Mutter Käthe, des alten Nachtwächters Frau, schob am Silvesterabend um neun Uhr das Zugfensterlein zurück und steckte den Kopf in die Nacht hinaus. Der Schnee flog in stillen, großen Flocken, vom Fensterlicht gerötet, auf die Straßen der Residenz nieder. Sie sah lange dem Laufen und Rennen der frohen Menschen zu, die noch in den hell erleuchteten Laden und Gewölben der Kaufleute Neujahrsgeschenke einkauften oder von und zu Kaffeehäusern und Weinkellern, Kränzchen und Tanzsälen strömten, um das alte Jahr mit dem neuen in Lust und Freuden zu vermählen. Als ihr aber ein paar große, kalte Flocken die Nase belegten, zog sie den Kopf zurück, schob das Fensterlein zu und sagte zu ihrem Manne: »Gottliebchen, bleib zu Hause und lass die Nacht den Philipp für dich gehen. Denn es schneit vom Himmel, wie es mag, und der Schnee tut, wie du weißt, deinen alten Beinen kein Gutes, auf den Gassen wird es die ganze Nacht lebhaft sein. Es ist, als wäre in allen Häusern Tanz und Fest. Man sieht viel Masken. Da hat unser Philipp gewiss keine Langeweile.«
Der alte Gottlieb nickte mit dem Kopfe und sprach: »Käthchen, ich lass es mir wohl gefallen. Mein Barometer, die Schusswunde über dem Knie, hat mir's schon zwei Tage vorausgesagt, das Wetter werde sich ändern. Billig, dass der Sohn dem Vater den Dienst erleichtert, den er einmal von mir erbt.«
Nebenbei verdient hier gesagt zu werden, dass der alte Gottlieb vor Zeiten Wachtmeister in einem Regiment seines Königs gewesen, bis er bei Erstürmung einer feindlichen Schanze, die er als Erster im Kampfe für das Vaterland erstieg, zum Krüppel geschossen ward. Sein Hauptmann, der die Schanze bestieg, nachdem sie erobert war, empfing für solche Heldentat auf dem Schlachtfelde das Verdienstkreuz und Beförderung im Rang. Der arme Wachtmeister musste froh sein, mit dem zerschossenen Bein lebendig davonzukommen. Aus Mitleid gab man ihm eine Schulmeisterstelle, denn er war ein verständiger Mann, der eine gute Handschrift hatte und gern Bücher las. Bei Verbesserung des Schulwesens ward ihm aber auch die Lehrerstelle entzogen, weil man einen jungen Menschen, der nicht so gut wie er lesen, schreiben und rechnen konnte, versorgen wollte, indem einer von den Schulräten dessen Pate war. Den abgesetzten Gottlieb aber beförderte man zum Nachtwächter und adjungierte ihm seinen Sohn Philipp, der eigentlich das Gärtnerhandwerk erlernt hatte.
Die kleine Haushaltung hatte dabei ihr kümmerliches Auskommen. Doch war Frau Käthe eine gute Wirtschafterin und gar häuslich, und der alte Gottlieb ein wahrer Weltweiser, der mit Wenigem recht glücklich sein konnte. Philipp verdiente sich bei dem Gärtner, in dessen Lohn er stand, sein tägliches Brot zur Genüge, und wenn er bestellte Blumen in die Häuser der Reichen trug, gab es artige Trinkgelder. Er war ein hübscher Bursche von sechsundzwanzig Jahren. Vornehme Frauen gaben ihm bloß seines Gesichts wegen ein Stück Geld mehr als jedem andern, der eben solch ein Gesicht nicht aufweisen konnte.
Frau Käthe hatte schon das Mäntelein umgeworfen, um aus des Gärtners Hause den Sohn zu rufen, als dieser in die Stube trat.
»Vater,« sagte Philipp und gab dem Vater und der Mutter die Hand, »es schneit, und das Schneewetter tut dir nicht wohl. Ich will dich die Nacht ablösen, wenn du willst. Lege du dich schlafen.« »Du bist brav!« sagte der alte Gottlieb.
