©2015 by Anita Winter

2. Auflage April 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Alle Fotos stammen von Anita und Christoph Winter.

Veröffentlicht bei BoD - Books on Demand GmbH.

ISBN 978-3-7392-5246-9

Inhalt

  1. EINLEITUNG
  2. DIE ETAPPEN
  3. RUND UMS ORGANISIEREN

Vorwort

Eine Fernwanderung mit Baby? Zu Fuß über die Alpen!? - Unmöglich! Ja, das war auch meine erste Reaktion. Wie wir auf diese (gar nicht Schnaps-)Idee gekommen sind, wie wir die Reise geplant und vorbereitet haben, und vor allem, wie die ganze Tour im Detail abgelaufen ist, das wollen wir hier berichten.

Gehen Sie auch gerne mit Ihrem Kind spazieren? Warum nicht auch gleich mal ein paar Stunden, mit schöner Einkehr zwischendrin – die frische Luft ist doch wunderbar für das Kind, und die Bewegung tut Mama und Papa sicher gut. Vielleicht tragen Sie Ihr Baby sogar in einer Bauchtrage oder einem Tragetuch; es ist doch schließlich die natürlichste und beste Art, sein Kind zu transportieren. Denn was braucht ein Baby mit am meisten? Genau: Körperkontakt, Wärme und Geborgenheit. Nun stellen Sie sich vor, Sie müssen abends Ihr Kind nicht wieder in die unbequeme Autoschale packen und zurück nach Hause fahren, sondern übernachten einfach ganz gemütlich, an Ihr Kind gekuschelt, am Zielort Ihres Spaziergangs. Und schon sind Sie bereit für das Abenteuer Alpenüberquerung – der wohl eindrucksvollste, intensivste und schlichtweg schönste Urlaub, den wir je hatten.

Der Goetheweg über die Alpen stellt einen idealen Wanderweg für junge Familien dar und ist wirklich kaum mehr als ein (wenngleich langer) Spaziergang: die Tour ist angenehm leicht und ungefährlich, kann fast jederzeit problemlos abgebrochen werden, und überall stehen öffentliche Verkehrsmittel sowie Ärzte und Krankenversorgung zur Verfügung. Vielen jungen Eltern ist vielleicht gar nicht bewusst, wie viel man auch mit einem Baby problemlos unternehmen kann, und vor allem, wie viel das Baby von solchen Touren profitiert. Lassen Sie sich inspirieren, ebenfalls mit ihrem Kind raus in die Natur zu gehen und sich selbst dabei etwas Gutes zu tun – und wer weiß, vielleicht kommen Sie ja auf den Geschmack, die wunderbaren Abschnitte des Goetheweges selbst anzupacken?

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Familie Winter!

1 | Einleitung

Die Idee

Wie sind wir eigentlich auf diese Idee gekommen? Die Frage wird uns oft gestellt, und ich weiß tatsächlich noch genau, wie es war. Unser Baby war erst wenige Wochen auf der Welt, und vielleicht ist das so eine Phase, wo man sich ein wenig mehr Gedanken über die nahe Zukunft, weitere Pläne und vielleicht auch noch versteckte Lebensträume macht.

Wir saßen im Auto nach Hause von irgendwo, das Baby schlafend in der Babyschale, und redeten über Abenteuer. So richtige Abenteuer, was fürs Leben, wovon man noch den Enkeln erzählt, wenn man alt ist. Irgendein Kollege von Christoph hatte in seiner Elternzeit ein halbes Jahr Weltreise auf dem Segelboot gemacht – mit Frau und Neugeborenem, versteht sich. Also, ich bin ja durchaus abenteuerlustig, aber das ist sogar für mich ein bisschen viel. Vor allem, weil ich als Bergziege mit Wassersport nichts am Hut habe. Was mich denn sonst mal reizen würde? Ich überlegte und dachte an das Buch „Alpentreks“, was mir eine sehr liebe Freundin (die mich wahrlich gut kennt) mal geschenkt hat, und was mich seitdem erwartungsvoll aus dem Bücherschrank anguckt. „Eine Alpenüberquerung“ sagte ich, nach kurzem Nachdenken, „einmal zu Fuß über die Alpen. Das möchte ich irgendwann im Leben noch machen.“

Vor meinem geistigen Auge schwebt ein Bild von meinem deutlich gereiften Selbst beim zukünftigen Wandern, bestimmt in 20 Jahren, unser Nachwuchs längst aus dem Haus… oder: vielleicht sogar mit den Kindern, wage ich vorzuschlagen, wenn die mitwollen, in 12 oder 15 Jahren? Anstatt Skepsis oder „mal Abwarten“ von Christophs Seite haut mich seine Reaktion absolut aus den Socken: „Du, lass es uns doch einfach jetzt machen!“

Nach viel Sprachlosigkeit, Abwägungen, aufgeregtem Pläne schmieden, Bedenken abwägen, wird uns tatsächlich klar: das ist machbar! Wir haben einen Monat Elternzeit gleichzeitig, und zwar im Mai. Das ist fürs Wandern ein wunderbarer Zeitpunkt, und es sind nicht einmal Ferien in der Zeit. Gardasee-Urlaub mit Kind? Kein Problem: Anreise einfach zu Fuß!

