Manfred Lütz | Paulus van Husen
Als der Wagen
nicht kam
Eine wahre Geschichte aus dem Widerstand
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
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Umschlaggestaltung: Judith Queins
Umschlagmotiv: © Weegee/akg-images
Alle Abbildungen: © Manfred Lütz
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print: 978-3-451-38421-9
ISBN E-Book: 978-3-451-81621-5
Mein Großonkel Paulus van Husen (Manfred Lütz)
Als der Wagen nicht kam (Paulus van Husen)
I. Das pralle Leben
1. Eine herrliche Kindheit in der »guten alten Zeit« – Kriegsspiele, der Kaiser in Münster, Absurditäten am Badestrand
2. Die große weite Welt: Oxford, London, Genf – ein abenteuerliches Studentenleben
3. Die Ruhe vor dem Sturm – ein Traumjob, ein Traumregiment, eine Traumhochzeit
4. Das Ende aller Träume: Krieg – mit Glück durch das Grauen und am Ende noch ein echtes Husarenstück
II. Plötzlich mitten in der großen Politik
1. Wie man eine Republik verteidigt – mit Mut und Geschick gegen revolutionäre Westfalen
2. Auf in die nächste Krise – an entscheidender Stelle inmitten internationaler Verwicklungen in Oberschlesien
3. Eine Traumkarriere – als Generalbevollmächtigter des Prinzen Hohenlohe mit eigenem Schloss, Chauffeur und reichlich Personal
4. Auf internationalem Parkett – deutsches Mitglied der Gemischten Kommission
III. Das braune Verhängnis nimmt seinen Lauf
1. »Aber das sind doch Verrückte« – Göring süß und sauer, »Unsere Liebe Frau vom Hakenkreuz« und eine braune Operettenfigur
2. Auf Konfrontationskurs – riskante Maßnahmen gegen die Judenverfolgung und eine Kampfansage auf Leben und Tod
3. »Dem Löwen auf den Schwanz treten« – als Preußischer Oberrichter in immer brauneren Zeiten
4. Tagtägliche Gefahr – Leben in der braunen Diktatur
IV. Im Auge des Orkans
1. Plötzlich im Zentrum der Macht, dem Oberkommando der Wehrmacht – auf eine Zigarette mit Keitel
2. Sand im Getriebe des totalitären Staates – Widerstand auf eigene Faust
3. Wie man Nazis einschüchtert – Auge in Auge mit Reinhard Heydrich, dem »Schlächter von Prag«
4. Erschreckende Blicke hinter die Kulissen – Belgrad, Paris und die Judenvernichtung im Osten
V. Hitler töten
1. Vom Gewissen getrieben – im Kreisauer Kreis mit Moltke, Yorck und den anderen: Ringen um die Zukunft Deutschlands
2. Tyrannenmord – auf dem Weg zum Attentat vom 20. Juli 1944
3. Drama – Begegnungen mit Stauffenberg und dann überschlagen sich die Ereignisse
4. Als Letzter in Freiheit – am Ende schnappt die Falle zu
VI. Abrechnung, die Rache des Tyrannen
1. Verhaftung in Torgau – wie ein Reichsrichter Angst vor einer Frau bekam
2. KZ Ravensbrück – im Rachen des Löwen
3. Gespanntes Warten auf den Prozess – ein Kommunist bringt heimlich die Kommunion
4. Der Prozess vor dem Volksgerichtshof und das Urteil – Verlegung nach Plötzensee und Befreiung
VII. Die Stunde null, Aufbruch in eine neue Zeit
1. Zwischen den Fronten in ständiger Gefahr – eine abenteuerliche Flucht nach Hause
2. Mitbegründer der CDU – die ersten Schritte in eine neue Demokratie
3. Berater der amerikanischen Militärregierung – Mitarbeit an der Neugestaltung Deutschlands
4. Wieder Richter am Kölner Obergericht – politische Turbulenzen um das oberste Gericht Nordrhein-Westfalens
VIII. Große Ämter, die Adenauer-Affäre und Gedanken an das Ende
1. Zurück in Münster – Präsident des Oberlandesgerichts und zugleich erster Präsident des Verfassungsgerichts
2. Ein Angebot, das man eigentlich nicht ablehnen kann – die Adenauer-Affäre
3. Verlockende Aussichten und Bilanz – die Arbeit an der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen
4. Nachtgedanken – am Ende Humor und Zuversicht
Lebenslauf Paulus van Husen
Abbildungen
Über die Autoren
Paulus van Husen war mein Großonkel. Ich habe ihn, den in der Familie immer eine geheimnisvolle Aura umgab, nie persönlich kennengelernt. Aber dann wurde ich ganz unerwartet durch schicksalhafte Fügung sein Erbe. In einem Schrank fand ich tief unten einen verschnürten Papierstapel mit der Notiz, das hier Niedergeschriebene erst zu veröffentlichen, wenn es niemandem mehr schaden könne. Es waren seine Memoiren, die Ernte seines abenteuerlichen Lebens, die nun diesem Buch zugrunde liegt. Es waren die Lebenserinnerungen eines Mannes, der als einer der wenigen Mitverschwörer des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 überlebt hat, der nicht nur Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Peter Graf Yorck von Wartenburg und Helmuth James Graf von Moltke kannte, sondern der auch mit dem obersten Nazipropagandisten Joseph Goebbels, dem SS-Führer Reinhard Heydrich und Feldmarschall Wilhelm Keitel persönlich gesprochen oder gar verhandelt hatte, der von Bundeskanzler Konrad Adenauer ein spektakuläres Angebot bekam, das man eigentlich nicht ablehnen konnte, und am Ende der erste Verfassungsgerichtspräsident Nordrhein-Westfalens wurde.
