Gerald Bast
DIE KULTIVIERUNG VON UNGEWISSHEIT
David F. J. Campbell, Elias G. Carayannis, Evangelos Grigoroudis
KNOWLEDGE PRODUCTION, INNOVATION UND DIE MODE-3-UNIVERSITÄT
Peter Filzmaier
DEMOKRATIE 4.0: DIE NEUSCHREIBUNG DER POLITISCHEN THEORIE?
Markus Gabriel
DIE REVOLUTION DER DIGITALISIERUNG
Sabine Herlitschka
„PUSH BUTTON“ – SO SIND WIR ZUKUNFTSFÄHIG IN DER DISRUPTION
Harald Katzmair
MACHT UND OHNMACHT DES DIGITALEN
Thomas J. Lampoltshammer, Peter Parycek, Shefali Virkar
VON DER SIMULATION IN DIE REALITÄT –
Philippe Narval
AUFBRUCH ZUR DIGITALEN REPUBLIK
Hans Pechar
EINE DIGITALE TRANSFORMATION DER LEHRE AN HOCHSCHULEN?
Elmar Pichl
AUTONOMES STUDIEREN?
Wolfgang (Bill) Price
BILDUNG IM ZEITALTER DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ
Ingeborg Reichle
TEACHING FOR THE FUTURE
Eva Maria Stadler
ICH BIN KEIN ROBOTER
Christoph Thun-Hohenstein
ZUKUNFTSDESIGN
Peter Weibel
DINGE UND DATEN
Die digitale Transformation der Welt schreitet mit großen Schritten voran. Es macht keinen Sinn, darüber nachzudenken, ob wir Menschen sie gut oder schlecht finden, ob wir sie wollen oder nicht; sie ist nicht aufzuhalten. Die essentielle Frage ist, wie sieht die Zukunft des Menschen in einer sich rasant verändernden Welt aus, und wie gehen wir mit Veränderungen unserer Lebensumwelt um. Sollen wir die Entwicklungen, die keinem humanen Zukunftsmodell entsprechen, einfach hinnehmen oder können wir sie zu unseren Gunsten einsetzen? Ziel muss es sein, die Würde des Menschen zu schützen und die Eigenschaften, die nur ihm eigen sind, wie Intuition, Empathie, soziale Intelligenz, individuelle Reaktionsfähigkeit und Phantasie so einzubringen, dass sie im Einklang mit der technischen Revolution stehen oder zumindest noch ihren Platz haben.
Die zahlreichen Textbeiträge in dieser vorliegenden Publikation zeigen auf, wie vielschichtig und komplex die aus digitalen Transformationen resultierenden Herausforderungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Demokratie und gesellschaftliches Zusammenleben sind. Alle Autorinnen und Autoren haben sich aus ihrem jeweiligen Blickwinkel heraus den aktuellen Herausforderungen gestellt. Sie zeigen in ihren Beiträgen neue Wege auf und legen Denkansätze vor, die zu einer Verbesserung der Welt beitragen können.
Als Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, der dieses Buchprojekt angeregt hat, möchte ich allen Autorinnen und Autoren für ihre überaus kompetente Mitwirkung an diesem wichtigen Band danken, der Forum Morgen Privatstiftung und dort insbesondere Joachim Rössl für die wunderbare Zusammenarbeit und die finanzielle Unterstützung des Projekts, dem Brandstätter Verlag für sein Vertrauen in das Vorhaben, Theresa Hattinger für das eindrucksvolle Grafik-Design und Else Rieger für ihr Lektorat. Danken möchte ich im Speziellen Anja Seipenbusch-Hufschmied für die Redaktion.
Gerald Bast
Eine der bedeutendsten Entwicklungen unserer modernen Welt ist die Dominanz von Unsicherheit und Ungewissheit.
Von Heisenbergs Unschärferelation über Schrödingers Katze bis hin zu Anton Zeilingers Quanten-Teleportation; vom atemlosen Tempo, das die Menschen in der digitalen Informationsgesellschaft fordert, bis zu synthetischer Biologie; von der Verschmelzung von Mensch und Maschine durch Robotik und Nanotechnologie bis zur Herausforderung der Bedeutung des Menschen durch Künstliche Intelligenz. Von den immer deutlicher sichtbaren und spürbaren Auswirkungen des Klimawandels bis zur Veränderung gewohnter Gesellschaftsmuster als Folge von Migration und demografischem Wandel. Von der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Roboter bis zur drohenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Irrelevanz traditioneller Bildungsformen und Bildungsinhalte. Ungewissheit als systemimmanente Konsequenz wachsender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Komplexität und Interdependenz dominiert unser Leben in zunehmendem Ausmaß und in nie dagewesener Geschwindigkeit – während Politik und Bildung kontrafaktisch am Versprechen von Eindeutigkeit, Klarheit, Berechenbarkeit und linearen Kausalitäten festhalten. Ungewissheit und Ambiguität sind sowohl vom Bildungssystem als auch von der Politik mit Angst belegt. Je stärker die Ungewissheit, desto stärker die Angst. Wie destruktiv Angst sein kann, beschreibt Rainer Werner Fassbinder in seinem Film „Angst essen Seele auf“. Anstatt eines Klimas der Kultur, im Sinne der Pflege des Geistes und der Seele – „cultura animi“, wie der von Cicero geprägte Ursprung des Begriffs Kultur besagt – wird zunehmend das Gefühl der Angst gepflegt. Es ist keine Schande, Angst zu haben. Aber es ist schändlich, mit der Pflege von Angst Politik zu machen.
Angesichts der Wirkungspotenziale einer bereits angelaufenen technologischen Revolution, die an Geschwindigkeit und disruptiver Kraft ohne Vorbild ist, stellen sich heute also ganz andere Herausforderungen an unser Denken und Handeln als im vor-digitalen Zeitalter.
Während die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten gleichzeitig von der Komplexität einer wachsenden Zahl in ihren Wechselwirkungen immer unübersichtlicher werdender Faktoren bestimmt wird, versuchen Politik und Wirtschaft verzweifelt die lineare Gestaltungslogik des Industriezeitalters aufrechtzuerhalten.
