dessen, was kommen würde. »Warum hast du eigentlich keine Mutter? Was ist mit ihr passiert, England? Ich hab gehört, dass sie dich weggegeben hat, weil sie dich nicht mochte. Stimmt das?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Oh! Tut mir ja so leid!«, spottete Colin und verzog das Gesicht in geheucheltem Mitgefühl. »Aber du hast dafür ja Sabina. Ist sie jetzt deine Mama?«

Alex spürte, wie kalte Wut in ihm aufstieg. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die beiden fertigzumachen. Er hatte den ersten Dan in Karate, den schwarzen Gürtel. In Gedanken führte er einen Ellenbogenschlag gegen Colins Kopf aus, gefolgt von einer Speerhand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger gegen Claytons Kehle. In weniger als drei Sekunden würden die zwei sich am Boden krümmen. Er meinte geradezu zu spüren, wie sich seine Armmuskeln in Vorbereitung des Schlags anspannten, und musste sich zwingen, weiter ruhig zu bleiben.

Zurückzuschlagen war keine Lösung. Wenn er das tat, war er genauso schlimm wie sie. Außerdem war er hier der Neue, der Fremde. Er würde nur Schwierigkeiten bekommen, wenn er die beiden angriff.

Zum Glück läutete in diesem Moment die Glocke. Colin schnippte mit den Fingern gegen Alex’ Schläfe und Clayton kicherte wieder, dann entfernten sie sich schlurfend. Alex holte seine Sachen aus dem Schließfach und machte sich auf den Weg zur ersten Unterrichtsstunde.

Der restliche Tag verlief wie jeder andere Tag. Am Vormittag hatte er zwei doppelstündige Fächer, dann kam die Mittagspause, gefolgt von zwei weiteren Fächern. Anschließend hatte er noch ein Treffen mit seiner Beratungslehrerin, einer netten Afroamerikanerin namens Mrs Masterson, die ihm am ersten Schultag zugewiesen worden war. Sie trafen sich zum dritten Mal und Alex hatte rasch gelernt, wie er sie anlügen und glauben machen konnte, es gehe ihm gut.

Erst als es zum letzten Mal klingelte und er nach draußen ging, fiel ihm ein, dass er auch an diesem Tag kaum mit Gleichaltrigen gesprochen hatte. Wieder einmal ärgerte er sich über sich selbst. Er musste sich mehr anstrengen, das kriegte er doch wirklich besser hin.

Er setzte sich in die Sonne, um auf Sabina zu warten, holte seinen Laptop heraus und verband sich mit dem superschnellen WLAN der Schule. In letzter Zeit tat er das immer häufiger. Er sah nach, wie der FC Chelsea abschnitt, und rief die Ergebnisse von Spielen auf, die er nicht gesehen hatte. Er las Nachrichten und was im Fernsehen kam und sah sogar nach dem Wetter in London. Er wusste, dass das eigentlich albern war, aber irgendwie fühlte er sich dann weniger weit weg.

Er bekam immer noch Mails von Tom Harris, seinem besten Freund in Brookland, und auch die Schulsekretärin Jane Bedfordshire hatte Kontakt mit ihm aufgenommen. Die beiden machten sich Sorgen um ihn, er antwortete ihnen deshalb immer so fröhlich, wie er konnte.

Von Smithers hatte er nichts mehr gehört und auch nicht von Mrs Jones oder sonst jemandem vom MI6 – aber damit rechnete er auch gar nicht. Sie hatten ihn vermutlich schon vergessen, und wenn sie ihn kontaktieren wollten, schickten sie ganz bestimmt nicht etwas so Unsicheres wie eine E-Mail.

In San Francisco war es jetzt vier Uhr und in London entsprechend Mitternacht, zu spät für irgendwelche neuen Mails. Trotzdem hatte Alex eine Nachricht im Posteingang. Sie kam von einem Unternehmen namens HERMOSA, von dem er noch nie gehört hatte. Im Betreff stand nichts. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Spam-Mail. Er wollte sie schon löschen, da war ihm, als führte etwas seine Hand, und er öffnete sie stattdessen mit einem Doppelklick.

Drei Worte erschienen auf dem Bildschirm.

Das war alles. Kein Name, kein Bild, kein Link, keine Erklärung. Doch Alex starrte den Bildschirm an wie vom Schlag getroffen, ohne die anderen Schüler wahrzunehmen, die an ihm vorbeigingen und in die gelben Busse stiegen, die sie nach Hause bringen würden. Er sah und hörte nichts und spürte nicht die Sonne im Nacken und auf den Armen. Er vergaß in diesem Moment sogar, dass er in Amerika war. Sämtliche Ereignisse des vergangenen Monats waren wie weggewischt.

Er klappte den Laptop zu und machte sich auf die Suche nach Sabina.