Es war ein unheimliches Haus, das ich im Jahre 1996 zum ersten Mal in meinem Leben betrat. Die Fenster waren mit alten schweren Vorhängen zugehangen, die Lampe beleuchtete trübe eine Szene, die jedem Hitchcock-Film alle Ehre gemacht hätte. Alte, dunkle, massige Möbel starrten mich im Wohnzimmer an. Da waren Bücherregale, düstere Gemälde mit mir unbekannten Gestalten, alte Fotos in Bilderrahmen auf den wuchtigen Kommoden und Tischen. Und überall lagen Stapel von Papieren und Büchern. Man hätte sich nicht gewundert, wenn zwischen all dem Zeug, das da offenbar schon seit Jahren seinen Platz hatte, der Blick mit der Zeit im Dämmerlicht auf eine vergessene Leiche gefallen wäre.
Hans-Norbert van Husen hatte mir geöffnet, der unverheiratete Neffe und Erbe meines Großonkels. Er war nur zehn Jahre älter als ich, hatte Medizin studiert, war Professor geworden, einer der führenden deutschen Gastroenterologen, am Ende hochangesehener Chefarzt der Raffaelsklinik in Münster. Ich war ihm nur selten begegnet, aber schätzte ihn außerordentlich mit seiner feinen, liebenswürdigen, aber etwas scheu-zurückhaltenden Art. Wir schrieben uns ab und zu. Zuletzt hatte ich ihn auf meiner Hochzeit 1995 gesehen, da war er noch froh und zuversichtlich gewesen. Aber der mir da jetzt die Tür öffnete, war ein gezeichneter Mann. Vor einem Jahr hatte er bei sich selber Darmkrebs diagnostiziert und kurz danach ganz unerwartet einen Schlaganfall erlitten. Hans-Norbert, der nur der Wissenschaft gelebt, Bücher und Aufsätze publiziert und deswegen kaum ein Privatleben gehabt hatte, konnte nun weder lesen noch schreiben und man verstand ihn nur schwer. Er lächelte, als er mir öffnete, und humpelte mir voraus ins Wohnzimmer.
Ich erinnere mich, dass wir mit unserer ganzen Familie Ende der 1960er Jahre nach Münster gefahren waren, um Onkel Leo und Tante Marli, die Eltern von Hans-Norbert, zu besuchen. Leo van Husen war der zwölf Jahre jüngere Bruder von Paulus van Husen. Und dann gab es da noch die Schwestern, meine Großmutter Maria und Luise, die alle Tante Ite nannten, und die unverheiratet mit dem ebenso unverheirateten Paul zusammenlebte. Er legte übrigens wert darauf, Paulus genannt zu werden – was die Familie nicht daran hinderte, immer nur von »Onkel Paul« zu reden. Merkwürdigerweise besuchten wir ihn damals nicht, fuhren mit dem Auto nur an seinem Haus am Aasee vorbei. In diesem Moment machte oben jemand die Fensterläden zu. Meine Mutter zuckte zusammen: »Das war Tante Ite«, flüsterte sie.