Der Plan

16 Tage – 3 Länder – 330 km

Die Idee steht – jetzt muss das Ganze ein wenig konkreter werden. Sehr bald ist uns klar, dass unsere Tour der Goetheweg werden wird, die einfachste und offensichtlichste Route nach Italien: über den Brenner. Diese Tour habe ich noch aus meinem Alpentrek-Buch in Erinnerung, und sie schien mir schon damals die ideale Einstiegsroute. Ist Goethe sie doch damals schon mit der Postkutsche gefahren! Damit sind Klettereien und ähnliche kühnen Aktivitäten ausgeschlossen, und das ist ja gerade das, was wir wollen. Der Goetheweg führt durch bis Venedig, aber das ist uns zu weit und zu lang. Die Route geht doch genau am Gardasee vorbei – perfekt!

Jetzt geht es an die Vorbereitung. Zunächst das Wichtigste: der Reiseführer. Es gibt derzeit, im Frühjahr 2011, ein einziges Buch zum Thema Goetheweg: Guido Seyerle „Der Goetheweg über die Alpen“, Bruckmann Verlag, und bei Amazon ist es vergriffen. Auweia. Nichts wie ab in die Stadt – aber auf Münchens größte Buchhandlung ist Verlass und wir ergattern noch das letzte Exemplar. Glück gehabt! Allerdings haben es zukünftige Wanderfreunde leichter: der ADAC hat inzwischen einen detaillierten Wanderführer zum Goetheweg herausgebracht.

Die Details werden studiert und bald kristallisiert sich heraus, dass es zum Gardasee ein wenig knapp wird. Wir haben einen Monat Zeit und wollen am Schluss unbedingt noch eine Woche Erholungsurlaub haben. Macht drei Wochen Wanderzeit. Laut Wanderführer sollte das gerade zu packen sein, wir sind aber skeptisch: bestimmt brauchen wir für die ein oder andere Teilstrecke doch etwas länger, und ein Ruhetag wird ab und zu wohl auch nötig sein. Auf Stress haben wir nun wirklich gar keine Lust, und deshalb lautet die Devise: wir laufen mal los und sehen, wie weit wir kommen. Bis rein nach Italien wäre aber schon schön. Schauen wir mal!

Nun wird konkret geplant: was darf alles rein in den Rucksack? Was muss unbedingt mit? Was kann zuhause bleiben? Die Grundregel lautet, erst einmal alles zurechtzulegen, was man mitnehmen möchte, und dann mindestens die Hälfte zuhause zu lassen. Unsere Packlisten sind am Schluss des Buches angegeben, und man wird sehen, dass wir tatsächlich sehr spartanisch waren. Was soll man sagen: es hat völlig ausgereicht. Allerdings wird dem Sportladen vor der Tour noch des Öfteren ein Besuch abgestattet – die Dinge, die man wirklich braucht, müssen gut sein, sonst hat man schnell keine Freude mehr. Gottseidank haben wir beide schon gut eingelaufene Wanderstiefel (wichtig! Im Ernstfall einige Wochen vorher kaufen und so oft wie möglich damit laufen), aber nachgekauft haben wir noch leichte Hemden, Wanderhüte, Handschuhe, Wanderstecken und kleine Probenpackungen für den Kulturbeutel. Ich merke während der Planung, dass ich ständig im Hinterkopf nachdenke, was noch sinnvoll wäre oder was vielleicht doch daheimbleiben kann… Hier ist die Vorbereitung das A und O, aber danach kann man sich innerlich beruhigt zurücklehnen: man hat alles, was man in drei Wochen braucht, in einem einzigen Rucksack auf dem Rücken, und das ist ein tolles Gefühl!

Dann setze ich mich noch einen Abend ans Internet und bereite die ersten paar Übernachtungsstationen vor, heißt: ich notiere mir in mein Reiseheftchen jeweils drei mögliche Pensionen mit Adresse und Telefonnummer, so dass wir notfalls vorausbuchen können. Mehr als die ersten fünf Tage plane ich aber nicht: wer weiß, was alles kommt – und es sollte sich zeigen, dass ich recht behalten sollte.