Wie einst im 19. Jahrhundert die schlesischen Weber trotz ihres gewaltsamen Widerstandes gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze durch die Erfindung mechanischer Webstühle die erste Industrielle Revolution nicht stoppen konnten, so können auch wir im 21. Jahrhundert die aktuellen Veränderungen in unserer Arbeitswelt durch Digitalisierung und Automatisierung nicht stoppen. Die steigenden Automatisierungsraten in China und Indien zeigen bereits die Dimensionen der kommenden Arbeitsplatzverluste auf globaler Ebene.
Es braucht nicht viel Fantasie, um das enorme sozial und politisch explosive Potential zu erkennen, wenn die Hälfte dessen, was wir als Arbeit verstehen, in weniger als einer Generation zusammenbrechen wird.
Diese Entwicklungen sind unmöglich zu stoppen. Man kann sie dämonisieren, ignorieren, herunterspielen oder sich ihnen stellen. Gegenwärtig werden sie von der politischen Führung ignoriert oder heruntergespielt, da es keine einfachen Antworten auf diese Situation gibt.
Ernsthafte Studien1 schätzen, dass 40 bis 50 Prozent der derzeitigen Arbeitsplätze innerhalb der nächsten 20 Jahre verschwinden werden. 1,2 Milliarden Arbeitsplätze, gerechnet in Vollzeitäquivalenten, und 14,6 Mrd. US-Dollar an Löhnen sind mit Aktivitäten verbunden, die mit der aktuellen Technologie automatisierbar sind.2 Dieses Automatisierungspotenzial variiert zwischen den Ländern und reicht von 40% bis 55%.3
Überall dort, wo Arbeit oder Teile von Arbeitsprozessen durch Algorithmen standardisiert und gesteuert werden können, wird man die Arbeitskraft von Menschen durch Maschinen ersetzen. Das entspricht der ökonomischen Logik, nach der weltweit die Wirtschaft funktioniert. Computer und Roboter sind schneller, flexibler, präziser – und vor allem billiger als menschliche Arbeit.
Die Implikationen dieser 4. Industriellen Revolution werden zum ersten Mal tief in die vermeintlich gut ausgebildete Mittelschicht hineinreichen. Betroffen sind medizinische Berufe, da Systeme der Künstlichen Intelligenz in Diagnose und Medikation schneller, besser und genauer sind, weil die Computer Millionen von Patientengeschichten und Röntgenbildern mit Hilfe von Bildlesung und Mustererkennung vergleichen. Rechtsberufe werden betroffen sein, da Algorithmen in wenigen Stunden hunderttausende von Dokumentseiten lesen und analysieren können, wofür Heerscharen von Anwälten Monate zum Lesen und Analysieren benötigten. Lehrberufe werden davon betroffen sein, weil Lehren und Lernen an Schulen und Universitäten in wenigen Jahren völlig anders ablaufen werden als an den Bildungseinrichtungen, die wir jetzt kennen.
Eine häufig gebrauchte Argumentation ist, dass es schon viele industrielle Revolutionen gab, die von neuen Technologien vorangetrieben wurden, und jedes Mal habe es nach einer Phase der Anpassung mehr Jobs gegeben als vorher. Aber die aktuelle technologische Revolution, die bereits begonnen hat, ist in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbar mit früheren technologischen Revolutionen. Ihre Auswirkungen sind tiefgreifender als je zuvor; weite Teile der Wirtschaft, die Politik unserer gesamten Kultur werden sich massiv verändern. Die gegenwärtigen Technologien, von Künstlicher Intelligenz und Robotik bis hin zu Gentechnik und Nanotechnologie, werden in wenigen Jahren praktisch jeden Aspekt des Lebens betreffen und schwerwiegende Auswirkungen auf das menschliche Leben haben. Diese Auswirkungen werden in unterschiedlichen Sektoren parallel und weltweit stattfinden. Selbst wenn bestimmte Technologien nicht sofort und unmittelbar für alle Menschen auf globaler Ebene verfügbar sind, wird ihre Nutzung durch einen Teil der Menschheit Auswirkungen auf andere Teile der Menschheit haben.
Robotik und Künstliche Intelligenz werden zunächst Arbeitsplätze, die mittleres Bildungs- und Qualifikationsniveau erfordern, zerstören. Jobs, für deren Ausübung nur geringe oder fast keine Qualifikationen notwendig sind, werden aus wirtschaftlichen Gründen länger überleben, und Jobs, die sehr hohe fachliche, disziplinübergreifende und soziale Kompetenzen erfordern, werden von der Automatisierung kaum betroffen sein. Der Übergang wird also für die Masse der mittleren Fachkräfte schmerzhaft sein, da sie ohne signifikante Aus- und Weiterbildung nicht in der Lage sein werden, in neue Jobs, die sehr viel höhere oder ganz andere Fähigkeiten erfordern, zu wechseln. Während der Übergang von einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft fast ein Jahrhundert dauerte und auf bestimmte regionale Teile der Welt beschränkt war, ist die Geschwindigkeit der Implementierung von Robotern und Künstlicher Intelligenz enorm hoch und verbreitet sich über den ganzen Globus. Der Übergangsprozess, der durch die jüngste technologische Revolution verursacht wurde, wird viel mehr Menschen in viel kürzerer Zeit betreffen als jede andere industrielle Revolution zuvor. Wenn durch die aktuelle technologische Revolution überhaupt zusätzliche neue Arbeitsplätze geschaffen werden, welche die Zahl der zerstörten Arbeitsplätze aufwiegen, dann wird dies jedenfalls ein äußerst schmerzhafter und gefährlicher Prozess sein. Es ist kein Geheimnis, dass die dramatisch und schnell steigende Arbeitslosigkeit erhebliche negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, die eindeutig mit Armut, Kriminalität, physischen und psychischen Krankheiten sowie politischer Radikalität korrelieren.