Tante Ite, die ich ebenso nie persönlich erlebt habe, hatte in der Familie einen Ruf wie Donnerhall. Das kam daher, dass meine ganz jung verwitwete Großmutter Maria 1935 bei Onkel Paul und Tante Ite in Berlin-Grunewald eingezogen war – mitsamt ihren sechs Kindern zwischen neun und 18 Jahren. Maria war mit ihrer Situation offenbar heillos überfordert und deswegen nahm ihr Bruder sie auf. Doch Paulus van Husen und noch mehr seine Schwester Ite waren von dieser Invasion offenbar genauso überfordert, denn das unverheiratete Geschwisterpaar wusste mit Kindern nichts anzufangen. Das führte vor allem zu endlosen Spannungen mit Tante Ite, die bei Einzug der Großfamilie gerade mal 29 Jahre alt war. In seinen Memoiren spricht Paulus van Husen immer in den höchsten Tönen von seiner »tapferen Schwester«. In Wahrheit war sie wohl, wie alle, die mit ihr zu tun hatten, übereinstimmend berichten, ziemlich schwierig, jedenfalls äußerst launisch und unberechenbar. Onkel Leo sagte mir mal auf meine penetranten Nachfragen zu Tante Ite, seiner jüngeren Schwester, in seinem unnachahmlichen schwarzen westfälischen Humor liebevoll schmunzelnd: »Se is wohl nich ganz gar geworden«. Man erzählte sich, dass Paulus seinem Vater auf dem Sterbebett versprochen habe, für »das Itekind« zu sorgen. Er muss wohl dieserhalb eine Verlobung gelöst haben, hat sich dann aber sein Leben lang wirklich rührend um seine Schwester gekümmert. Und stand natürlich bei Auseinandersetzungen immer auf ihrer Seite. Aber auch sie setzte sich leidenschaftlich für ihren Bruder ein. Dabei nutzte sie offensichtlich auch ihre in der Familie gefürchteten Eigenheiten, als sie zum Beispiel, wie in den Memoiren beschrieben, einen gestandenen Senatspräsidenten am Reichsgericht mit der Androhung, sofort das ganze Gericht zusammenzuschreien, dazu brachte, bei der Gestapo anrufen zu lassen, um nähere Informationen über ihren soeben verhafteten Bruder zu erhalten.
Jedenfalls entstanden offenbar erhebliche Spannungen zwischen der vaterlosen Großfamilie und dem kinderlosen Geschwisterpaar. Meine Mutter berichtete mir, dass auch Onkel Paul wohl für Kinder kein rechtes Verständnis hatte. Als umfassend gebildeter Europäer war er entsetzt, dass sie zum Beispiel Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon nicht kannte. Von den Treffen der Verschwörer im Haus von Onkel Paul hat sie, die zum Zeitpunkt des Attentats immerhin 22 Jahre alt war, nicht das Geringste mitbekommen. Das Einzige, was ihr auffiel, war, dass öfter ein Kaffeewärmer über das Telefon gestülpt wurde und dass einmal Pater König in einem Schrank verschwand, als es an der Tür schellte. Immerhin fand das letzte Treffen Stauffenbergs mit den Mitgliedern des Kreisauer Kreises am 14. Juli 1944 in dem Haus statt, in dem meine Mutter damals wohnte, dennoch hat sie überhaupt nichts davon bemerkt. Mit dieser strengen Geheimhaltung wollte Paulus van Husen natürlich seine Angehörigen schützen. Übrigens hat es bei meiner Mutter einen bleibenden Eindruck hinterlassen, dass er einmal bei irgendeinem Anlass laut durchs Haus rief: »Wie kann man ein Kind nur Horst nennen!« Horst war für ihn ein heidnischer Name, da es keinen heiligen Horst gab, und vor allem war er bei Nazis beliebt, die ja schmetternd das Horst-Wessel-Lied sangen. Onkel Paul war tief katholisch. Ich habe in seinem Haus mehr Madonnendarstellungen pro Quadratmeter gefunden als an jedem anderen Ort, Kirchen eingeschlossen.
Meiner Mutter verübelte es Onkel Paul wohl vor allem, dass sie 1945, festgeklammert auf dem Kühler eines Botschaftsautos, in letzter Minute Berlin verlassen hatte, da sie mit ihren 23 Jahren damals nicht den Russen in die Hände fallen wollte, die sich gerade anschickten, den Ring um die Hauptstadt zu schließen. Daher war Tante Ite im Haus im Grunewald alleine zurückgeblieben.
Aus all diesen Gründen war das Verhältnis meiner Mutter und ihrer Geschwister zu Onkel Paul nicht unkompliziert. Dennoch sieht man Onkel Paul auf den Bildern der Hochzeit meiner Eltern 1953 zusammen mit seiner Schwester, meiner Großmutter Maria, sozusagen als Vaterersatz. Man schrieb sich auch bisweilen, aber der Kontakt war jedenfalls distanziert und so habe ich weder Onkel Paul noch Tante Ite jemals persönlich kennengelernt, was ich natürlich im Nachhinein sehr bedaure. Als Paul am 1. September 1971 starb, erbte alles seine Schwester Ite, nach deren Tod 1974, wie bereits von Paul verfügt, der Sohn von Onkel Leo, Hans-Norbert. Allerdings gab es noch ein kleines juristisches Geplänkel, weil Onkel Paul das Erbe für Hans-Norbert an die Bedingung geknüpft hatte, dass er dermaleinst eine gut katholische wohlbeleumundete Frau heiraten müsse. Das sei sittenwidrig, meinten einige Juristen in der Familie, aber sie ließen das Ganze dann doch auf sich beruhen, zumal Hans-Norbert sich allseitiger Beliebtheit erfreute.
