Dietmar Cuntz

Schlussakkord an der Küste

Krimistunde Band 11

 

Inhalt:

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Der Autor

 

Impressum

Print-Auflage Framersheim Dezember 2017

© Brighton Verlag® GmbH, Mainzer Str. 100, 55234 Framersheim

Geschäftsführende Gesellschafterin: Sonja Heckmann

Zuständiges Handelsregister: Amtsgericht Mainz

HRB-Nummer: 47526

Mitglied des Deutschen Börsenvereins: Verkehrsnummer 14567

Mitglied der GLS Gemeinschaftsbank eG Bochum.

Mitgliedsnummer: 58337

Genossenschaftsregister Nr. 224, Amtsgericht Bochum

www.brightonverlag.com

info@brightonverlag. com

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags

Alle Rechte vorbehalten!

Satz und Covergestaltung: Ernst Trümpelmann,

unter Verwendung einer Illustration von ©Olaf Kostbar

E-Book Aufbereitung: Sascha Zabel

 

1

 

Ruth Pauls befand sich seit einigen Monaten in ihrem langersehnten Ruhestand. Sie war in ihrer Wohnung in der Erfurter Straße in Köln und erledigte einige Dinge, die sie immer wieder aufgeschoben hatte. Gestern hatte sie mit ihrer Freundin Sarah Jong gesprochen, die an der belgischen Küste in Ostende lebte.

Sarah war seit dem Tod ihres Sohns Ben im Juli sehr niedergeschlagen. Vor allem konnte sie nicht begreifen, wie es zum Ertrinken ihres Sohnes hatte kommen können. Ben war ein geübter Schwimmer und bei jedem Wetter im Wasser. Er kannte die Strömung und die Gezeiten an der belgischen Küste. Auch seine Gesundheit war in bester Ordnung, er entsprach in jeder Hinsicht der Vorstellung eines durchtrainierten Manns Anfang Dreißig. Sie konnte es sich nicht erklären, wie er an einem warmen Sommertag plötzlich einen Herzstillstand erleiden und ertrinken konnte.

Noch am Morgen hatten sie gemeinsam gefrühstückt. Ben war kein Unwohlsein anzumerken, im Gegenteil, er hatte Pläne für das Wochenende und wollte eine längere Radtour von Ostende bis nach Gent machen.

Sarah hatte am späten Abend vom Tod ihres Sohnes erfahren und konnte nicht glauben, was ihr berichtet wurde. Beamte der Gemeindepolizei hatte sie aufgesucht und ihr die traurige Nachricht überbracht. Über die näheren Umstände seines Todes konnte man ihr keine Angaben machen. Er wurde leblos und durchnässt an der Küste gefunden, wahrscheinlich war er von der Flut hereingetrieben worden. Niemand hatte ihn im Wasser gesehen und es gab keine Zeugen, die etwas Auffälliges bemerkt hatten. Die belgische Polizei hatte später in verschiedene Richtungen ermittelt, ohne eine verdächtige Spur zu finden. Die Obduktion des Körpers von Ben ergab, dass er an einem Herz- und Kreislaufversagen gestorben waren. Irgendwelche Hinweise auf ein Fremdeinwirken konnten nicht gefunden werden.

Bereits vor zwei Wochen hatte Sarah Ruth über dieses tragische Ereignis berichtet. Ruth spürte die Trauer und Unruhe ihrer Freundin, die sich mit den dürftigen Erkenntnissen der Polizei nicht abfinden wollte.

Im gestrigen Gespräch wurde sie von Sarah gebeten, für einige Tage an die belgische Küste zu kommen. Sarah hatte die Hoffnung, dass Ruth, als frühere Versicherungsagentin, die Hintergründe von Bens Tod aufhellen könnte.

