Für Vera und Johannes
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© 2016 Henry-Martin Klemt
Fotos: Peter Zenker (Titel), Ralf Parkner (Rücktitel)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7386-8108-6
Aus meiner Welt
Verabschieden sich die Dinge
Langsam. Die Bilder
Hängen noch an den
Verschwundenen Wänden.
Januar 2015
Alles Mögliche kam da,
Aber nichts Gutes, von oben.
Den Bombern gehörte der Himmel.
Jäger beschossen den Treck.
Irgendwo zwischen Hölle und Erde
Sah sie ihn dann, wie er fiel,
Und sie zog ihren Karren
Bergauf ein Stück. Das
Kind in den Kissen
Lebte noch, schlief. Aber
Sie beugte sich nieder
Und faltete wortlos die Hände
Ihrem gefallenen Gott,
Hob ihn auf und wunderte sich,
Warum er so leicht war, dass sie
Ihn tragen konnte, allein,
An den Rand der Straße.
Das überjährige Kraut
Verbarg ihn, Sohn, Vater, Geist,
Bei den anderen Leichen. Sie ging.
März 2012
Als mein Vater glaubte, es wär Zeit,
kroch er heimlich durch den Stacheldraht.
Rigas Trümmer warn nicht mehr verschneit.
Manche Felder trugen junge Saat.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Frei von Tressen, frei von all dem Blech,
frei von Schuld, denn keinen traf sein Schuss,
rannte er und fand es nur gerecht,
weil man nach dem Krieg nach Hause muss.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
Wusste, wie man von der Erde frisst,
dass man nicht aus jedem Drecksloch trinkt,
wie man liegend durch die Hose pisst
und sich tot stellt, wenn ein Fremder winkt.
Und er lief, wie er noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa,
wagte nur am Tage, zu verschnaufen,
ohne Knarre, Panzerfaust und Messer.
War ein Dörfchen, still und abgebrannt.
Einen Friedhof gab es, keinen Rauch.
An dem Platz, wo einst das Kirchlein stand,
lag nur Asche, Menschenasche auch.
Doppelkreuze standen schief im Wind,
wohl für einen Reichen auch ein Stein,
und mein Vater, voller Schorf und Grind,
grub sich bei den andern Toten ein.
Doch die Toten haben ihn verraten,
krochen aus dem Loch, als er geschlafen,
stapften fort und holten die Soldaten,
die ihn fast erfroren endlich trafen.
Was er spürte, war zuerst der Stich
eines Bajonetts ins rechte Knie,
dann den Kolbenschlag in sein Gesicht
und den Rotz, den einer auf ihn spie:
Lauf nur, lauf, wie du noch nie gelaufen
zwischen Schöneweide und Odessa.
Humpelfritz, du willst doch nicht verschnaufen?
Du kannst wählen: Kugel oder Messer!
Neunzehnneunundvierzig hält ein Zug
zwischen Trümmern einer deutschen Stadt.
Vater trägt die Stiefel, die er trug,
als der Russe ihn gefangen hatt´.
Trägt die Tschapka, die ein Russe gab,
Bücher, die ein Russe vor ihm las,
einen Rucksack, prall von Krimtabak,
für vier Jahre Arbeit – gutes Maß.
Und er rannte, wie er niemals rannte
zwischen Schöneweide und Odessa,
lief durch Straßen, die er kaum erkannte:
Das wird alles neu und schön und besser!
Was er sonst noch schleppte - Vater schwieg.
Schwieg und schwieg mit einer Mordsgeduld.
Keinen hat er umgebracht im Krieg
und trug doch an jedem Toten Schuld.
Lauf jetzt, lauf, wie du noch nie gelaufen
von Odessa bis nach Schöneweide.
Wenn du einmal stirbst, kannst du verschnaufen.
Er ist tot. Ich singe für uns beide.
Dezember 2009
Eine Göre aus dem Hinterhaus –
ihre Jugend hat der Krieg begraben –
macht sich fein und geht am Sonntag aus.
Seidenstrümpfe, die nicht alle haben,
weißes Kleid und Silbermedaillon,
echte Lederschuhe, Damentasche,
lange blonde Haare in Fasson,
Augenaufschlag, das ist ihre Masche.