Im Jahre 1997 starb Hans-Norbert mit nur 53 Jahren. Er hatte sehr unter seiner Hilflosigkeit gelitten. Ich hatte ihn einige Male besucht und vor allem Freunde vor Ort hatten sich rührend um ihn gekümmert. Zu meiner völligen Überraschung teilte mir seine Mutter, Tante Marli, mit, dass Hans-Norbert mich immer schon als Erben genannt habe, so dass ich nach ihrem Tod tatsächlich das Erbe von Onkel Paul antrat. Tante Marli konnte mir noch viel von Onkel Paul erzählen. Sie selber war als Tochter eines deutschen Kolonisten in Deutsch-Ostafrika geboren. Zum offensichtlichen Kummer von Onkel Paul war seine Schwägerin evangelisch. In Münster kam hinzu, wie sie mir erzählte, dass sie eben »keine Geborene« sei, keine Münsteranerin also. Onkel Leo, der blitzgescheit, humorvoll, aber völlig ohne Ehrgeiz war, so dass er sein Leben lang Amtsrichter blieb und damit auch zufrieden war, lebte in einer winzigen Wohnung mit seiner Frau und ihrem einzigen Kind, Hans-Norbert. Er war genauso grundsolide wie Paul, nahm aber das Leben wohl etwas leichter. Tante Marli litt unter der westfälischen, etwas ritualisierten Biederkeit der Familie. Regelmäßig gab es ziemlich steife Treffen von Leo und Hans-Norbert bei Paul und Ite, zu denen sie oft nicht dazugebeten wurde. Am Ende ihres Lebens lebte sie geradezu auf, da sie endlich keine Rücksichten mehr nehmen musste.
Bei unseren Besuchen in Münster nach dem Tod von Hans-Norbert bat Tante Marli meine Frau und mich, das Haus am Aasee auszuräumen, und das wurde zu einem monatelangen Abenteuer. Wir fanden das Gedicht, das die Kinder meiner Ururgroßeltern anno 1865 zur Silberhochzeit ihrer Eltern verfasst hatten, die Poesiealben meiner Urgroßmutter von anno 1870, ebenso von meiner Großmutter und manch andere Memorabilien. Aber wir fanden auch historisch spannende Dokumente zu Paulus van Husen, so den Original-Haftbefehl, die vom Chef der Reichskanzlei unterzeichnete Ausstoßung aus dem Beamtenstatus, die Original-Landkarte von Pater Lothar König mit den darin eingezeichneten Grenzen der Länder, in die das Deutsche Reich aus Sicht der Kreisauer nach dem Ende des Grauens eingeteilt werden sollte, auch ein Telegramm von Staatssekretär Hans Globke, in dem er Paulus van Husen zum Gespräch mit Adenauer bittet, und Briefe von seinem Freund, dem ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning, der ihn in der Nachkriegszeit mit Care-Paketen aus Amerika unterstützte. Es gab auch eine schmale Akte, die von einer Angelegenheit handelte, die er nirgends erwähnt, die ihn aber hinter seinem kantigen Äußeren ganz menschlich erscheinen lässt. Er hat jahrelang einen Strafgefangenen betreut, ihn regelmäßig besucht und ihm auch sonst vielfach geholfen. Noch am 9. Januar 1971, also kurz vor seinem Tod, schreibt er an einen Pfarrer, er möge sich doch bitte um die vereinsamte Witwe eines Freundes kümmern. Das und vieles andere mehr fanden wir bedeckt vom Staub der Zeit.
Das Haus wirkte ohnehin wie ein verwunschenes Dornröschen-Schloss, in dem seit über 25 Jahren nichts geändert worden war. Hans-Norbert schlief im Bett seines Onkels, überall standen noch Erinnerungsbilder von Onkel Paul, insbesondere Fotos seines besten Freundes, des letzten Oberpräsidenten von Oberschlesien und ersten Vertriebenenministers der Bundesrepublik Hans Lukaschek. An den Wänden hingen Fotos und Bilder meiner Vorfahren, von denen ich bis dahin überhaupt nicht wusste, wie die ausgesehen hatten. Da war eine Daguerreotypie meiner Urururgroßeltern, also ein Foto aus dem Jahre 1848, Fotos meiner Ururgroßeltern, es gab große Ölgemälde meines Urgroßvaters, der wie ich Arzt gewesen war und dem ich etwas ähnlich sehe, und seiner Frau, der Mutter von Onkel Paul, die ja noch bis zu ihrem Tod im Jahre 1942 in Berlin in seinem Haus gewohnt hatte. Es gab ein Familienbild mit meinen Urgroßeltern und all ihren vier Kindern, Paul, meiner Großmutter Maria, Leo und Ite. Und dann gab es da noch ein Gemälde, von dem auch in den Memoiren die Rede ist, das in seiner ersten Version eine etwas zu nackte Waldgöttin zeigte und das dann vom Maler zu einer angezogeneren Muttergottesdarstellung im Wald umgeschaffen wurde. Der Garten, in dem Onkel Paul Rosen, aber auch Essbares angepflanzt hatte, war total verwildert und das Haus im Grunde auch. Tante Ite hatte nach dem Tod ihres verehrten Bruders nichts geändert und das Haus wie ein Museum gehalten. Und genauso hatte es Hans-Norbert nicht gewagt, das Haus für sich selber einzurichten. Auch er wohnte in diesem Anwesen offenbar wie ein Museumswärter, der die alten Stücke bewacht. Freunde hat er in sein Haus, wie ich erfuhr, nie eingeladen. Über allem schwebte der Geist von Onkel Paul.