»Und dann habe ich gedacht, morgen sei es doch Neujahr,« fuhr Philipp fort, »und ich möchte morgen bei euch essen und mir gütlich tun. Mütterchen, hast vielleicht feinen Braten in der Küche...«
»Das eben nicht,« sagte Frau Käthe, »aber doch anderthalb Pfund Rindfleisch, Erdäpfel zum Gemüse und Reis mit Lorbeerblättern zur Suppe. Auch zum Trunk noch ein paar Flaschen Bier. Komm du nur, Philipp; wir können morgen hoch leben! Künftige Woche gibt es auch wieder Neujahrsgeld für die Nachtwächter, wenn sie teilen. Da können wir schon wohl leben.«
»Nun, desto besser für euch. Und habt ihr schon die Hausmiete bezahlt?« fragte Philipp.
Der alte Gottlieb zuckte die Achseln.
Philipp legte Geld auf den Tisch und sagte: »Da sind zweiundzwanzig Gulden, die ich erspart habe. Ich kann sie wohl entbehren. Nehmt sie zum Neujahrsgeschenk. So können wir alle drei das neue Jahr wohlgemut und sorgenlos antreten. Gott gebe, dass wir es gesund und fröhlich durchleben. Der Himmel wird ferner für euch und mich sorgen.«
Frau Käthe traten die Tränen in die Augen, und sie küsste ihn. Der alte Gottlieb sagte: »Philipp, du bist wahrhaft der Trost und Stab unsers Alters. Gott wird dir's vergelten. Fahre fort, redlich zu sein und deine Eltern zu lieben. Ich sage dir, der Segen bleibt nicht aus. Zum Neujahr wünsche ich dir nichts, als dein Herz fromm und gut zu bewahren. Das steht in deiner Macht. Dann bist du reich genug. Dann hast du deinen Himmel im Gewissen.
So sprach der alte Gottlieb, ging und schrieb die Summe von zweiundzwanzig Gulden ins große Hausbuch und sagte: »Was du mich als Kind gekostet, hast du beinahe schon alles abbezahlt. Jetzt haben wir aus deinen Ersparnissen schon dreihundert und siebzehn Gulden empfangen und genossen.« »Dreihundert und siebzehn Gulden!« rief Frau Käthe mit großem Erstaunen. Dann wandte sie sich mitleidig zu Philipp und sagte mit weicher Stimme: »Herzenskind, du jammerst mich. Ja, recht sehr jammerst du mich. Hättest du die Summe für dich sparen und zurücklegen können, so würdest du jetzt ein Stück Land kaufen, für eigene Rechnung Gärtnerei reiben und die gute Rose heiraten können. Das geht nun nicht. Aber tröste dich. Wir sind alt; du wirst uns nicht mehr so lange unterstützen müssen.«
»Mutter,« sagte Philipp und runzelte die Stirn ein wenig, »was redest du? Röschen ist mir zwar lieb wie mein Leben. Aber hundert Röschen gäbe ich für dich und den Vater hin. Ich kann in dieser Welt keine Eltern mehr haben als euch; aber wenn es sein muss, wohl noch manches Röschen, wenn ich schon unter zehntausend Röschen kein anderes als Bittners Röschen möchte.«
»Du hast recht, Philipp!« sagte der Alte; »Lieben und Heiraten ist kein Verdienst; aber alte, arme Eltern ehren und unterstützen, das ist Pflicht und Verdienst. Sich selbst opfern mit seinen Leidenschaften und Neigungen für das Glück der Eltern, das ist kindliche Dankbarkeit. Das erwirbt dir Gotteslohn; das macht dich im Herzen reich.«
»Wenn nur,« sagte Frau Käthe, »dem Mädchen die Zeit nicht zu lang oder es dir abtrünnig wird! – Denn Röschen ist ein schönes Mädchen, das muss man sagen. Es ist freilich arm; aber an Freiern wird es ihm nicht fehlen. Es ist tugendhaft und versteht die Haushaltung.«