Wie so viele, die nach Kerlen hecheln,
und nach Kippen, Gummis, Schokolade,
zeigt den Amis sie ihr schönstes Lächeln
und beim Strumpfbandrichten ihre Wade.
Stützt sich auf den Jeep, wie aus Versehen.
Klebt „Go home“ den Yankees auf die Türen,
und beim langsam, langsam Weitergehen
kann sie jeden Blick im Rücken spüren.
Dunkel wird es. Sie holt neue Zettel,
immer noch wie für den Ball gekleidet
und doch Glied in einer großen Kette.
Auch, weil sie bewundert und beneidet
jene, die aus Angst noch Stärke schöpfen.
Plötzlich aber hört sie harte Schritte.
Noch vor sieben Jahren rollten Köpfe.
Heute, weiß sie, gibt es Schläge, Tritte.
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
Schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Ihre Tochter braucht bald was zu essen,
kennt noch keine Bombennacht im Keller,
schreit nur, weil die Mama sie vergessen.
Wenn sie einfach losrennt, wer ist schneller?
Oder hält sie die paar Runden aus?
Wenn die Bullen schneller sind, wie lange
ist die Tochter dann allein zu Haus?
Friedenshetzer nimmt man in die Zange.
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Keiner schnappt mich, alles Quatsch mit Soße!
Keiner! Wer das glaubt, hat sich geschnitten!
Wenn ich mit den Herrn zusammenstoße,
werd ich kichernd um Verzeihung bitten.
Unter einem bunten Westernschmarren
hält sie inne, lauert auf die beiden.
Warum fahren Männer stets den Karren
in den Dreck und Kinder müssen leiden?
Wie der kleine Zeiger auf dem blanken Zifferblatt
schleicht sie schrittweis um die Litfaßsäule,
denn der große Zeiger sind jetzt zwei
Männer der Stumm-Polizei,
und vom Kleber feucht ist das Plakat.
Doch die Bullen latschen dran vorbei.
Gott, die schnappen mich, wenn ich jetzt heule.
Wenn ihr Mann nach Haus kommt in der Frühe,
wird er auch die Tochter sicher füttern.
Warum jeden Tag nur Kampf und Mühe?
Wäre nicht ein Schrei von allen Müttern
laut genug, die Kriege zu beenden?
Sie bleibt stehn. Jawohl, sie bleibt jetzt stehen.
Klebeschwamm und Zettel in den Händen
hört sie zitternd, wie die Kerle gehen.
Dezember 2009
*) aus der EVG (Europäische Verteidigungs Gemeinschaft) wurde – nach ihrem Scheitern – die Mitgliedschaft der wiederbewaffneten Bundesrepublik in der NATO.
Das Gras im Park ist anders weich
und Papa sagt: Wir werden reich.
Uns wird eine Welt gehören,
die die Menschen nicht zerstören,
weil sie sich vertrauen,
und die Fahnen wehen,
die roten und die blauen.
Wenn nachts im gelben Bus ich dann
mit Mama oben sitzen kann,
größer als die Gaslaternen,
schon ganz nahe bei den Sternen,
funkeln Himmelsboten.
Nur die Fahnen schlafen,
die blauen und die roten.
Fast fünfzig Jahre her ... Das war
Mein Eichhorn- und Kastanienjahr.
Farbe blättert von den Bänken.
Alle Zeit kannst du verschenken,
aber keine borgen.
Was soll aus uns werden? –
Ein Abend und ein Morgen.
Niederschönhausen, April 2013
Wie ging in die Binsen
Der Tag uns. Die Barschinsel, ja!
Wie brannte die Sonne so laut.
Ich konnte auf Papas Schultern
Die Schweißtropfen zählen. Fische
Haben niemals Durst. Wie
Schwappte das Schweigen blau
Über die Bordwand herein. Die weißen
Tiere zogen am Himmel davon. Wie
Hing uns das Glück schon am Haken,
Nahm Schnur und
Nahm Schnur und
Nahm Schnur ...
Juli 2015
Meine Wurzeln habe ich
im Sand, der mir durch die Finger rann,
als die Zeit ein Spiel war
und ein Spielzeug die Uhr.
Sie ging vor. Sie ging nach.