Und dann fand ich die Memoiren. Sofort war klar, dass das, was ich da las, von außerordentlicher historischer Bedeutung war, denn es gab ja nur wenige überlebende Mitverschwörer vom 20. Juli und außerdem hatte Paulus van Husen als Mitbegründer der CDU in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Aber auch seine Erlebnisse bei der Stabilisierung der chaotischen Zustände in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg, sein Amt als deutscher Vertreter in der dem Völkerbund verantwortlichen Gemischten Kommission für Oberschlesien und seine Tätigkeit beim Oberkommando der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg mussten für Historiker von großem Interesse sein. Deswegen gab ich den ganzen Packen der Memoiren an Professor Karl-Joseph Hummel von der Bonner Kommission für Zeitgeschichte, der gemeinsam mit seinen Mitarbeitern nach gründlicher Recherche im Jahre 2010 eine sorgfältig kommentierte Auswahl unter dem Titel »Paulus van Husen (1891–1971)« im Schöningh-Verlag herausgab. Dort waren vor allem all die über eintausend Personen, die in den Memoiren genannt werden, mit interessanten kurzen biografischen Bemerkungen bedacht. Dem Ganzen wurde eine ausführliche Einleitung von Professor Hummel vorangestellt, die Paulus van Husen aus der Sicht der Geschichtswissenschaft würdigte.
Allerdings hat das natürlich nicht dazu geführt, dass Onkel Paul einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden wäre. Die Auswahl eines Historikers konzentriert sich nämlich auf historisch relevante Informationen, die bei Paulus van Husen reichlich fließen, aber nicht unbedingt auf die packend geschriebenen erzählenden Teile. Doch das ist das eigentlich Spannende an diesen Lebenserinnerungen. Viktor Klemperer hat seine Erlebnisse in der Nazizeit in Dresden mit beklemmender Eindringlichkeit beschrieben und dem Leser damit einen Einblick in die Denk- und Gefühlswelt eines Juden in dieser entsetzlichen Situation gegeben. Paulus van Husen beschreibt in glänzendem, zuweilen auch höchst unterhaltsamem Stil, wie er als Jurist und treuer Staatsbürger des Kaiserreichs die Weimarer Zeit erlebt und dann von vorneherein als bekennender katholischer Christ in Opposition zum Nationalsozialismus gerät. Welche Konsequenzen er daraus von der ersten Stunde des Dritten Reichs an zieht, wie er auf verschiedene, auch witzige Weise die Nazis austrickst und lustvoll »dem Löwen auf den Schwanz« tritt, wie sich sein Widerstand langsam immer mehr steigert, bis er schließlich vor dem Tyrannenmord nicht mehr zurückschreckt, das kann man in seinen Memoiren sozusagen live miterleben.
In eine großbürgerliche Familie wurde er hineingeboren und diese Ursprünge hat er sein Leben lang nie verleugnet. Obwohl er am Ende »die parlamentarische Demokratie für die derzeit beste Möglichkeit« hielt, »um einigermaßen erträglich unter der Macht zu leben«, war für ihn die Monarchie sozusagen die natürliche Staatsform. Das sagte er auch so freimütig, dass es mitunter zu leichten Irritationen kommen konnte. Als er als erster Präsident des Verfassungsgerichts des Landes Nordrhein-Westfalen anlässlich eines Freundschaftsbesuchs in den Niederlanden eine Tischrede halten musste, geriet ihm der diplomatisch wohlmeinende Lobpreis der dortigen Monarchie wohl so enthusiastisch, dass weniger wohlmeinende deutsche Zuhörer versuchten, daraus eine Staatsaffäre zu machen, was aber zu seinem Glück misslang. Dabei war für ihn das Urbild der Monarchie die Habsburger-Herrschaft: »Der Kaiser sitzt in Wien«. Dennoch hat er sich an den Spötteleien über Kaiser Wilhelm II. nicht beteiligt, denn dieser Hohenzoller war für ihn damals selbstverständlich das legitime Staatsoberhaupt. Aber genauso selbstverständlich war Paulus van Husen dann ein treuer Diener der Weimarer Republik.