Ruth hatte früher längere Zeit bei einer großen Versicherung gearbeitet und war für die Schadensabwicklung zuständig gewesen. In ihren Bereich fiel die Aufklärung von Schadensursachen. Besonders in Fällen, in denen die Entwicklung eines Schadens nur schwer nachvollziehbar war und den Angaben des Versicherten misstraut wurde, schätzte man ihren Sachverstand und besonderen kriminalistischen Instinkt. Ihre Ausdauer und Unnachgiebigkeit wurden bewundert und sie war schließlich nur noch zuständig für Schadensereignisse, bei denen sich andere Kollegen bereits die Zähne ausgebissen hatten. Ruth war sehr genügsam und konnte, wenn sie ermittelte, sogar auf Schlaf verzichten. Sie war dafür bekannt, dass sie ihrem Instinkt folgte, und erst dann aufgab, wenn sie absolut von dem Hergang eines Schadens und der Beteiligung einzelner Personen restlos überzeugt war. Deshalb wurde ihr angeboten, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten. Dies hatte Ruth jedoch abgelehnt. Sie fühlte sich sehr geschmeichelt, fand es jedoch an der Zeit aufzuhören und ihren Ruhestand zu genießen. Trotzdem wurde sie gelegentlich von ihren ehemaligen Kollegen um Rat gebeten und konnte sich diesen Bitten nur schwer entziehen. Natürlich fühlte sie sich geehrt und hatte ihre Arbeit auch mit einer besonderen Hingabe ausgeübt.

Jetzt war sie jedoch auf der Suche nach anderen Inhalten in ihrem Leben. Sie hatte wegen ihrer Arbeit viele Jahre andere Sachen vernachlässigt. Sie hatte vor zu malen, Klavier zu spielen und öfter mal ein Museum zu besuchen. Und das nicht unter dem Aspekt, welche Sicherheitsvorkehrungen zur Abwendung des Diebstahls eines Gemäldes getroffen wurden. Nein, sie hatte ein aufrichtiges Bedürfnis, ein Gemälde unabhängig von seinem Wert zu betrachten und die ihm eigene Schönheit zu erkennen. Sie wollte ihre frühere Leidenschaft nach einem unbeschwerten Kunstgenuss ausleben. Nicht mehr und nicht weniger! Auch das Musizieren und die Meditation hatte sie in den letzten Jahren schleifen lassen. Wann kam sie schon mal dazu, sich ans Klavier zu setzen und drei Stunden ein neues Stück zu üben, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, oder von einem Anruf gestört zu werden? Jetzt war die Zeit gekommen, etwas Neues, Schöpferisches zu beginnen.

Ruth setzte sich auf ihr Sofa und trank einen Kaffee. Sie dachte nach. Im Gespräch mit Sarah hatte sie es offen gelassen, ob sie der Bitte ihrer Freundin folgen würde. Sie wusste genau, wenn sie sich darauf einlassen würde, wäre es nicht mit einigen mehr oder weniger erholsamen Tagen an der Küste getan. Dann würde sie sich richtig auf die Sache einlassen, akribisch recherchieren und erst aufhören, wenn sie von der Todesursache felsenfest überzeugt wäre.

Ruth lachte bei den Worten felsenfeste Überzeugung. Gab es so etwas überhaupt? Sie hatte immer sehr hohe Ansprüche an sich und andere gestellt und war gelegentlich mit polizeilichen Ermittlern in Streit geraten, denen die hohe Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs genügte, um ein Verfahren abzuschließen. Der Kaffee wurde kalt. Daran merkte sie, dass sie zumindest gedanklich voll mit der Aufklärung von Bens Tod begonnen hatte. Unter Umständen ließ sich ja auch nach wenigen Tagen feststellen, dass er unvorsichtig gewesen war und sich unterkühlt hatte, oder an einem bisher nicht erkannten Herzschaden litt. Möglich war alles. Außerdem war es immer reizvoll, einige Tage an der belgischen Küste zu verbringen. Sarah hatte sie auch schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Warum lange nachdenken? Sie hatte die Entscheidung getroffen und griff nach ihrem Handy.

Nach wenigen Sekunden meldete sich Sarah.

„Hallo Sarah, ich habe nachgedacht und beschlossen am Samstag, also in zwei Tagen, zu kommen.“ „Prima, ich freue mich. Danke, dass du dich entschieden hast, mir zu helfen.“ „Bitte erwarte nicht zu viel.“ „Nein, es wird mir schon helfen, wenn du mir etwas Beistand leistest ... und mir hilfst, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“ Es entstand eine kurze Pause. Sarah hakte nach. „Um wie viel Uhr kann ich mit dir rechnen?“ „Ich nehme den Zug um 10.00 Uhr, dann komme ich kurz nach zwei nachmittags in Ostende an.“ „Wie lange bleibst du?“ Ruth kicherte. „Dumme Frage, natürlich solange, bis alles aufgeklärt ist.“ Sarah lachte ebenfalls. „Bei deinem Ehrgeiz wird dies wohl in wenigen Tagen der Fall sein.“ „Wir werden sehen!“

Nach einem kurzen Austausch über das Wetter und andere weniger wichtige Dinge legte Ruth auf. Jetzt hatte sie die Entscheidung getroffen und sie fühlte sich gut damit.