Das sogenannte „Ende der Arbeit“ kann aber eine neue Art von Wirtschaft schaffen. Laut Harvard-Ökonom Lawrence Katz können Informationstechnologie und Roboter zwar traditionelle Arbeitsplätze eliminieren, aber es ist möglich, „dass eine neue handwerklich orientierte Wirtschaft entsteht (…) eine Wirtschaft, die auf Selbstentfaltung ausgerichtet ist, wo Menschen mit ihrer Zeit künstlerische Dinge tun.“ 4 Dieser Übergang würde die Welt vom Primat des Konsumierens zum Primat der Kreativität bewegen. Und in der Tat: In einer von Künstlicher Intelligenz, Digitalisierung und Robotik geprägten Welt wird der Mensch nur mehr durch kreative Denkprozesse relevante soziale und ökonomische Effektivität erreichen können. Das heißt, durch Prozesse, die Verbindungen schaffen, an die man bisher nicht gedacht hatte oder die als undenkbar galten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zivilisation ersetzen Maschinen nicht nur die Kraft menschlicher Muskeln, sondern auch komplexe menschliche Gedankensammlungen. Selbstlernende Maschinen treten als autonome Gestalter des Weltgeschehens in eine direkte Konkurrenzbeziehung zum Menschen.
Die Fähigkeit der Menschen, etwas zu bewirken, wird sich nicht mehr dadurch ausdrücken, wie sie ihre Gedanken in materielle Form bringen, sondern wie sie sich stattdessen in der Verbindung von intellektuellen, intuitiven, sozialen und emotionalen Prozessen manifestieren. Maschinen können das nicht – oder zumindest noch nicht. Maschinen können Muster aus einer Vielzahl bereits durchgeführter Prozesse erkennen und für einen bestimmten Zweck systematisieren. Intuition und Emotion bleiben (vorerst) die Domäne des Menschen, auch wenn Maschinen Emotionen erkennen und sie sogar mit bereits gespeicherten emotionalen Mustern simulieren können. Den „Race against the Machine“ 5 wird die Menschheit nur dann gewinnen, wenn sie sich auf jene Bereiche konzentriert (und diese durch Bildung fördert), in denen Menschen per definitionem besser sind als Maschinen. So paradox es klingt, es ist ausgerechnet die technologische Revolution, die zu einer Renaissance der menschlichen Evolution jenseits von Virtualität und Digitalität und quantifizierbarer Effizienz führen wird. Die von Aristoteles konstruierte Dichotomie zwischen Vita activa und Vita contemplativa, die zur Bedingung hatte, die Gesellschaft in Bürger und Sklaven zu spalten, könnte im Zeitalter der digitalen Maschinen auf völlig neue Weise interpretiert werden.
In der antiken griechischen Gesellschaft – auf die viele westliche Politiker oft verweisen – verbrachten die freien (damals nur männlichen) Bürger ihre Zeit damit, zu denken, zu debattieren, zu schreiben, Entscheidungen über die politische, ökonomische und soziale Entwicklung der Gesellschaft zu treffen, an künstlerischen und sportlichen Aktivitäten teilzuhaben und sich um das körperliche und seelische Wohl von Mitmenschen zu sorgen, jenseits von sogenannten niederen Dienste, wofür die Sklaven zuständig waren.
In unserer Zeit könnten wir tatsächlich darüber nachdenken, eine Gesellschaft von freien Männern und Frauen (!) zu haben, die ihr Leben der Gestaltung ihres privaten und gesellschaftspolitischen sowie des sozioökonomischen Bereichs widmen, sich aktiv an der gemeinsamen Entwicklung ihres kulturellen, politischen und wirtschaftliches Umfeldes beteiligen. Wenn die Rolle der Menschheit im Prozess der Zivilisation zur Disposition steht, wenn neue Technologien große Teile der bekannten menschlichen Arbeit übernehmen, wenn die Bedeutung der menschlichen Arbeit in ihrem philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Kontext neu definiert werden muss – dann ist es an der Zeit, über die Veränderung der Struktur unserer Gesellschaft und über die Fundamente gesellschaftlichen Zusammenhalts nachzudenken. Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft von freien Männern und Frauen (!), die von Robotern und selbstlernenden Maschinen unterstützt werden? Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft, die ihre Identität von einer neuen Definition und sozialen Funktionalität menschlicher Arbeit erhält?
Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft, die auf einer Definition von gesellschaftlichem und sozialem Engagement basiert, die sich eher auf die antike griechische Gesellschaft bezieht als auf die Gesellschaft, die von den Bedürfnissen und Mechanismen der letzten drei Industriellen Revolutionen geprägt ist?
Gibt es für die Bedingungen des digitalen Zeitalters eine sozial und wirtschaftlich sinnvolle Alternative zu einer Gesellschaft, in der sich die Menschen auf Bildung, Forschung, Kunst und Politik konzentrieren und die soziales Engagement als gesellschaftliche Aufgabe ansieht? Die ebenso realistische wie gefährliche Alternative ist die noch extremere Spaltung der Gesellschaft in eine kleine Minderheit, die gut entlohnte Arbeit, hohe Bildung und ein sinnerfülltes Leben hat und eine große Mehrheit, die weder Arbeit noch ausreichendes Einkommen hat, über geringe oder inadäquate, insbesondere enggeführte, mono-disziplinäre Bildung verfügt und die aus all diesen Gründen kein existenziell abgesichertes und schon gar nicht sinnerfülltes Leben führen kann.
Eine Neudefinition des Konzepts der menschlichen Arbeit ist angesichts der technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unumgänglich. Das Ergebnis dieser Neudefinition wird näher bei dem von Ralf Dahrendorf geprägten Begriff „sinnvolle Tätigkeit“ 6 liegen als bei den nach quantitativen Parametern wie Zeit, Stückzahlen oder Geschäftsfälle bemessenen Ausformungen von Lohnarbeit, die auf die Bedingungen des Industriezeitalters zurückgehen, welche dann systemkonform auf die Dienstleistungswirtschaft umgelegt wurden.