Aber irgendwann ist alles gepackt, alles besorgt, und es kann losgehen!

Italien, wir kommen!

Die Winters

Christoph: Frisch gebackener Familienpapa. Hat beim Gespräch über zukünftige Lebensträume auf Anitas Aussage "Irgendwann will ich mal zu Fuß über die Alpen" spontan mit "Na, dann machen wir's doch einfach jetzt!" geantwortet. Da war unsere Maus schon auf der Welt und gerade so schwer, dass man sie noch gut tragen konnte. Es war ja abzusehen, dass der Zustand bald vorbei ist.

Anita: "Schuld" an der Idee. Ist aber schon ein paarmal ferngewandert: eine Woche Westhighland Way (wer schottisches Wetter kennt, den schreckt nichts mehr) und drei Tage Chile mit Christoph. Jeweils mit Zelt und Essen schleppen, weil kaum Zivilisation auf dem Weg war. Das passiert einem auf dem Brenner ja nicht gerade. Beruhigend aber schon deswegen, weil jederzeit ein Bahnhof erreichbar wäre, "falls was mit der Kleinen ist". Wie sagte Tobi? Na, an ihr wird's nicht scheitern.

Die Maus, je nach Gemütslage auch Knuddelchen oder Nölmaus. Im wahren Leben heißt sie Isabell. Während der Tour wird sie vier Monate alt und wiegt am Abend vor Abmarsch noch knapp unter 5kg. Kein Problem für einen jungen Papa! In der Trage taugt es der Maus prima, aber sie macht mit ihren verrückten Eltern ja sowieso fast alles – und das strahlenderweise – mit. Was hat man schon für eine Wahl...?

Bildeindrücke von Tag eins: vom Abschiedsfoto auf dem Balkon der Eltern bis zum Biergarten der Waldwirtschaft Großhesselohe

2 | Die Etappen

Prolog

Vorabend des 4. Mai 2011. Die gepackten Rucksäcke stehen auf dem Flur, die Maus schläft schon, wir kopieren noch die letzten Hörbücher auf den iPod. Eine ganz eigenartige Atmosphäre macht sich breit; einerseits wie immer vor dem Urlaub, aber irgendwie auch völlig anders. Morgen geht es tatsächlich los - die allerletzten Besorgungen im Sportladen sind erledigt (wer sagt eigentlich, dass Fernwandern ein billiger Urlaub ist?), die kleinsten Details nochmal durchdacht; der Reiseführer liegt erwartungsvoll auf dem Schlüsselbrett. Wir packen's an: zu Fuß über die Alpen!

Die letzten zwei Tage waren voller Planung und Packen - unglaublich, wie viel einem in letzter Minute noch einfällt. Eigentlich wollten wir heute schon losgegangen sein, aber Montag Nacht um elf war uns dann doch klar: jetzt noch "schnell packen" und in der Früh die letzten Kleinigkeiten im Sportgeschäft besorgen ist einfach keine gute Idee. Aber ist das nicht das Schöne beim "Urlaub aus der Haustür raus": wir gehen halt einfach einen Tag später! Den Einkaufs- und Packtag haben wir auch wirklich gebraucht, und wir haben die "Ruhe vor dem Sturm" - ohne zu wissen, was der Sturm bringt - intensiv auf uns wirken lassen.

Eigentlich hatten wir ja einen ruhigen Gardasee-Urlaub geplant. Man hat jetzt ein Baby, da kann man ja nix mehr unternehmen. Allerdings: Wandern ist ja auch mit Baby möglich, ein paar Tagestouren werden also schon drin sein. Dann, in einem völlig anderen Moment, sprachen wir abends über künftige Lebensträume: Weltreisen, Segeltrips, monatelang im Ausland - brauche ich alles nicht, fand ich, ich bin jetzt erst mal genug um die Welt gereist. Aber: "einmal zu Fuß über die Alpen" - eine Faszination, die ich schon lange habe; die immer wieder in der Ferne schwebt mit dem Stempel "irgendwann"; die ich noch nie gewagt habe, mir wirklich vorzunehmen... Und dann Christophs Reaktion: Na, dann machen wir's doch einfach jetzt!

Ich bin erst mal sprachlos. Eine Alpenüberquerung mit Baby? Die Idee fasziniert mich sofort, gleichzeitig sucht mein Hirn wie wild nach Bedenken und Zweifeln. Das kann doch gar nicht gehen, oder? Außerdem wollten wir doch zum Gardasee… „Na, dann laufen wir eben einfach dorthin!“ Christophs Argumente sind schwer zu entkräften: Die Kleine war ja schon auf vielen Tagestouren dabei, sie liebt die frische Luft, das Schaukeln und den Körperkontakt, noch können wir sie tragen, noch wird sie voll gestillt und wir brauchen keine Gläschen schleppen. Seine spontane Begeisterung reißt mich mit, obwohl ich in dem Moment noch nicht glauben kann, dass dieser Traum (gerade jetzt!) wirklich machbar ist. Seltsam: an dem Abend ist Christoph vollkommen überzeugt von unserem Plan, während in meinem Innersten durchaus Zweifel nagen, ob das nicht doch eine rechte Schnapsidee ist.