Sie spürte einen Adrenalinschub und merkte, dass ihr in den letzten Monaten etwas gefehlt hatte. Die Spannung, die zu einer innerlichen Unruhe führt. Das Kombinieren! Irgendwie hatte sie ihr Leben bewusst oder unbewusst darauf ausgerichtet, nach etwas zu suchen, Zusammenhänge zu begreifen und Lösungen zu finden. Das Musizieren, Malen und die Museumsbesuche konnten warten. Außerdem würde sich an der belgischen Küste in Gesellschaft ihrer Freundin sicherlich eine gute Gelegenheit ergeben, kreativ zu sein. In Ostende warteten auch interessante Kunstausstellungen auf sie.

Ruth überlegte, was sie noch zu erledigen hatte, bevor sie nach Belgien aufbrach. Es fiel ihr nichts ein, was nicht aufgeschoben werden konnte. Ihre Wohnung war in einem mehr oder weniger sauberen Zustand, ihre Wäsche lag sauber und gebügelt im Schrank, und es gab auch keine Verabredungen in den nächsten Tagen, die sie nicht absagen konnte. Sie war in jeder Beziehung unabhängig und in der glücklichen Lage, jeden Tag aufs Neue zu entscheiden, welchen Inhalt sie ihrem Leben geben wollte. Warum also nicht für einige Tage nach Belgien aufbrechen? Sie bereitete sich auf ihre Nachforschungen vor, indem sie sämtliche schriftlichen Unterlagen, die sie während ihrer Berufszeit zu Versicherungsfällen im Zusammenhang mit Ertrinkenden gesammelt hatte, aus dem Schrank holte. Dann genehmigte sie sich einen Sherry und rauchte eine Zigarette. Die Planungen beschäftigten sie und sie entwarf schon eine Liste, welche Dinge sie nach ihrer Ankunft in Ostende in Angriff zu nehmen hatte. Sie packte eine große Reisetasche mit Unterwäsche, Hosen, Blusen, Socken und natürlich eine kleine Tasche für Cremes, Zahnbürsten, Kosmetika und Lotionen. Wie viele Schuhe brauchte sie? Auf jeden Fall wollte sie ein Kostüm mitnehmen für den obligatorischen Kasinobesuch. Bald hatte sie keine Lust mehr am Packen. An der Küste konnte sie alles, was fehlte, in Ruhe besorgen.

Die nächsten Tage bis zu ihrer Abreise verbrachte sie damit, einige Besorgungen zu machen und Telefonate mit ihren Bekannten zu führen. Die Teilnahme am wöchentlichen Kegelabend musste sie ebenso absagen, wie ihr Mitwirken an den neuen Krimivorstellungen in ihrer Lieblingsbuchhandlung. Beides machte sie nicht traurig, schließlich war es spannender im wahren Leben zu ermitteln, als den tieferen Sinn einer Krimihandlung aufzuspüren. Ihre Bekannten waren zwar über ihre Absagen traurig, wussten jedoch auch, dass Ruth diesen Nervenkitzel brauchte und sie bei einem ruhigen Leben eingehen würde wie eine Pflanze, die keine ausreichenden Sonnenstrahlen bekommt. Telefonische Anfragen ehemaliger Kollegen bürstete sie kurz und knapp ab. Was interessierte sie, welche Begründung für die Geltendmachung eines Wasserschadens notwendig war? Die Kollegen spürten, dass sie mit anderen, vielleicht bedeutenderen Angelegenheiten beschäftigt war, und hakten nicht nach.

Die Tage bis zu ihrer Abreise vergingen sehr schnell. Sie stellte sicher, dass ihr Briefkasten von einer Nachbarin geleert und ihre Pflanzen gegossen wurden.

Kurz vor zehn wartete sie am Samstag am Hauptbahnhof Köln mit einer Reisetasche und einem Ticket nach Ostende auf den Zug nach Brüssel, um nach einmal Umsteigen dort nach Ostende zu fahren.