„Die Gesellschaft der Zukunft ist eine Gesellschaft freier, selbstbestimmter Menschen. Eine Gesellschaft von Menschen, die sich an den vielen kleinen Dingen des Lebens erfreuen und ihnen Sinn abgewinnen; egal ob sie als Jäger nach neuen, ungekannten Erlebnissen suchen, sich als Hirten um ihre Angehörigen, Freunde und die Hilfsbedürftigen kümmern oder als Kritiker die Gesellschaft überdenken und weiterdenken.“ 7
So beschreibt der Philosoph Richard David Precht seine positive, auf die Menschen und nicht auf die Technik zentrierte Utopie im digitalen Zeitalter.
Aber das Konzept der menschlichen Arbeit war und ist mit dem Konzept von Bildung verbunden. Veränderungen in den Mechanismen der menschlichen Arbeit führten zu jeder Zeit zur Änderung der Prinzipien und des Inhalts von Bildung. Umgekehrt war eine Veränderung im Bildungssystem oft Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Umwälzungen. Die Industrialisierung Europas ist untrennbar verbunden mit der gesetzlichen Einführung und praktischen Umsetzung der Allgemeinen Schulpflicht. Preußen hat die Allgemeine Schulpflicht von sechs Jahren bereits 1717 eingeführt und diese im Jahr 1763 auf acht Jahre erhöht. Die Analphabetenrate in Preußen sank rasch auf ein Minimum, was der Entwicklung einer stabilen Staatsverwaltung und eines starken Heeres förderlich war. In Österreich wurde die gesetzliche sechsjährige Allgemeine Schulpflicht im Jahr 1774 eingeführt, aus unterschiedlichen Gründen aber sehr lückenhaft umgesetzt. Die konsequente Umsetzung der Allgemeinen Schulpflicht samt Erhöhung auf acht Jahre erfolgte in Österreich erst ab dem Jahr 1869 – kurz nach der katastrophalen Niederlage Österreichs gegen Preußen in der Schlacht von Königgrätz. Thomas Nipperday hat daher den Preußischen Schulmeister als den Gewinner der Schlacht von Königgrätz 1866 bezeichnet.8 Die Einführung der Allgemeinen Schulpflicht war ein systemischer Paradigmenbruch. Im Gegensatz dazu wurden die europäischen Bildungssysteme mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft und von dieser zur sogenannten Wissensgesellschaft lediglich inhaltlich erweitert – insbesondere durch Fragmentierung – und an neue Erkenntnisse angepasst. Das grundsätzliche System, dem Lehre und Lernen folgt, blieb aber auf allen Bildungsebenen weitestgehend erhalten.
Angesichts der dramatischen Wirkungspotenziale der aktuellen technologischen Revolution, die an Geschwindigkeit und disruptiver Kraft ohne Vorbild ist, stellen sich heute ganz andere Herausforderungen an unser Denken und Handeln als im vor-digitalen Zeitalter.
Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde der klassische Kanon der Kulturtechniken – Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen – um die Fähigkeit erweitert, sich digital zu verständigen und zu artikulieren. Menschen, die diese Fähigkeit nicht beherrschten, wurden als digitale Analphabeten mit sozialer Marginalisierung bestraft und erlitten erhebliche Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.
Im 21. Jahrhundert muss dieser Kanon der Kulturtechniken erneut erweitert werden. In Anbetracht der Herausforderungen durch die rasche Abfolge tiefgreifender Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind Fähigkeiten gefragt, die man als „creative and transferable skills“ bezeichnen kann. In deren Mittelpunkt stehen Kreativität und die Fähigkeit sich nicht nur auf neue Bedingungen rasch einzustellen, sondern grundlegende Veränderungen selbst anzustoßen und willkommen zu heißen:
• Umgang mit Ambiguität und Ungewissheit;
• Imagination und Assoziation;
• Intuition;
• Denken in Form von Alternativen;
• unkonventionelle Kontexte herstellen;
• den Status quo hinterfragen;
• Perspektiven wechseln und
• erkennen, dass es andere Kommunikationsformen als verbale gibt.
Der Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderung ist ein Bildungssystem, welches die Vermittlung und den projektbezogenen Einsatz dieser Fähigkeiten als zentrale Bildungsziele sieht. Nicht isoliertes Fachwissen allein ist die Basis für Innovationskraft, sondern die Fähigkeit, in interdisziplinären und interkulturellen Kontexten zu denken und zu handeln, bestehende intellektuelle wie gewohnheitsmäßige Gewohnheiten zu hinterfragen, mit neuen Szenarien zu kommen und mit der eigenen Arbeit Staunen zu erzeugen. Die Forderung nach einer Stärkung der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zur Bewältigung der Herausforderungen des Digitalen Zeitalters ist ein gutes Beispiel dafür, dass man mit dem Wissen und den linearen Denkmustern der Vergangenheit die Probleme der Zukunft nicht lösen kann. Natürlich kann man auf Spezialwissen und Fachexpertise nicht verzichten, das allein reicht aber bei Weitem nicht aus. Im Gegenteil: Wenn man alle Energien und Ressourcen in diese eindimensionale Handlungsstrategie steckt, dann wird diese Strategie selbst zum Teil des bestehenden und sich verstärkenden Problems, weil es vorhandene problematische Strukturen einzementiert.
In unserer fragmentierten, vernetzten und uneindeutigen Welt ist es an der Zeit, interdisziplinäre Innovationsexperten auszubilden: Spezialisten für De-Spezialisierung!
Während das Bildungsbürgertum immer noch über den Niedergang eines längst verlorenen Ideals der enzyklopädischen Bildung klagt, und die Hauptakteure in der Bildungspolitik – von der Regierung bis zu den Universitäten – eine Politik der kosmetischen Reparatur der Symptome verfolgen, rast unser Bildungssystem in die bildungspolitische Sackgasse. Bildung und Forschung formen sich um ein Paradigma des Wissensfortschritts, das vor allem in Disziplinen oder subdisziplinären Nischen definiert und durch quantitative, bibliometrische Indikatoren gemessen wird. Dass komplexe Wirkungsmechanismen zunehmend die Grenzen akademischer Disziplinen überschreiten, wird in unserem Bildungs- und Forschungssystem weitgehend ignoriert.
