Ist die Jugend von heute dick, doof und gewalttätig?

NEIN!!!

Inhaltsverzeichnis

Vor-denken

„Hast du schon mal versucht, mit zugeschwollenen Augen und
gebrochenen Fingern deine Zähne von der Straße aufzusammeln?“

Diese „freundliche“ Frage soll zeigen, worauf dieses Buch abzielt. Es soll Anregungen geben, wie Sie eine gewaltpräventive Maßnahme erlebnisorientiert durchführen können. Zur Belustigung habe ich noch einige Zeichnungen reingebracht und „meinen“ Humor kursiv gekennzeichnet. Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Werk und ich habe mich nicht hinter „wichtigen“ Begriffen versteckt, sondern zum besseren Verständnis das Buch so einfach wie möglich geschrieben. Zugunsten der besseren Lesbarkeit habe ich mich gegen das „ihr/sein“, „Teilnehmerinnen und Teilnehmer“ oder „TeilnehmerInnen“ entschieden. Es sind aber immer beide Geschlechter gemeint. Die meisten Maßnahmen im gewaltvorbeugenden Bereich sind Gruppenmaßnahmen. Ich spreche dann immer von Teilnehmern (oft TN abgekürzt). Die Übungen können Ihrer jeweiligen Zielgruppe angepasst werden und sind oft auch auf Einzelmaßnahmen zu übertragen.

Ich habe das Rad nicht neu erfunden und das meiste Wissen ist von anderen übernommen. Thomas Schut-Ansteeg (Erlebnispädagogik), Reiner Gall (AAT®/CT®), Anita Heyer (NLP) und Stefan Tebbe (WT) sind da als meine wichtigsten Ausbilder (und in Teilbereichen Vor-bilder) zu nennen, von denen ich die Grundkenntnisse erhalten habe. Im kollegialen Austausch mit Ralf-Erik Posselt, Rainer Grebert, Marian Rohde, Frank Müller, Simone Kriebs, Martin Sattler, Peter Plettig, Norbert Schmidt, Holger Schlafhorst, Frank Langer, Kathrin Schmidt, Vera Lemke, Petra Lachnicht, Sven Hulvershorn, Petra Weinstein, Kerstin Nachtigall, Stephan Berchner, Rosa Gräwe, Angela Waller, Katrin Kretschmer, Christof Nicpon, Marie Schellwat, Annika Schreibert, Halima Zaghdoud, Jérôme Gravenstein, Marina Deising, Jennifer Redmann, Shireen Horn, Samuel Meffiere, Volker Lewrick, Svenja Klocke, Michel Buschmann, Jan Groesdonk, Martin Stichler, Christian Lüdke, André Karkalis, meiner Frau Sibylle u.v.a. entwickelte ich dann mein Wissen weiter und schrieb u.a dieses Buch.

Tim Bärsch

1 Was ist eigentlich wichtig?

„Papa, warum heißen Rollmöpse eigentlich Rollmöpse?“ - „Dumme Frage! Sie sehen aus wie Rollmöpse, sie riechen wie Rollmöpse und sie schmecken wie Rollmöpse. Warum sollen sie dann nicht auch Rollmöpse heißen?!“

Ich bin Fan der Erlebnispädagogik zur Gewaltvorbeugung. Deshalb zuerst zwei Seiten Theorie zu diesen Themen, mit denen ich angeben möchte. Dann kommt erst das Wichtige (ab S. 8). Also: Als Vordenker der Erlebnispädagogik gilt Jean Jacques Rousseau (1712–1778). Er plädierte u.a. in seinem Buch „Emile oder über die Erziehung“ für eine natürliche Erziehung.

„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen getan hat.“

Henry David Thoreau (1817–1862) verzichtete gut 100 Jahre später auf allen Luxus und zog sich allein in eine Wald(en)hütte zurück. Er kritisierte den technischen Fortschritt und wollte erfahren, was im Leben wirklich wichtig ist.

„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegungen zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen musste, dass ich nicht gelebt hatte.“

Zusätzlich werden noch der Erfahrungspädagoge John Dewey (1859–1952) und der britische Pfadfinder-Gründer Robert Baden-Powell (1857–1941) als Beeinflusser benannt.