 

2

 

Der Zug fuhr pünktlich ein. Ruth suchte sich einen nicht reservierten Platz in einem Großraumabteil und verstaute ihre Reisetasche in der Gepäckablage. Sie überlegte, ob sie ein Buch und ihr Tablet aus der Tasche nehmen sollte, konnte sich jedoch nicht entscheiden. Deshalb ließ sie es sein, setzte sich auf ihren Platz und sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr langsam aus dem Kölner Hauptbahnhof über die Eisenbahnbrücke, an deren Geländer unzählige kleine Schlösser von Verliebten hingen. Es war bereits begonnen worden, einen Teil der Schlösser zu beseitigen, doch bereits nach kurzer Zeit wurden die freien Stellen wieder mit neuen Schlössern aufgefüllt. Ruth betrachtete den grauen Himmel, der einige weitere Schauer ankündigte. Bis zur Ankunft an der Küste konnte sich noch einiges ändern. Sie wollte sich durch die Grautöne nicht ihre gute Laune verderben lassen. Voller Spannung dachte sie nach, was sie in Ostende erwarten würde.

Sie hatte Sarah schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Früher kam Sarah, eine Schulfreundin, mit der sie vor fünfzig Jahren eigentlich alles zusammen gemacht hatte, gelegentlich nach Köln zu Besuch. Oder Ruth verbrachte einige Tage an der belgischen Küste. Bei langen Wanderungen an der Küste hatten sie sich immer verquatscht und erst, nachdem sie nicht mehr laufen konnten, gemerkt, welche Strecke sie zurückgelegt hatten. Da die Bahn entlang der Küste fuhr, die Entfernung zwischen den einzelnen Stationen nie länger als 800 Meter war, und alle fünfzehn Minuten eine Bahn kam, war es kein Problem, wieder zum Ausgangspunkt zu fahren. Sie mussten nur erkennen, wann in der Nacht die letzte Bahn fährt, da es zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts eine Pause gab.

In den letzten zwei Jahren hatten sie regelmäßig telefoniert und sich immer wieder ein Treffen vorgenommen. Zuletzt hatte Sarah sie eingeladen, gemeinsam mit ihr, Weihnachten zu verbringen. Da Ruth jedoch erkältet war, wurde dieses Treffen aufgeschoben. Ruth hatte fest eingeplant, direkt nach ihrem Rentenbeginn zu Sarah zu fahren. Und dann kam Bens Tod dazwischen. Sarah hatte sie wenige Tage nach seinem Tod angerufen und war kaum ansprechbar. Sie war völlig aufgelöst, hilflos und nahezu apathisch. Ruth hatte ihr spontan angeboten, sie zu besuchen. Doch Sarah wollte das nicht, da sie mit ihrem Schicksal haderte und niemanden sehen wollte. Ruth hatte sie damals wiederholt angerufen und festgestellt, dass sie wortkarg und sehr verschlossen war. Auch wenn sie am Telefon nach wie vor freundlich war, musste man ihr jedes Wort aus dem Mund ziehen. An manchen Tagen wurden die Anrufe nicht beantwortet. Ruth machte sich Sorgen und überlegte sich schon, Sarah unangekündigt aufzusuchen. Einmal stand sie kurz davor und wollte sich nur noch durch einen Anruf vergewissern, ob Sarah zu Hause war. Bei diesem Anruf muss Sarah irgendwie von Ruths Vorhaben Wind bekommen haben. Jedenfalls sagte sie verbindlich und bestimmt: „Bitte lass mich in Ruhe! Ich melde mich, wenn es mir besser geht.“