John Dewey, der sich nicht zuletzt mit der Beziehung von Kunst und Gesellschaft beschäftigte, hatte ein anderes, damals wie heute nicht im akademischen Mainstream liegendes Bild von Wissenschaft, das er am Beispiel der Philosophie so beschrieb: „Philosophie gewinnt sich selbst wieder zurück, wenn sie nicht länger ein Hilfsmittel ist, um die Probleme der Philosophen zu lösen, sondern zu einer von Philosophen kultivierten Methode wird, um die Probleme der Menschen zu bewältigen.“ 9
Friedrich Kiesler, der 1926 aus Österreich in die USA ausgewanderte visionäre Denker, Architekt und Designer, entwickelte in den 1930er Jahren eine Theorie, die unter Aufhebung aller Kunstgattungen und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse Mensch und Umwelt als ganzheitliches System komplexer Wechselbeziehungen versteht. Correalismus 10 nannte er diese Theorie, die heute von ungeahnter Aktualität ist. Kieslers Überzeugung, dass visionäres Denken zugleich realistisches Denken ist, macht Mut in Zeiten zunehmender Mutlosigkeit. Mehr noch: Kieslers Denkansatz wird immer wichtiger, je mehr unsere Welt von Unsicherheit und Ambiguität gekennzeichnet ist, weil diesen Herausforderungen nicht allein mit der Anwendung von Algorithmen und Robotern begegnet werden kann, sondern primär mit visionärem, korrelativem Denken, das der herrschenden Dominanz von Standardisierung und Fragmentierung kühn entgegengesetzt wird.
Bereits 2009 hatte das European Research Area Board einen Paradigmenwechsel im Denken und in der Rolle der Wissenschaft gefordert. Ein neues „holistisches Denken“ wäre notwendig; Wissenschaft und Forschung sollten systemischen Wirkungen mehr Aufmerksamkeit schenken als engen Zielen. Der bemerkenswerte Titel des Berichts war „Preparing Europe for a New Renaissance“.11
Nie zuvor in der Geschichte haben die Menschen so viel Wissen hervorgebracht. Gegenwärtig gibt es 34.550 peer reviewed wissenschaftliche Zeitschriften auf der Welt. Jedes Jahr werden 2,5 Millionen wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht; alle 12 Sekunden erscheint ein wissenschaftlicher Artikel in einer Zeitschrift.12 Angesichts dieser Explosion des Wissens scheint eine enzyklopädische Erziehung eine absurde Behauptung zu sein. Da wir Zugriff auf eine Technologie haben, mit der wir unbegrenzt viel Wissen speichern und in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit in jedem gewünschten Detaillierungsgrad abrufen können, sollte die Aufbereitung und Verknüpfung von Wissen in das Zentrum des Bildungsbegriffes gestellt werden. Das ist umso wichtiger, als mono-disziplinäres Wissen ohne die Sicht auf den interdisziplinären Zusammenhang nicht mehr das erfüllen kann, was sowohl die nationale Parlamente 13 als auch die Europäische Union 14 für die Universitäten zur obersten Priorität erklärt haben: „verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen“ und an der Bewältigung der „Grand Challenges“ mitzuwirken.
Der Erwerb von Wissen über das Potenzial von Verbindungen zwischen den Disziplinen und vernetztem Fachwissen ist eine Expertise, die als Ergänzung zur Expertise in hochspezialisierten Wissensbereichen unverzichtbar ist. Die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts sowie der immer dringlichere Bedarf an Lösungen für globale Herausforderungen wie alternde Gesellschaften, Klimawandel, Migration und Mensch-Maschine-Fusion lassen es unverzichtbar erscheinen, den systematischen Erwerb von Wissen und Know-how in disziplinenübergreifenden, analytischen Ansätzen zur Suche nach synergistischen Potenzialen bei der Lösung komplexer Herausforderungen als primäre Aufgabe von Bildung für alle Ebenen und Altersstufen für möglichst viele Menschen zu etablieren. Wir können und dürfen uns nicht mehr darauf verlassen, dass Bildungssysteme derartige Expertise bloß als eine Art Kollateral-Nutzen produzieren.
„Wir sind uns alle sicher einig, dass es die Aufgabe der Bildung (…) war, ist und wahrscheinlich auch weiterhin sein wird, junge Menschen auf das Leben vorzubereiten. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann befindet sich die Bildung (einschließlich der universitären Bildung) jetzt in der tiefsten und radikalsten Krise ihrer krisenreichen Geschichte“,
erklärte Zygmunt Bauman in einem Vortrag an der Universität von Padua.15 Er bezog sich auf seine Theorie der „Liquid Modernity“, die er wie folgt umschreibt: „Die Formen des modernen Lebens können auf verschiedene Arten differenziert werden, aber was sie alle miteinander verbindet, ist ihre Fragilität, Zeitlichkeit, Verletzlichkeit und Tendenz zur konstanten Veränderung.“ 16
Bildung wird in dieser „Liquid Society“ wichtiger denn je. Doch Bildung und Bildungsinstitutionen werden sich dramatisch verändern müssen: Es geht um mehr Bildung für mehr Menschen, aber mit anderen Bildungszielen und anderen Bildungsinhalten.
Das World Economic Forum17 definiert die folgenden drei Kompetenzen als die wichtigsten für die Anforderungen der 4. Industriellen Revolution:
1. komplexe Problemlösungsfähigkeit;
2. kritisches Denken;