Nach diesen Vordenkern gilt dann meist Kurt Hahn (1886–1974) als (Ur-)Vater der Erlebnistherapie und -pädagogik. Er sah bei der Jugend Mangel an menschlicher Anteilnahme, Verfall körperlicher Tauglichkeit, Mangel an Initiative, Spontanität und Sorgsamkeit. (Irgendwie ist in den letzten 100 Jahren da keine Verbesserung zu sehen.) Dagegen setzte er Bewegung, Projektarbeit, Expeditionen und Dienst am Nächsten. Deshalb gründete er u.a. 1920 das Internat Schloss Salem, welches seine Ideen bis heute umsetzt.

Heute gibt es Erlebnis-, Abenteuer- und Natursport; Wald- und Wildnispädagogik; Kooperative Abenteuerübungen und -projekte; Problemlöseaufgaben in- und outdoor; Citybound (Erlebnispädagogik im städtischen Sozialraum); begleitete Projekte in fremden Ländern oder auf dem Meer; künstliche Anlagen wie Hochseil- und Niedrigseilgärten sowie diverse Formen der Selbsterfahrung und Therapie. Es ist da recht schwierig für den Oberbegriff „Erlebnispädagogik“ eine Definition zu finden. Hier mein Versuch:

„Erlebnispädagogik ist eine Möglichkeit, Menschen spielerisch durch gestellte Abenteuer mit hohem Aufforderungscharakter herauszufordern, ihre Persönlichkeit, soziale und andere Fähigkeiten weiterzuentwickeln, um diese in den Alltag zu transferieren und dort positiv nutzen zu können.“

Erlebnispädagogik bewirkt keine Wunder. Leider wird sie oft erst als letzte „Wunderwaffe“ angewendet. Auch vorbeugend (präventiv) werden nicht alle Menschen „gerettet“. Trotzdem können erlebnispädagogische Maßnahmen viel bewirken und sind besonders zur Sucht-, Extremismus- und Gewaltprävention geeignet. Es geht oft darum, dass der Mensch sich selbst bewusst werden soll. Ein (sich) selbst-bewusster Mensch muss sich nicht Heroin spritzen, rechtsextremen Parteien beitreten oder anderen den Kiefer brechen, um sich besser zu fühlen.

Auch der Begriff „Gewaltprävention“ (aus dem lat.: Vorbeugung) sollte erklärt werden. Gewaltprävention ist hier der Oberbegriff für Trainingsmaßnahmen, die Menschen bei der Vermeidung gewalttätiger Auseinandersetzungen helfen und den Umgang mit Konflikten schulen. Im Bereich der Gewaltprävention existieren eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze. Neben staatlichen Stellen sind viele private Organisationen tätig. Dazu gehören (Sport-)Vereine, aber auch private Institute. In diesem Buch beschreibe ich erlebnisorientierte Übungen, welche für Gruppen jeglichen Alters (teilweise mit leichter Abänderung) geeignet sind. Diese sollen dann eine friedliche Haltung positiv beeinflussen. Dazu sind einige Dinge sinnvoll, welche ich in den nächsten Kapiteln kurz beschreiben werde.

Natürlich sind Erfahrung und Zusatzqualifikationen unumgänglich, um eine gute Trainingseinheit zu gestalten. Es ist nicht möglich, nur aus Büchern ein guter Trainer zu werden. Trotzdem können die Informationen aus Büchern jemanden dabei unterstützen. Dabei gibt es für Trainer bestimmte Regeln, die sinnvoll sind, um eine Maßnahme erfolgsversprechend zu gestalten:

1. Eigene Haltung (Seite →)

Behandeln Sie jeden Menschen, als wäre er intelligent!

2. Einstellung zur Gewalt (Seite →)

Reflektieren Sie sich selbst und seien Sie Vor-bild!

3. Beziehung (Seite →)

Respektieren und mögen Sie Ihre Teilnehmer!

4. Verantwortung (Seite →)

Setzen Sie sinnvolle Regeln und Konsequenzen konsequent um!

5. Herausforderung (Seite →)

Leiten Sie machbare Herausforderungen für die Teilnehmer an!

6. Gruppenphasen (Seite →)

Beachten Sie die Gruppenphasen und -dynamiken!

7. Planung und Flexibilität (Seite →)

Schaffen Sie ein Gleichgewicht von Planung und Flexibilität!

8. Spiel und Spaß (Seite →)

Haben Sie Spaß und fördern Sie den Spaß der Teilnehmer!