Am nächsten Tag jedoch - nachdem die Bedenken nach einigen Stunden passiven Nachdenkens tatsächlich zu verschwinden schienen (ich konnte mir keine Katastrophe vorstellen, die uns daheim nicht genauso passieren könnte) - fing ich an, mich ernsthaft auf das Abenteuer einzustellen. Nun aber war Christoph der Ansicht, wir sind wohl nicht ganz bei Trost. Glück für uns, dass diese Phasen abwechselnd kamen, und wir uns gegenseitig immer wieder zu unserem Abenteuer motivierten. Es wurden Bücher besorgt, Internetseiten gelesen, Packlisten gewälzt – und auch wenn jeder von uns sicher immer wieder den Moment hatte, in dem er uns beide für verrückt erklären wollte: den Schwanz einziehen wollte nun niemand mehr. Die Planungen schritten voran, wenn auch des Öfteren mit dem Gedanken: na, losgehen kann man ja mal, wir werden dann wohl schon bald wieder im Zug nach Hause sitzen. Aber: wir wollen es wenigstens versucht haben!

Und da stehen wir nun, am Morgen des 4. Mai, mit den gepackten Rucksäcken, der Maus in der Trage, ganz aufgeregt und voller Vorfreude: es geht los!!

Tag eins und zwei: durch die Isarauen über Kloster Schäftlarn mit „Doppelzimmer“ und sonnigen Wickelwiesen

Tag zwei: über eine lange Mittagspause in der Flößerstadt Wolfratshausen zu einem spontanen Übernachtungsbesuch bei den Eltern

Tag drei: am Isar-Loisach Kanal entlang von Gelting über Beuerberg – der erste freie Blick auf die noch ziemlich entfernten Alpen! – bis nach Bad Heilbrunn

Tag vier: der Weg nach Kochel – sonnig-heiße Moore, küssende Bäume, brennende Fußsohlen und glückliche, aber sehr müde Wanderer

Tag 1: München nach Kloster Schäftlarn

24km, Gesamtzeit: 8 Stunden

7h aufstehen. Wir sind richtig aufgeregt! Heute ist der große Tag, die Klamotten für heute liegen schon lange bereit, die Rucksäcke fertig auf dem Flur. Ahnt unsere Maus wohl, dass ihr was Besonderes bevor steht? Füttern, wickeln, der fünfte allerletzte Check: haben wir alles? Dann geht es los - nein, nicht gleich zu Fuß, sondern im Auto zu den Winter-Eltern: Abschiedsfrühstück. Natürlich will die Oma ihre kleine Isabell nochmal sehen, bevor wir uns (und sie) in das Abenteuer stürzen. Und wir freuen uns auf das Frühstück und den gemütlichen Ratsch. Das Auto wird, vollgepackt mit Strandgepäck für den Gardaseeurlaub, bei den Winters gebunkert. Wir bekommen das Auto nachgefahren, hat uns die Schwiegermama versprochen - aber nur so 100, 150km weit. Mehr werden wir sicher eh nicht packen, heißt es. Wir werden sehen!

Wir lassen uns das Frühstück schmecken und die kleine Maus darf noch ein bisserl mit der Oma spielen. Aber zu viel getrödelt wird nicht: wir haben heute ja noch was vor! Der S-Bahn-Plan wird studiert und schließlich brechen wir auf; der Vormittag ist ja schon fast rum. Endlich stehen wir am Marienplatz: Startfoto an der Mariensäule, es ist 11:20 Uhr, und die Sonne lacht! Da wollte wohl der Herrgott, dass wir mit dem Packen nicht schon einen Tag früher fertig geworden sind; gestern hat es geregnet. Wir sind froh, bei gutem Wetter losgehen zu können und spazieren los Richtung Tal, Isartor und Deutsches Museum. Vor lauter Aufregung sind wir ganz wepsig und laufen fast zu schnell. Ich versuche, uns ein wenig zu bremsen, auch wenn es schade ist. Wie oft sind wir schon hier entlanggelaufen, Münchens Innenstadt, die gute alte Heimat - trotzdem sehen wir den Weg nun mit ganz anderen Augen. Und: ich mache Fotos von der Stadt; wie lang habe ich das schon nicht mehr gemacht?