3. Kreativität.
Die dramatisch fortschreitende Spezialisierung in der Wissenschaftslandschaft und die damit einhergehende zunehmende Tendenz der WissenschaftlerInnen, sich in detaillierten Analysen zu erschöpfen, sind Fakten. Die Geschichte der Universitäten ist eine Geschichte der Fragmentierung. Die innovative, integrative Arbeit an Ideen zur Lösung der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts geht dabei verloren. Curricula und akademische Karrieren werden auf immer engeren Wissenskanälen aufgebaut. Den WissenschaftlerInnen, die in diesem System arbeiten, kann man jedoch nur teilweise Vorwürfe machen, weil Politik und Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten die Universitäten dazu gedrängt haben, Absolventen zu produzieren, die für die aktuellen Arbeitsverhältnisse so schnell wie möglich vorbereitet und nutzbar sind. Die berufsrelevanten Fachzeitschriften haben sich auf immer engere Disziplinen konzentriert, und der Druck, schnell und möglichst zahlreich zu publizieren, hat arbeitsintensive und zeitraubende Publikationen wie Monographien oder disziplinübergreifende Arbeiten systematisch verdrängt. Geprägt von politischer Macht und der Simplizität von Rankings haben die Universitäten inzwischen den Primat der quantitativen Messung der Forschung weitgehend verinnerlicht. Fachhochschulen, die auf die Vermittlung unmittelbar beruflich einsetzbarer, aktueller Fachkompetenz in engen Studienfeldern ausgerichtet sind, wurden und werden den Universitäten von Wirtschaft und Politik als Vorbilder vorgehalten. Das alles läuft vor dem Hintergrund eingeforderter universitärer Effizienzkontrolle ab, die mit quantitativen Zielen und jährlichen Meilensteinen die Entwicklung der Universitäten steuern soll, aber zunehmend auf kurzfristige Effekte ausgerichtet ist.
Der Wandel der Strukturen von Wirtschaft und Arbeitswelt ist damit in vollem Gange. „Liquid Times“ haben im wahrsten Sinne des Wortes begonnen. Die Arbeit verändert sich, und die Arbeit, wie sie derzeit bekannt ist, wird teilweise verschwinden. Das bedeutet, dass der Begriff „Beschäftigungsfähigkeit“ einerseits an die veränderten Strukturen und Anforderungen angepasst werden muss und andererseits die Fähigkeit einschließt, sich an neue Arbeitsformen anzupassen. Bildung, insbesondere die universitäre Ausbildung, kann sich nicht mehr, wie dies in der Vergangenheit zunehmend der Fall war, darauf beschränken, Beschäftigungsfähigkeit für bestehende Berufsfelder zu schaffen. 65% der Kinder, die heute in die Grundschule gehen, werden letztendlich in neuen Jobtypen und Funktionen arbeiten, die es derzeit noch nicht gibt.18
Die Universitäten müssen aktiv zur Neudefinition des Begriffs „Arbeit“ und zur konzeptionellen Gestaltung des dafür notwendigen sozialen Rahmens beitragen. Ihren AbsolventInnen müssen die Universitäten Fähigkeiten mitgeben, die sie in die Lage versetzen, rasch auf veränderte Voraussetzungen zu reagieren, neue Zusammenhänge zu erfassen, lernen als entdecken zu verstehen. Hat es früher geheißen „Wissen ist Macht“, so heißt es im 21. Jahrhundert „Kreativität ist Macht“. Es geht weniger darum, sich Wissen im klassischen Sinn, also Kenntnisse über Daten und Fakten, anzueignen, als dieses Wissen zu analysieren, zu hinterfragen und kreativ zu rekombinieren. Das bedeutet, dass die Universitäten vor völlig neuen Herausforderungen stehen. Wenn die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten in ihrer Struktur und ihrem Inhalt einer völlig neuen Logik folgen, wird dies dank der technologischen Revolution nicht ohne signifikante Konsequenzen für das Selbstverständnis der Universitäten, für etablierte Bildungsansätze und für die gesellschaftliche Gewichtung von Universitäten geschehen.
Die EU und die OECD haben es als Ziel für moderne Gesellschaften ausgerufen, dass in modernen Gesellschaften ein möglichst großer Anteil der Bevölkerung tertiäre Bildung absolviert. Mindestens 40% der Bevölkerung im Alter zwischen 30 und 34 Jahren sollte einen Hochschulabschluss haben.19 Angesichts der absehbaren Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft erscheint dies nur logisch. Automatisierbare Arbeiten, sowohl manuelle als auch mentale, werden in wenigen Jahren von Maschinen übernommen. Arbeitsbereiche, die nicht automatisiert werden können, ob sie bereits existieren oder neu entwickelt werden, erfordern eine höhere Bildung – die sich jedoch deutlich von der derzeit angebotenen unterscheidet. Auch die Tatsache, dass in Zukunft Menschen mit „intelligenten“ Robotern konkurrieren werden, für die die Anerkennung von Grundrechten und die Zulassung zum Wahlrecht bereits ernsthaft diskutiert werden, macht deutlich, wie wichtig Bildung für die Frage der menschlichen Selbstbestimmung ist. In einer Situation des Wettbewerbs mit Künstlicher Intelligenz und synthetischer Biologie wird es sich die Menschheit langfristig nicht leisten können, Bildung und Kunst als eine Methode zur sozialen Abgrenzung 20 und Ausgrenzung beizubehalten, geschweige denn, Bildung und Kunst auf diese Weise aktiv zu instrumentalisieren. Bildung, einschließlich universitärer Bildung, wird noch wesentlich mehr als bisher zu einem Gut werden, das von weiten Teilen der Bevölkerung genutzt wird. Es wird jedoch eine andere Art von Bildung sein, nicht zuletzt an den Universitäten. Aber die so genannte „Massenbildung“ im Tertiärbereich, wie es oft genug in unverhohlener elitärer Geringschätzung der „Massen“ heißt, passt nicht zusammen mit der durchgehenden Spezialisierung der Studienangebote. Fast ausschließlich spezialisierte Studienangebote an Universitäten und noch mehr an den Fachhochschulen machen weder wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch noch sozial- und gesellschaftspolitisch Sinn für die Bedingungen in den kommenden 20 Jahren.
Fast könnte man meinen, das Festhalten an der Struktur der Studienangebote, die aus einer Zeit stammt, als die Universitäten ein Zehntel der heutigen Studierendenzahlen hatten und hauptsächlich für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die Universitäten selbst und für die Ausbildung einer überschaubaren Zahl von Ärzten und Richtern zuständig waren, sei eine gezielte Strategie zur gesellschaftlichen Desavouierung der Öffnung der Universitäten. Die Renaissance einer Bildungspolitik, die den akademischen Elitismus unterstützt, wird weder den wirtschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts noch den gesellschaftspolitischen Herausforderungen gerecht werden, die sich aus Demografie, Klimawandel und einer technologischen Revolution mit nie dagewesener revolutionärer Macht ergeben.