Insofern könnte man versucht sein, ihn einfach als Konservativen einzuordnen. Doch das wäre ganz falsch. Denn er war zugleich in einem speziellen Sinne liberal. Sein tief katholischer Vater, der jeden Morgen die Heilige Messe besuchte und der ihn sehr geprägt hatte, war immer stolz darauf gewesen, im Revolutionsjahr 1848 geboren zu sein, und hatte im Kulturkampf gegen die preußische Obrigkeit immer eindeutig die Freiheit der Kirche vertreten. Der Großvater hatte sogar persönlich den Bischof von Münster 1875 ins preußische Kreisgefängnis nach Warendorf begleitet, wo Paulus später als Regierungsreferendar tätig sein sollte. Da der Katholizismus im 19. Jahrhundert durchaus nicht staatsfromm auftrat, in Belgien 1830 mit den Liberalen zusammen die Revolution organisiert hatte und auch in Deutschland unter Bismarck in Opposition stand, taugte die vergleichsweise seltene Spezies des katholischen Großbürgers keineswegs zum »Untertan«, wie Heinrich Mann ihn eindrücklich beschrieb, sondern war ein kritischer Staatsbürger mit eigenem Kopf.
Diese besondere Art der katholischen Prägung aus einem tiefen Glauben heraus war ganz offensichtlich bei Paulus van Husen, wie sich später immer wieder zeigte, der Glutkern seiner starken und kantigen Persönlichkeit. Aber auch da war er nicht einfach hierarchiegläubig. Heftig kritisiert er das Reichskonkordat, das der Papst mit Hitler geschlossen hatte, heftig empört er sich in einem persönlichen Gespräch mit dem Bischof von Osnabrück, Berning, über dessen laue Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber, heftig kritisiert er auch nach dem Zweiten Weltkrieg den Bischof von Münster. Ein einfacher Untertan war er nie. Treu war er seinen Freunden, wahrhaftig war er gegen jedermann, wenn er etwas nicht einsah, dann sagte er das freimütig. Dennoch war er auch den schönen Dingen des Lebens zugetan, wusste charmante Frauen zu schätzen, liebte einen guten Tropfen und führte überhaupt ein gastfreies Haus. Mit Paulus van Husen wurde es nie langweilig.
In Windeseile studiert er, nicht ohne in Oxford und Genf ein paar Auslandssemester zu genießen. Er beginnt eine aussichtsreiche Karriere in der preußischen Verwaltung, da gerät ihm der Erste Weltkrieg dazwischen. Er kommt irgendwie durch und am Ende gelingt ihm noch ein Husarenstück, als er in voller Uniform mit der Straßenbahn ins revolutionäre Berliner Zentrum fährt, um seinem Garderegiment, das die Regierung Ebert unterstützen soll, das Quartier zu sichern. Alles, was dann passiert, ist unerwartet. Wieder preußischer Beamter, gerät er mitten in den heftigen Kampf um die vom Völkerbund abgehaltene Abstimmung in Oberschlesien, die zur Teilung des Landes zwischen Deutschland und Polen führt, wird dann Generalbevollmächtigter des Prinzen Hohenlohe in Koschentin und lernt die ganze große oberschlesische Gesellschaft kennen. Sein Freund Hans Lukaschek empfiehlt ihn als seinen Nachfolger in der dem Völkerbund verantwortlichen Gemischten Kommission für Oberschlesien, die unter Leitung des ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Calonder insbesondere die Minderheitenrechte der Polen und Deutschen wahren soll. Er engagiert sich leidenschaftlich für dieses Anliegen – im Übrigen das entscheidende Thema auch der heutigen internationalen Politik – und erlebt entsprechende Sitzungen beim Völkerbund in Genf. In seiner Funktion hat er dann auch mal einen kurzen humorvollen Wortwechsel mit Reichspräsident von Hindenburg. Als die Nazis kommen, kann er noch geschickt die Judenverfolgung in Oberschlesien hemmen, indem er mit internationalen Verwicklungen droht. Seine Unbotmäßigkeit führt dann aber schnell zur Abberufung. Da er über verbindliche Zusagen auf Weiterbeschäftigung im Staatsdienst verfügt, muss er als Richter am Berliner Oberverwaltungsgericht angestellt werden. Anschaulich schildert er die abenteuerlichen Situationen, in die er dabei in der immer brauner werdenden Umgebung gerät.