9. Bewegung (Seite →)

Bewegen Sie die Teilnehmer äußerlich und innerlich!

10. Transfer (Seite →)

Schaffen Sie einen Transfer in die Wirklichkeit außerhalb der Gruppe!

1.1 Eigene Haltung

„Ein Tag genügt, um festzustellen, dass ein Mensch böse ist; man braucht ein Leben, um festzustellen, dass er gut ist.“
Théodore Jouffroy

Die Spiegelneuronen im Gehirn wurden 1992 von Giacomo Rizzolatti entdeckt. (Empfehlenswert sind da u.a. die Bücher von Joachim Bauer.) Diese bewirken, dass wir mit anderen Menschen mitfühlen können. Wir können uns in andere hineinversetzen und emphatisch (einfühlendes Verstehen) mit ihnen umgehen. Dies kann trainiert werden, z.B. beim kanadischen Kursprogramm „Roots of Empathy“. (Grundschüler beobachten Babys und versuchen deren Bedürfnisse herauszufinden.) Trotzdem hat jeder Mensch Vorurteile. Das ist normal. Doch die Vorurteile und daraus entstehenden Einstellungen gegenüber anderen Menschen haben gravierende Auswirkungen.

Unter Leitung des amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal (1933) machten Studenten Versuche mit angeblich „schlauen“ und „dummen“ Ratten. Diese waren aber gleich intelligent. In diesen Tests schnitten aber tatsächlich die „schlauen“ Ratten viel besser ab als ihre „dummen“ Artgenossen. Danach testete Rosenthal zu Beginn eines Schuljahres alle Kinder einer Schule. Dann gab er den Lehrern die Namen einzelner Schüler, die dem Testergebnis zufolge eine „ungewöhnlich gute schulische Entwicklung“ nehmen sollten (insgesamt 20% der Schüler). Die Namen der „Hochbegabten“ waren wiederum streng nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Am Ende des Schuljahres hatten die vermeintlich „Hochbegabten“ nach dem Ergebnis eines Schulleistungstests einen großen Vorsprung gegenüber den anderen Schülern. Die „Hochbegabten“ hatten viel bessere Noten und schnitten in Intelligenztests auch besser ab. Der Umgang der Lehrer mit den „Hochbegabten“ und den anderen Schülern führte ersichtlich zu einer Veränderung. Dieser Versuch macht noch einmal deutlich, welche Auswirkungen es hat, wenn Menschen in Schubladen gesteckt und dort nicht wieder rausgelassen werden. Also als Fazit:

Behandeln Sie jeden Menschen, als wäre er intelligent.

1.2 Einstellung zur Gewalt

„Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.“ Immanuel Kant

Es wird immer gesagt: „Gewalt ist keine Lösung!“ Doch wie sieht es wirklich in unserer Gesellschaft aus? Im Fernsehen laufen unendlich viele Krimis und die Thriller sind regelmäßig in den Buch-Bestsellerlisten. In den meisten Medienberichten, aber auch in den meisten wissenschaftlichen Studien, finden Täter mehr Beachtung als die Opfer. In den Asterix-Comics zeigen die Römerlegionen zum Angriff die schützende Schildkröten-Taktik. Zum ungeordneten Rückzug benutzen sie die Hasenfuß-Taktik. Die zweite Methode ist beim Angriff der zaubertrankgestärkten Gallier auch die sinnvollere Variante. Trotz ihrer gewalttätigen Art sind die Gallier die Helden dieser Comics und nicht die fliehenden Römer.

Es wird von den Eltern, den Lehrern und anderen (V)erziehern immer wieder gesagt: „Lauf doch besser weg.“ Doch wie verhalten sich die Helden aus unserer Kindheit? Ist Mickey Maus vor Kater Karlo geflohen? Ist Batman weggelaufen, wenn der Joker kam? Hat sich Spiderman versteckt, wenn der Kobold anflog? Ist der Knight Rider weggefahren, wenn Gefahr drohte?

Nein, natürlich nicht! Diese Helden laufen nicht weg. Sie weichen nicht zurück und würden nicht die Straßenseite wechseln, nur weil ihnen aggressive Menschen entgegen kommen. Gibt es irgendwelche Helden, die ohne Gewalt die Welt oder die Menschheit retten? Mir fällt spontan keiner ein. (Sogar Jack Bauer aus der Serie „24“ benötigt ein wenig Gewalt.)