Die Universitäten werden einen Paradigmenwechsel in ihren Inhalten vornehmen müssen. In demokratischen Gesellschaften brauchen Universitäten die emotionale und politische Unterstützung der großen Mehrheit der Bürger. Gesellschaftliche Anerkennung kann durch den Nachweis erreicht werden, dass Universitäten an Lösungen für die komplexen Probleme der Zukunft arbeiten und dass sich die Universitäten in Lehre und Forschung ernsthaft auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen konzentrieren.
Die Universitäten der Zukunft werden weltweit mehr Studierende haben als bisher, das Studium wird aber inhaltlich und organisatorisch anders gestaltet sein als bisher.
Die Universität der Zukunft wird die Verbindung zwischen Forschung und Lehre fortsetzen. Nur ein institutioneller, forschungsorientierter Unterricht kann sicherstellen, dass die Curricula auf dem neuesten Stand sind und mit den sich ändernden inhaltlichen Anforderungen Schritt halten können.
Die Universität wird digitaler und personalisierter sein als je zuvor. Die Organisation von MOOCs und anderen Online-Klassen wird zunehmen, nicht zuletzt als Imagebildungsfunktion von Universitäten. Aber nicht jede Universität wird ihre eigenen MOOCs produzieren; der Austausch von MOOCs wird wesentlich wichtiger sein. Und auch andere Online-Wissensangebote, wie z.B. TED und ähnliche zu entwickelnde öffentliche Formate, werden Teile eines zunehmend modularisierten Studienverlaufes werden.
Gleichzeitig wird der Online-Unterricht die Universitäten personalisierter machen. Digitale Vorlesungen werden nur die Basis für interpersonelle, diskursintensive Diskussionsformate in kleinen Gruppen sein. Die Projektorientierung der weitaus überwiegenden Zahl von Studiengängen wird persönlichen Interessen und Vorkenntnissen bei der inhaltlichen Zusammenstellung des Studienganges Raum lassen.
Die Rolle der Hochschullehrer wird sich dramatisch verändern: Von der Abhaltung von faktenvermittelnden Lehrveranstaltungen in Vortragsform für eine große Anzahl von Studierenden hin zu Lehrveranstaltungsformaten, welche die kritische Reflexion von Daten und Fakten und deren Wechselbeziehungen stimulieren. Jetzt schon informell praktizierte Modelle, in denen Studierende miteinander und voneinander lernen, insbesondere StudienanfängerInnen von fortgeschrittenen Studierenden, werden formalisiert und in den Studienbetrieb integriert.
In Prüfungen wird nicht bewertet, wie es den Studierenden gelingt, bestehendes Wissen, Daten und Fakten – das in Datenbanken gespeichert und jederzeit abrufbar ist – zu erwerben und zu reproduzieren, sondern ob und wie sie für völlig neue Probleme und Herausforderungen existierende Strategien und Prozesse zur Analyse und Lösungsfindung adaptieren oder neue Strategien und Prozesse entwickeln können.
Künstliche Intelligenz in Form von akademischen Chatbots mit leistungsfähigen Datenbanken im Hintergrund wird eine wesentliche Rolle bei der Durchführung von Universitätsstudien spielen.
Die Universität der Zukunft wird eine Institution sein, die sich aktiv dem lebenslangen Lernen widmet. Das schnelle Wachstum von Wissen und die nahezu ständige Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen machen dies unverzichtbar. Wenn Bildung ein wichtiger Aspekt der Neudefinition von Arbeit sein soll, was angesichts der technologisch angetriebenen Revolutionierung der Arbeitsmärkte als sicher angenommen werden kann, wird die Universität der Zukunft in periodischen wiederkehrenden Zyklen frequentiert und genutzt werden – neben anderen sich zunehmend verändernden Arbeitsbeziehungen.
An der Universität der Zukunft wird es neben hochspezialisierten Forschungsbereichen auch disziplinenübergreifende, thematisch fokussierte Forschungsstrukturen geben, die sich auf „globale und regionale Herausforderungen“ konzentrieren. Das bedeutet keine Relativierung der Bedeutung der Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist nicht notwendigerweise mono-disziplinär, und die Forderung nach einer Fokussierung der Forschung auf die globalen Herausforderungen spricht auch nicht einem platten Utilitarismus das Wort. Die Welt und die Zusammenhänge der großen globalen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu verstehen, deren Komplexität nicht zuletzt ein Resultat des wissenschaftlichen Fortschritts ist, hat nichts mit Utilitarismus zu tun. Disziplinenübergreifende Forschung aus ihrer karriereschädigenden Paria-Existenz herauszuführen, liegt auch im Interesse des Wissenschaftssystems.
Wissenschaftliche und wissenschaftlich-künstlerische Publikationen zur projektorientierten, interdisziplinären Forschung zu „gesellschaftlich relevanten“ Forschungsagenden („globale Herausforderungen“) werden auf einer über-universitären, idealerweise europäischen Ebene gefördert. Review-Boards, die sich aus erstklassigen Wissenschaftlern zusammensetzen, werden diesen Publikationen Anerkennung in den wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen und damit auch bei den Karriereentscheidungen an den Universitäten geben.
In Zukunft werden mehr Studierende als heute an einer Universität eingeschrieben sein, aber das Profil der Programme und damit das Profil der Absolvierenden wird anders sein. Neben den traditionellen Lehrplänen mit speziellen Inhalten für eine kleine Anzahl von Studierenden bieten die Universitäten für eine große Anzahl von Studierenden interdisziplinäre und interuniversitäre Programme an, die Kenntnisse und Kompetenzen vermitteln, in deren Mittelpunkt creative skills, soziale Intelligenz, Veränderungsadaptivität und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein stehen:
• kritisches Denken;
• Fähigkeiten in der disziplinübergreifenden Kommunikation und Kooperation;
• Umgang mit Mehrdeutigkeit und Unsicherheit;
• Denken in ungewöhnlichen Kontexten;
• Imagination und Intuition;
• Künstliche Intelligenz, Robotik, Gentechnik und Quantenphysik;
• Mechanismen von Politik und Wirtschaft im digitalen Zeitalter;
• Philosophie, verstanden als Wege des Wissens und der Bedeutung in einer Welt, die von der neuen technologischen Revolution angetrieben wird;
• globale Herausforderungen wie Klimawandel, Migration, Menschenrechte, alternde Gesellschaft, neue Formen der Arbeit.