Der Kern des hier abgedruckten Auszugs betrifft dann seine Tätigkeit im Oberkommando der Wehrmacht nach Ausbruch des Krieges und natürlich seine Verschwörertätigkeit im Kreisauer Kreis, seine Verhaftung, seinen KZ-Aufenthalt und seine Befreiung. Man wird Zeuge, wie er im Kreisauer Kreis mit den anderen um eine gerechte Nachkriegsordnung ringt, die moralische Voraussetzung für ein Attentat. Denn einen Tyrannen zu töten, ohne daran zu denken, was danach kommt, hat auch in unseren Tagen zu schlimmen Konsequenzen geführt. Er befasst sich dabei vor allem mit der Behandlung der »Rechtsschänder« und seinem Thema, dem Minderheitenschutz. Manche dieser Gedanken sind später in die neue staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Er hält auch den Kontakt mit Bischof Clemens August Graf von Galen in Münster, der ihm beim letzten Gespräch nachruft: »Ich bete auch, dass der Kopf draufbleibt«. Wie er dann mit Stauffenberg im Zug fährt und Zeuge eines erschütternden Gesprächs wird, wie er unter höchster Anspannung nach dem Attentat auf den Wagen wartet, der ihn zum Bendlerblock bringen soll, oder wenigstens auf den vereinbarten Anruf von Yorck, das ist spannend wie ein Krimi. Aber auch die erschütternden Erlebnisse danach machen klar, warum er am Ende sagt, das sei »die hohe Zeit meines Lebens gewesen«. Zwar ist er in Berlin Mitbegründer der CDU, gerät aber schon bald in Konflikt mit den allzu wendigen Parteifreunden. Bis auf die interessante Affäre mit Bundeskanzler Adenauer ist die Nachkriegszeit dann eher von seinen mühsamen Auseinandersetzungen als Präsident des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs mit den jeweiligen Ministerpräsidenten geprägt, die ihn immer mehr resignieren lassen. Der erste nordrheinwestfälische Ministerpräsident Rudolf Amelunxen vom Zentrum hatte Paulus van Husen dem zweiten Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU) mit politischem Druck aufgenötigt, was van Husen wegen der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, auf die er großen Wert legte, eigentlich auch gut fand. Er ist dann aber in den folgenden Jahren immer wieder überrascht bis empört, dass Arnold ihn mit seinen unverdrossenen Eingaben stets kühl abblitzen lässt. Davon ist hier nur Weniges aufgenommen. Ganz am Ende ereilen ihn noch die Reformen seiner katholischen Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil, die ihn eher ratlos zurücklassen.
Paulus van Husen hat seine Memoiren, die übrigens einen durchaus humorvollen Menschen zeigen, mit Sinn für Ironie bis hin zum Sarkasmus, offensichtlich in den 1960er Jahren bis kurz vor seinem Tod 1971 verfasst, wobei er am Ende wohl vor allem durch eine starke Sehbehinderung sehr eingeschränkt war. Von den 977 Seiten des Originaltextes sind hier ungefähr 280 Seiten wiedergegeben. Sie folgen, wie schon gesagt, einem ganz anderen Auswahlprinzip als die verdienstvolle Publikation von Karl-Joseph Hummel. Vor allem die vielen Urteile über Personen und Zeitläufe sind weggelassen, aber auch manch Dokumentarisches zum Beispiel zur Münsteraner Stadtgeschichte und ebenso die zahlreichen historischen und kunsthistorischen Exkurse. Es wird also vor allem das wiedergegeben, was auf persönlichen Erlebnissen beruht. Der Lesbarkeit halber sind die Auslassungen nicht kenntlich gemacht und nur an ganz wenigen Stellen kurze Informationen zu einigen Personen eingefügt. Außerdem sind sprachliche Altertümlichkeiten dem modernen Sprachgebrauch angepasst. Die Kapitel-Überschriften sind ebenfalls neu.
Für den Historiker wird die zusätzliche Lektüre des Hummel-Werkes unabdingbar sein, zum Beispiel was die verwickelten Verhältnisse und die unzähligen handelnden Personen in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg oder die endlosen Auseinandersetzungen mit den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft.
Natürlich können übrigens auch die Originalmemoiren konsultiert werden, denn sie stehen der Forschung in der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn zur Verfügung.
Für das hier vorliegende Buch ist also nur das ausgewählt worden, was für den heutigen Leser von Interesse ist, der wissen will, was einem Mann zustieß, dessen eigentlich so wohlbehütet begonnenes Leben ganz unerwartet durch zwei Weltkriege und eine brutale Diktatur aus den Fugen geriet. Dadurch aber wuchs er zu einer persönlichen Größe, die ihn zum Vorbild in Zeiten macht, die wieder Charakter verlangen, damit die Welle der Barbarei nicht erneut alle Menschlichkeit hinwegschwemmt. Aber auch persönlich ist dieses Leben eindrucksvoll. Kein Wort verliert Paulus van Husen darüber, dass er aus Pflichtgefühl auf eine eigene Familie verzichtete und sich ganz selbstverständlich für seine hilfsbedürftige, wohl auch etwas mühsame Schwester Ite aufopferte, deren finanzielle Sicherstellung ihn bis an sein Lebensende übermäßig umtreibt. Und dann nahm er auch noch seine zweite Schwester Maria samt anstrengenden Kindern klaglos auf. So etwas wirkt heute fast provozierend.
Gibt es Gewissenspflichten, auch wenn alle ringsumher die Moral zu verspotten scheinen? Wann muss man Widerstand leisten, persönlich und öffentlich? Gibt es etwas, für das man bereit wäre, sein Leben einzusetzen? Das waren Fragen, die mir in den Sinn kamen, als ich zum ersten Mal in diesen Memoiren blätterte, und das wird sich wohl jeder fragen, der das Lebenszeugnis dieses Mannes liest.