Ruth fiel es schwer, dieser Bitte nachzukommen, aber sie akzeptierte Sarahs Wunsch. Deshalb kam sie zu dem Ergebnis, dass es besser wäre, Sarah eine gewisse Zeit in Ruhe zu lassen. Durch Anrufe bei Nachbarn von Sarah vergewisserte sie sich, dass Sarah, wenn auch reduziert und auf das Wesentliche beschränkt, am Leben teilnahm und sich versorgte. Dies beruhigte Ruth zumindest in der Weise, dass sie sich keine besonderen Sorgen machen musste. Wenn sie sich in Sarahs Lage versetzte, spürte sie, dass sie sich in ihrem Wesen sehr ähnlich waren. Sie genossen den Moment und waren nicht sehr krisenfest. Wichtig war ihnen beiden immer, die Herrschaft über ihr Leben zu behalten und lieber zu agieren, als zu reagieren. In Gedanken versunken sah Ruth die Landschaft an sich vorüberziehen.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Aachen fuhr der Zug wenig später über die belgische Grenze. Saftige Weiden, auf denen Kühe und Schafe grasten, Bauern, die mit der Ernte begonnen hatten. Es kam ihr vor, als hätte man einen Gang zurückgeschaltet. Der Zug durchstreifte in einem gleichmäßigen Tempo eine Gegend, die sich in den letzten Jahren kaum verändert hatte. Kleine Ortschaften, kleine Fabrikgebäude, die nicht mehr in Betrieb waren. Selbst die Autos, die am Straßenrand standen, schienen einer anderen Epoche anzugehören. Ruth empfand es als angenehm, dass sie der großstädtischen Hektik entkommen war. Der Zug hielt in Lüttich. Einige Fahrgäste stiegen aus, nur wenige stiegen ein. Nach einem kurzen Aufenthalt wurde die Fahrt fortgesetzt und schnell erreichte der Zug den Großraum Brüssel. Eine eindrucksvolle Stadt. Ruth bereitete sich, ebenso wie die anderen Fahrgäste auf das Aussteigen vor. In Brüssel Central verließ sie den Zug und wurde von zaghaften Sonnenstrahlen begrüßt.

Sie lief durch den Bahnhof und suchte das Gleis, auf welchem der Zug nach Ostende abfuhr. Wenig später fand sie es und bemerkte, dass dieser Nahverkehrszug bereits wartete. Auch jetzt fand sie einen Platz und wurde von anderen Fahrgästen mit einem Lächeln begrüßt. Sie freute sich über den ihr vertrauten Klang der flämischen Sprache. Ihr gefiel die Betonung und die Aussprache.

Bei ihren vielen Aufenthalten in Belgien hatte sie diese Sprache gelernt und konnte sogar einfache Unterhaltungen führen. Nur selten musste sie in die englische oder deutsche Sprache wechseln. Immer wieder hatte sie sich vorgenommen, einen Sprachkurs zu besuchen. Aber es hatte ihr immer der Ehrgeiz gefehlt, diese Sprache systematisch zu lernen. Solange sie sich verständigen konnte, sah sie dafür keine Notwendigkeit. Und selten verspürte sie das Bedürfnis, an einem philosophischen Austausch teilzunehmen und mit ihrer Sprachgewandtheit zu glänzen. Lieber lauschte sie andächtig einem Orgelkonzert in einer der Kirchen an der Küste.

Die Fahrt nach Ostende dauerte eine knappe Stunde. Sie unterhielt sich mit einer jüngeren Dame über die Wetterprognose für die nächsten Tage. „An der Küste ist immer ein schneller Wechsel zwischen Sonne und Regen, die letzten Tage waren sehr mild“, erklärte die Dame. „Solange kein eisiger Wind kommt, bin ich mit jeder Witterung einverstanden“, lächelte Ruth. Bei der Einfahrt in den Bahnhof konnte Ruth ihre Freundin Sarah sehen, die ihr winkte. Ruth stieg aus und wurde von Sarah distanziert und nur zögerlich begrüßt.

3

Sarah trug eine dünne Regenjacke und enge Jeans. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Ihr Gang wirkte sehr bedrückt und niedergeschlagen. Bei der Berührung von Ruth wich sie zurück. „Hallo Ruth, gut, dass du gekommen bist.“ „Ich wäre auch ohne deine Aufforderung gekommen.“ Sarah versuchte zu lächeln. „Egal, jetzt bist du jedenfalls da.“ Die Stimme von Sarah zitterte und es war zu spüren, dass sie in letzter Zeit wenig gesprochen hatte. Sie hatte gewisse Mühe, ihre Worte zu formen. Sie griff nach Ruths Reisetasche. „Lass mal, die Tasche ist nicht schwer. Gehen wir einen Kaffee trinken?“, fragte Ruth. „Können wir machen.“

Sie verließen die Bahnhofshalle und liefen entlang der Promenade. Ruth betrachtete Sarah mit besorgten Blicken. Sarahs Gesicht war eingefallen, ausgezehrt und drückte tiefe Trauer aus.