»Fürchte dich gar nicht, Mutter!« versetzte Philipp; »Röschen hat mir's feierlich geschworen, sie nehme keinen andern Mann als mich; und das ist genug. Ihre alte Mutter hat eigentlich auch nichts an mir auszusetzen. Und könnte ich heute mein Gewerbe für mich treiben und eine Frau ernähren, morgen hätte ich Röschen am Altar; das weiß ich. Es ist nur verdrießlich, dass die alte Bittnerin uns verbietet, einander so oft zu sehen, wie wir gern möchten. Sie sagt, das tue nicht gut. Ich aber finde, und Röschen findet das auch, es tue uns beiden gewiss sehr gut. Auch haben wir verabredet, uns heut um zwölf Uhr vor der Haupttür der Gregorienkirche zu sprechen; denn Röschen bringt den Silvesterabend bei einer ihrer Freundinnen zu. Dann führe ich sie des Nachts heim.«
Unter diesen Gesprächen schlug es im benachbarten Turme drei Viertel. Da nahm Philipp den Nachtwächtermantel seines Vaters vom warmen Ofen, auf den ihn Käthe vorsorglich gelegt hatte, hing ihn um, nahm das Horn und die Stange, wünschte den Eltern gute Nacht und begab sich auf seinen Posten.
Philipp schritt majestätisch durch die beschneiten Gassen der königlichen Residenz, auf welchen noch viel Volks umherwandelte, als wär's am Tage. Kutschen fuhren her und hin. Alles war in den Häusern hell und licht. Unsern Nachtwächter belustigte das heitere Leben. Er sang und blies im angewiesenen Stadtquartier die zehnte Stunde recht frohmütig ab, am liebsten und mit mancherlei Nebengedanken vor dem Hause unweit der Gregorienkirche, wo er wohl dass Röschen bei ihren Freundinnen war. »Nun hört sie mich,« dachte er, »nun denkt sie an mich und vergisst vielleicht Gespräch und Spiel. Wenn sie nur um zwölf Uhr nicht bei der Kirchtür fehlt!«
Und als er seinen Gang durch das Stadtquartier gemacht hatte, kehrte er vor das beliebte Haus zurück und sah nach den erleuchteten Fenstern von Röschens Freundinnen hinauf. Zuweilen sah er weibliche Gestalten am Fenster, dann schlug sein Herz schneller. Er glaubte Röschen zu sehen. Verschwanden die Gestalten, so studierte er ihre verlängerten Schatten an der Wand und Zimmerdecke. um zu erkennen, welcher Röschens Schatten sei und was sie tue. Es war freilich gar nicht so angenehm, in Frost und Schnee dazustehen und Beobachtungen zu machen. Aber was fechten Frost und Schnee einen Liebhaber an! Und Nachtwächter lieben heutzutage so romantisch wie irgend zärtliche Ritter der Vorwelt in Romanzen und Balladen.
Er spürte den Einfluss der Kälte erst, als es elf Uhr schlug und er von neuem die nachtwächterliche Runde beginnen sollte. Die Zähne klapperten ihm vor Frost. Er konnte kaum die Stunde anrufen und dazu blasen. Er wäre gern in ein Bierhaus eingekehrt, um sich wieder zu erwärmen.
Wie er nun durch ein einsames Nebengässchen ging, trat ihm eine seltsame Gestalt entgegen, ein Mensch mit schwarzer Halblarve vor dem Gesicht, in einen feuerroten Seidenmantel gehüllt, auf dem Haupte einen runden, seitwärts aufgeschlagenen Hut, phantastisch mit vielen hohen, schwankenden Federn geschmückt.
Philipp wollte der Maske ausweichen. Diese aber vertrat ihm den Weg und sagte: »Du bist mir ein allerliebster Kerl, du! Du gefällst mir! Wo gehst du hin? Sag' mir's.«
Philipp antwortete: »In die Mariengasse, da ruf' ich die Stunde.«