Nicht ohne Stolz druckt er in seinen Memoiren die »politische Beurteilung« ab, die dazu führte, dass er nicht zum Reichsrichter befördert wurde und die ihm nach dem Krieg zugespielt wurde: »Van Husen ist aus weltanschaulichen Gründen abzulehnen, da er katholisch bis zur fixen Idee gebunden ist und von ihm in dieser Hinsicht eine Einsicht und damit eine nationalsozialistische Überzeugung nicht erwartet werden kann. Was den sogenannten rückhaltlosen Einsatz betrifft, so kann er bei van Husen höchstens für den Katholizismus in Frage kommen; der bedingungslose Einsatz für den Nationalsozialismus muss ihm aus seiner katholischen Gebundenheit heraus stets unmöglich bleiben.« Manches an Paulus van Husen erscheint für den heutigen Menschen etwas merkwürdig. Seine kämpferische Art, seine Penetranz in Auseinandersetzungen, seine tiefe katholische Frömmigkeit. Doch möglicherweise sind es gerade diese Merkwürdigkeiten, die diesen Menschen wirklich bemerkenswert machen. In Zeiten, wo jeder instinktiv weiß, was er zu sagen hat, um nicht anzuecken, wirkt eine solche Persönlichkeit etwas fremd. Aber vielleicht muss man den Mut haben, befremdend zu wirken, wenn man nicht Gefahr laufen will, als unauffälliger Mitläufer mit der irregeleiteten Masse wieder mal in einen Abgrund zu stürzen. Die Geschichtswissenschaft sieht seine Lebensleistung übrigens erheblich positiver als er selbst, der am Ende seines Lebens enttäuscht war, nicht das erreicht zu haben, was er sich vorgenommen hatte. Was mich betrifft, so finde ich seine Charakterfestigkeit in schwierigsten Lagen tatsächlich bewundernswert, sein Einstehen für Überzeugungen und für Menschen, auch für Menschen anderer Überzeugung. Mir ist mein Großonkel Paul, dem ich nie begegnet bin, durch seine Memoiren ein wenig ans Herz gewachsen und ich glaube, ich hätte den tapferen alten Mann, der seine hohe Sensibilität wohl mit einer gewissen Kränkbarkeit bezahlen musste, wirklich gerne gehabt.
75 Jahre nach der Befreiungstat vom 20. Juli 1944 wird in diesen Texten eine Zeit wieder lebendig, in der auf der einen Seite hemmungsloser Hass und Menschenverachtung die Macht ergriff, aber andererseits Menschen, die sonst unscheinbar ihrem Beruf nachgegangen wären, sich vor ihrem Gewissen aufgerufen fühlten, Widerstand zu leisten – unter Einsatz ihres Lebens. Wir hatten alle gedacht, dass gerade wir Deutschen die Lehren aus dieser schrecklichen Geschichte gezogen haben. Doch das scheint ein Irrtum. Daher ist es heute nötiger als je zuvor, die Erinnerung an die Gefahren menschenverachtender Überzeugungen wach zu halten, denn wie schnell werden solche unmenschlichen Überzeugungen zu unmenschlichen Taten! Und andererseits ist es heilsam, an die Kräfte zu erinnern, die damals dafür gesorgt haben, dass Deutschland und die Deutschen international nicht völlig ihr Gesicht verloren und deswegen auch so erstaunlich bald wieder in der Völkergemeinschaft aufgenommen wurden. Das lag eben nicht nur an der Weltkonstellation des Kalten Krieges, in der die Bundesrepublik Deutschland im Spiel der Mächte gebraucht wurde, das lag auch am 20. Juli. Wir Deutschen verdanken den Männern des Widerstands viel mehr, als die meisten heute ahnen. Und daher ist es auch nicht richtig, das Attentat vom 20. Juli 1944 nur als Misserfolg darzustellen. Das unmittelbare Ziel wurde gewiss nicht erreicht und so mussten in den zehn Monaten nach dem 20. Juli bis zum Ende des Krieges noch genauso viele Menschen ihr Leben lassen wie in den fünf Jahren vorher zusammen. Aber die moralische Wirkung war enorm. Deswegen haben Männer wie Henning von Tresckow, die Zweifel am unmittelbaren Erfolg hatten, gesagt: Das Attentat muss erfolgen, koste es, was es wolle. Dafür haben auch wir heute noch zu danken.
Paulus van Husen zitiert Churchill, der in einer Unterhaussitzung gesagt haben soll: »In Deutschland lebte eine Opposition, die quantitativ durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, das in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen oder von außen, einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unerkennbar, da sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das unzerstörbare Fundament des neuen Aufbaus. Wir hoffen auf die Zeit, in der erst das heroische Kapitel der inneren deutschen Geschichte seine gerechte Würdigung findet.«
Bornheim, den 18. März 2019
Manfred Lütz