„Warum starrst du mich so an?“, fauchte Sarah. „Entschuldige. Du siehst abgeschlagen und bemitleidenswert aus.“ „Danke für das Kompliment!“ Ruth ließ sich nicht beirren. „Ich versuche zu empfinden, wie es dir geht. Es muss sich verdammt beschissen anfühlen.“ „Das kannst du laut sagen. In meinem Leben hatte ich noch nie eine so beschissene und ausweglose Situation. Es gab Tage ... da wollte ich nicht mehr leben.“ Ruth nickte verständnisvoll und legte vorsichtig ihre Hand auf Sarahs Schulter. Sarah ließ diese Berührung zu.

Sie gingen einige Zeit an der Strandpromenade entlang in Richtung Casino-Kursaal, vorbei am Fischmarkt. Sie entdeckten ein Café, welches ihnen gefiel. „Lass uns hier einen Kaffee trinken“, forderte Ruth Sarah auf. Sarah nickte und sie setzen sich draußen an einen Tisch, der sich direkt neben einer Glaswand befand, die als Windschutz diente. Ruth bestellte zwei Kaffee und zwei Whisky. Sarah lächelte. „Du kennst unsere Gewohnheiten!“ „Ja, und ich gehe nicht davon aus, dass sie sich ändern werden.“ Sarah wirkte weiterhin bedrückt und wenig gesprächig. „Bitte lass mir etwas Zeit, mich zu öffnen. Ich habe in letzter Zeit wenig gesprochen, an manchen Tagen überhaupt nicht. Ich muss meine Sprache erst wiederfinden.“ Ruth nickte und lächelte. „Und das als vereidigte Dolmetscherin für drei Sprachen mit langjähriger Erfahrung bei der Europäischen Kommission.“ Sarah musste ebenfalls lächeln. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man an einer Stelle hängenbleibt und es nicht weitergeht. Nach dem Tod von Ben war für mich alles aus.“ Ruth nickte. „Wir müssen nicht sprechen. Wir haben Zeit.“

Einige Zeit saßen beide Frauen schweigend zusammen und beobachteten das Treiben auf der Albert I Promenade. Passanten bummelten und unterhielten sich. Einige Hunde zogen ihre Besitzer, Kinder ließen Drachen steigen und Lieferwagen wurden entladen. Ein leichter Nordwestwind kam vom Meer und bewegte Reklameschilder. Die Flut hatte vor einigen Minuten eingesetzt. Der Geruch des Fischmarkts und die salzige Meerluft prägten die Stimmung.

Ruth und Sarah tranken einen zweiten Kaffee und Whisky. Sarah döste vor sich hin und schlief ein. Ruth betrachtete ihre Freundin und merkte, dass die Anspannung langsam aus ihrem Gesicht wich und sich ihre Verkrampfung löste. Sarah ließ ihre Schultern fallen.

Welche Schmerzen musste sie in den letzten Monaten ertragen? Mit welcher Kraft hatte sie sich gegen den Tod ihres Sohnes, der ihr so viel bedeutete, aufgelehnt? Sie war nicht bereit, dieses Ereignis hinzunehmen. Ruth ließ Sarah schlafen und bestellte für sich einen dritten Whisky. Da sie einen leichten Druck in ihrem Magen spürte, forderte sie den Kellner auf, ihr außerdem ein Käsesandwich zu bringen.

Nach einer halben Stunde wachte Sarah auf und rieb sich verwundert die Augen. „Ich muss wohl sehr müde gewesen sein.“ „Ja, du bist einfach weggetreten. Und deine Anspannung hat sich gelegt, ein gutes Zeichen.“ „Meinst du?“ „Sicher, ich schlage vor, wir gehen in deine Wohnung. Dort kannst du dich hinlegen und ich koch uns etwas.“ Sarah nickte. „Guter Vorschlag.“ Sie zahlten und liefen entlang der Promenade zum Zeedijk. Dort befand sich Sarahs Wohnung in einem achtstöckigen Haus, welches überwiegend Ferienwohnungen enthielt.

Sarah hatte sich in diesem Haus schon vor dreißig Jahren eine Wohnung gekauft. Während ihrer Berufstätigkeit hatte sie in Brüssel ein kleines Zimmer gemietet. Am Wochenende und in ihren Ferien war sie immer nach Ostende gefahren. Seitdem sie vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war, verbrachte sie ihr Leben nur noch in ihrer Ferienwohnung, wie sie die Wohnung weiterhin nannte.