Die Universität für Angewandte Kunst Wien hat – ganz in diesem Sinne – 2017 als Pionierinstitution für disziplinenübergreifende Studien mit gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch das Studium „Cross-disciplinary Strategies – Applied Studies in Art, Science, Philosophy and Global Challenges“ 21 eingerichtet. Dabei geht es um die Vermittlung von creative and transferable skills zur Herstellung von Kommunikations-, Analyse und Strategieentwicklungsfähigkeit für die globalen Herausforderungen.
Während der 4. Industriellen Revolution, die durch die jüngste technologische Revolution angetrieben wurde, brauchen wir eine Bildungsrevolution. Die treibenden Kräfte dafür werden Kreativität und soziale Intelligenz sein. Holistische Ansätze, die den Blick auf die Zusammenhänge und synergetischen Wirkungsmechanismen schärfen, müssen die Strukturen und Inhalte von Lehren, Lernen und Forschen bestimmen. Diese Bildungsrevolution wird die Heranbildung von ExpertInnen im Zusammenführen von Wissen und im Verbinden der vom Wissenschaftssystem erschaffenen und in ihrer Isolation gepflegten Wissenstürme zum Ziel haben.
Wenn wir diesen Weg nicht gehen, verlieren wir entweder das Rennen gegen die Maschinen oder gegen die Big-Data-Unternehmen, die Bildung bereits als wichtigstes Geschäft des 21. Jahrhunderts erkannt haben und den Bildungssektor nach den Interessen des Shareholder Value für die Aktionäre übernehmen wollen anstelle gesellschaftlicher Interessen einer demokratischen Gesellschaft freier Männer und Frauen.
Wohl nicht zufällig lässt das offene und zugleich gesellschaftlich bewusste intellektuelle Klima, das im Einflussbereich der Kunst so oft zu beobachten ist, auch heute noch das Setzen neuer Akzente zu. Wo die Beschäftigung mit Ambiguität und Ungewissheit, die Suche nach ungewohnten Zusammenhängen sowie die Verfremdung und Dekonstruktion der Realität zum Zweck der Herstellung neuer Realitäten zur permanent präsenten Arbeitsgrundlage zählt, weht vielleicht auch ein anderer Weltgeist; einer, der sich nicht nur mit der Hilfe von Hegels „List der Vernunft“ durchsetzt, sondern im Besonderen durch die Kraft der „Intelligenz der Emotionen“ 22, wie uns Martha Nussbaum aufklärt.
Gewissheit ist die Domäne der Fundamentalisten. Die Domäne der Kunst ist es, mit Ungewissheit umzugehen. Diese den Künsten, ihren Methoden und Strategien innewohnenden Wirkungskräfte gesellschaftlich nutzbar zu machen, wird die große Aufgabe der nächsten Jahre sein. Vom Einsatz der Creative Skills und der sozialen Intelligenz wird es abhängen, ob die Menschheit im digitalen Zeitalter einer friedlichen Zukunft oder dem Untergang zusteuert.
Die Existenz einer aufgeklärten Gesellschaft hängt davon ab, ob und in welchem Ausmaß es möglich ist, mit Unsicherheit, Skepsis, Veränderung und Erneuerung produktiv umzugehen. Um das zu erreichen, sind Maßnahmen – insbesondere in der Neudefinition von Bildung und Arbeit – notwendig, die mehr sind als kleine Schritte in die richtige Richtung. Denn der technologische Fortschritt, der Klimawandel, die globale Migration und die demographische Veränderung der Gesellschaft kommen in riesigen Schritten auf uns zu. Jetzt ist nicht mehr die Zeit für kleine Schritte. Es ist an der Zeit, die großen Visionen umzusetzen.
1. Carl Benedict Frey and Michael Osborne, The Future of Employment, Oxford Martin School, http://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf (2013).
2. McKinsey Global Institute, A future that works: Automation, Employment and Productivity, Januar 2017, https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Featured%20Insights/Digital%20Disruption/Harnessing%20automation%20for%20a%20future%20that%20works/MGI-A-future-that-works_Executive-summary.ashx.
3. Harvard Business Review, 12. April 2017, https://hbr.org/2017/04/the-countries-most-and-least-likely-to-be-affected-by-automation.
4. Zitiert in: Derek Thompson, A World Without Work, Atlantic, Juli/August 2015.
5. Vgl. Eric Brynjolfsson und Andrew McAfee, Race against the Machine, Lexington 2011.
6. Ralf Dahrendorf, Wenn aus Arbeit sinnvolles Tun wird. Die Alternativen zur Arbeitsgesellschaft, in: Die Zeit, 3. Dezember 1982.
7. Richard David Precht, Jäger, Hirten, Kritiker, München 2018.
8. Thomas Nipperday, Deutsche Geschichte 1866–1918, München 1990, S. 531.
9. John Dewey, Die Notwendigkeit einer Selbsterneuerung der Philosophie, in: John Dewey: Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt 2004, S. 193.
10. Frederick Kiesler, On Correalism and Biotechnique. A Definition and Test of a New Approach to Building Design, in: Architectural Record, 86/3, September 1939. Übersetzung G. Bast.
11. European Commission, Preparing Europe for a New Renaissance, A Strategic View of the European Research Area, 2009.
12. STM Report 2015, https://www.stm-assoc.org/2015_02_20_STM_Report_2015.pdf.
13. Z.B. in Österreich durch den Zielparagraphen des Universitätsgesetzes.
14. EU Commission: The role of universities in the Europe of knowledge; https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=LEGISSUM%3Ac11067; EU Commission, The Grand Challenge, https://ec.europa.eu/programmes/horizon2020/en/news/grand-challenge-design-and-societal-impact-horizon-2020.
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