Auch wird Aktivität in unserer Gesellschaft positiver bewertet als Passivität. Was ist mit Ihnen? Wären Sie lieber Opfer oder Täter? Ich kann von mir sagen, dass ich lieber Täter wäre. Bei Umfragen unter Schauspielern nach dem Film „Philadelphia“ von 1993 sagten über 90%, dass sie lieber einen soziopathischen Kinderschänder als einen HIV-erkrankten Schwulen spielen würden. Für seinen Mut und seine Leistung bekam Tom Hanks ja auch seinen ersten Oscar.

Unsere Erziehung, unsere Gesellschaft und unsere Helden haben uns geprägt. Doch oft ist es weiser, die Straßenseite rechtzeitig zu wechseln. Ein Umweg führt in manchen Fällen eher zum Ziel. Sie sind als Trainer, Lehrer, Pädagoge usw. nicht nur für Ihr eigenes Handeln verantwortlich. Sie sind auch immer VORBILD. Denken Sie also über Ihre Einstellung nach und woran sie glauben. Denn bekanntlich kann der Glaube ja Berge versetzen.

Und wo wir gerade beim Thema „Glauben“ sind. In Harvard zeigte eine Untersuchung an 12.000 Senioren, dass sich die Lungenfunktion von regelmäßigen Kirchengängern geringer verschlechterte als bei den „Atheisten“. Glaube kann also gesund sein, solange man dafür keine Kriege verursacht. Auch die Untersuchungen zu den Themen Dankbarkeit und Nächstenliebe zeigen, dass sie den Menschen glücklicher und länger leben lassen. Also wenn Sie schon ein Vorbild sind, so haben sie am besten eine positive Grundeinstellung und zeigen Sie Nächstenliebe. Da haben nicht nur die anderen etwas von - Sie sind auch zufriedener und leben länger.

Bereits in den 50er Jahren lautete ein Axiom der Themenzentrierten Interaktion (TZI): „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll, Inhumanes ist wert- und lebensbedrohend.“

Menschen lernen viel von anderen Menschen (Lernen am Modell nach Albert Bandura) und deshalb ist es wichtig Vor-bild zu sein. Dazu sollten Sie natürlich auch Ihre Einstellung zum Thema Gewalt gut kennen. Jeder hat so genannte „dunkle Flecken“ oder sogar irgendwelche „Leichen im Keller“ liegen. Gerade als Gruppenleitung sollten Sie sich dessen bewusst sein, weil wir mit anderen Menschen in enger Beziehung stehen und auch auf diese Einfluss haben. Gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sollte dies beachtet werden.

„Menschen im frühen Jugendalter sind also im positiven wie negativen Sinne extrem beeinflussbar.“
Thomas Schut-Ansteeg (Boeger / Schut-Ansteeg 2005; S. 1)

Reflektieren Sie sich selbst und seien Sie Vor-bild!

1.3 Beziehung

„Die größte Ehre, die man einem Menschen antun kann, ist die, dass man zu ihm Vertrauen hat.“ Matthias Claudius

Oxytocin ist das Bindungshormon, welches z.B. beim Stillen, beim Massieren oder beim Sex ausgeschüttet wird. Menschen fühlen sich entspannter und sich miteinander verbunden. Es wird auch ausgeschüttet, wenn wir anderen vertrauen oder die anderen uns vertrauen. Oxytocin macht uns kooperativ und sensibel (WdW 1/13). Es wird bei körperlicher oder geistiger Berührung ausgeschüttet.

„Der Mensch ist – und dies gilt für das Kind in ganz besonderer Weise – ein Beziehungstier.“ Joachim Bauer (2008, S. 17)

Zusätzlich wurde nachgewiesen, dass Menschen eher etwas von anderen Menschen lernen, wenn eine positive Beziehung herrscht. Bereits Albert Bandura stellte 1965 fest, dass sein „Lernen am Modell“ besser funktioniert, wenn man sich mag. Also sollte es wichtig sein, die Teilnehmer zu mögen.

„Durch diese Beziehungen, die wir als Vor-Bilder mit den Kindern und Jugendlichen gestalten, tragen wir entscheidend dazu bei, was aus ihnen wird.” Joachim Bauer (2008, S. 29)