In der Mitte ging ich.
Laubwald. Rhabarber.
Güstrower Vierpfundbrote.
Größer war nur der See.
Vom Schloss immerhin
gehörten der Park
und die Grotten mir,
die Laubengänge und
die Küsse darin meiner Schwester,
meinem Bruder die Neugier
und – ich hab es vergessen –
was noch? Eine Leiter
über den Graben gelegt,
die Balance und die Angst
vor unendlicher Tiefe,
mit angehaltenem Atem
vorwärtstreiben den Augenblick,
Helden der Peinlichkeiten,
beinahe gekentert, beinahe gestürzt,
die Straßenbahn quietschend vor
Vergnügen. Vater kommt spät
vom Bootshaus zurück mit
schlechtem Gewissen. Einer
brachte immer die Scham
mit nach Haus. Sie füllte
Zimmer und Küche. Mir blieb
die Flucht auf den Boden,
sommerstickig und geheimnislos,
in den Keller, zum rostigen Kessel,
der klang dumpf wie ein grob
angeschlagenes Herz. Ins Freie
führten die Wege meist nur
nach der Schule, über Zäune
der Gärten hinweg, durch fremde
Hausflure mit weißen Stufen
aus Marmor, Messinggeländer.
Das Schöne ist kalt. Übern Pfaffenteich
trug mich die Fähre. Fünf Pfennig schwer
war ich. Die Enten nahmen Reißaus
vor meiner heimlichen Wut. Wenn
das Böse nicht sein darf, hör auf,
es zu sehen. Wenn die Obhut versagt,
wenn die Schläge dich treffen,
wenn deiner Mutter niemand
beisteht als du. Ein guter Pionier,
ein Vorbild mit Klassenbewusstsein,
hör auf, es zu sehen. Es darf
nicht sein und du bist zu feige,
es auszulöschen. Du gehst
mit Latschen zum Unterricht.
Während du nachdenkst, braut
über dir sich zusammen der Spott.
Die Welt aus den Fugen und du
sitzt auf der Brücke
vorm Schloss. Die Kaulbarsche
gehn an die Angel. Es gibt
keine größeren Fische. Sechs Tausend
Unterschriften für Theodorakis. Eines
der Zimmer lässt sich noch heizen, hat
Mutter geschrieben in einem Brief,
den ich las nach ihrem Tod. Hör auf,
es zu sehen. Das weiße Kaninchen
auf ihrem Arm, ans Hoftor
genagelt, der Appetit
ist dir vergangen. Zu schrumpfen
beginnt die Stadt, als du sie verlässt,
ohne Geschwister, die bleiben. Zurück
kommst du nach woanders und sie
triffst du wie Fremde, die dich
lieben, du weißt nicht, warum.
Ein Brunnen hinter dem Haus,
moosbewachsen, ein Tisch, die Platte
aus Stein mit seltsamen Zeichen,
ein Pfirsichbaum, ein Weinstock,
ein Dreiecksbeet: Schnittlauch und
Petersilie, ein Stück Wiese und immer
etwas zu tun für den emsigen Vater.
Eine Stadt, die erst vor der Haustür
beginnt, in Uniform, Anzügen,
gestärkten Hemden. Ein Dom,
ein Marstall, ein Werder, ein Boot.
Deine Schwester lenkt es vor den Bug
der weißen Vasa und schweigt. Hör
auf, es zu sehen. Die Schwester ist tot,
tot ist der Bruder. Vater und Mutter
sind tot. Weichgezeichnet die frühen
Fotografien. Das Labor geschlossen.
Das Experiment zu den Akten gelegt.
Auf dem Deckel steht: Glück – erster
und einziger Versuch, beim Anstehen
in den Warteschlangen, unter Fahnen,
im großen Backsteinhaus am
Bahnhof, im fauchenden Dampf,
in der Stille endlich der gehörlosen Frau
und ihrer Ermahnungen. Nachts
der Blick auf den Knast, das Bellen
der Hunde an rasselnder Leine,
tags auf dem Schulhof, am Zaun
zum Russenlazarett Abzeichen
tauschen. Ein Lager, denkst du,
und: niemals krank sein. Versottenes
Nest mit Kino und Kugeleis, Wegen,
die sich alle zu Fuß gehen lassen
an einem Nachmittag bis zum
Galgenberg in den Lankower Bergen,
bis nach Zippendorf zum Fernsehturm.
Von der Eisenbahn zerschnitten
die Stadt und die Ehe. In beidem
lebt Mutter wie im Exil. Hör auf,
es zu fühlen. Gehen wirst du.
Das Leben ist ein Luftroller ohne
Bremse, bergab rasend, vorerst,
auf die Hauptstraße zu, und du springst
im letzten Moment. Der kleine
Finger steht ab im rechten Winkel.
Du schließt die Augen und – Mama
soll nicht erschrecken – biegst ihn
zurück ins Gelenk. Du wirst dich
erinnern daran. Den Roller
des Nachbarjungen müsst ihr
bezahlen. Das Leben, rasend,
bergab, ist nicht deines, auf die
Hauptstraße zu, im rechten Winkel
der Finger. Ein gerissenes Band.
Das heilt, sagt der Arzt. Das bleibt
zerrissen. Die Straße mit den
Russenkindern: MPi-Salven des
Zweiten Weltkriegs, immer noch
einmal verloren, und morgen
die ganze Welt: aus den Fugen.
Ein Bollerwagen im Regen, bergauf
die Steinstraße, Altpapier. Die
Pioniere sitzen im Trockenen
und du klatschnass mit der Fuhre
beim Rumpelmännchen. Der will
das Zeug nicht haben: Wie soll ich
das wiegen, raunzt er. Ich bezahl
doch nicht für das Wasser. Für
das aus den Augen auch nicht.
Na schön, zum halben Preis.
Er macht seinen Schnitt mit Vietnam.
Dort regnet es auch: Napalm und
Agent Orange, regnet und regnet,
bis die Stadt sich auflöst, der Bollerwagen
und der Rumpelmann. Künftige Schatten
zeichnen sich ab auf den Karten. Die
Typografie der Schlagzeilen ändert
sich täglich, der Kauffraß zehrt
an Straßen und Höfen. Du kommst
dorthin nicht zurück. Hör auf,
den Singsang der Mittwochssirenen
zu hören, das Rauschen der Sprengwagen
sommers. Mach dich aus dem Staub.
Durch die Hände rinnt dir der Sand.
Am Galgenberg heulen Motoren. Es
war eine schöne Kindheit, sagst du.
Am Bootshaus roch es nach Holz,
Teerpappe, Schilf. Du hattest
Freunde. Du hast ja ein Ziel
vor den Augen: Weg hier,
nach Hause, Wurzelland, wo
komme ich her?
Juli 2013
Es ist genug da,
sprach meine Mutter.
Sie genoss diesen Satz
wie eine Mahlzeit, bei der
nichts fehlt und auch
nichts übrig bleibt. Du
hast ja gar nichts gegessen,
sagte sie nach der vierten
Scheibe Brot. Die gute Butter
stand auf dem Tisch, der
echte Kaffee. Es ist genug
da, und sie hob Ihr Glas
immer wieder auf uns
und das Jahr 2000. Bis
dahin war noch genug
Zeit, um die ganze Welt neu
zu verteilen, Essen und Trinken
für jeden und Frieden, für sie
etwas Glück, schön verpackt
in eine andere Revolution,
von der sie vielleicht dem
Kaninchen erzählte, wenn sie
es im Arm hielt, des blutigen
Endes gewiss. Wir waren
in alle Winde verstreut,
kamen hungrig zu Tisch mit
gewaschenen Händen, nach
Schlägen kamen wir ohne
Tränen. Meine gehörlose Mutter
reichte die Schüsseln herum:
Esst, Kinder, esst! Es
ist für alle genug.
Oktober 2014
Ein halbes Dutzend
Rotfedern, Plötzen, der Abend
Kräuselzahm kriecht aus dem Schilf.
Ich öffne den Kescher, lautlos
Und frei und verschwunden
Mein Fang. Meine Mutter
Verstand es, die kleinsten
Fische zuzubereiten. Sie setzte
Wasser auf. Kaulbarschsuppe
Ist würzig, das wussten alle
In der Familie und beneideten mich
Um mein Glück, ganz allein