Georgia, Lufthafenkontrollturm:

„Help! Mayday, mayday, brauchen dringend Hilfe. Nein!

Aaah ...“

„Wer war das und wo?“, fragte der Lufthafenkommandant.

„Ich weiß es nicht genau, es war ein privates Flugzeug. Der Pilot hat nach Asyl für sich und seine Familie mit Kind gefragt. Sie müssten über der Küste von Chamberland Island gewesen sein.“

„Jack, ruf doch mal den District Sheriff an, sie sollen sofort eine Suchaktion beginnen. Vielleicht haben da noch welche überlebt.“

„Zack, da ist jemand am Telefon und sagt, dass ein Flugzeug bei uns in der Nähe abgestürzt ist bei Chamberland Island!“, rief die Sekretärin den Sheriff auf dem Weg nach Hause zurück.

„Ja sicher, Witz vom Freitag, zum Wochenende – gib mir mal den dummen Idioten“, antwortete Zack erzürnt.

Es war Freitag und er war spät. Papierarbeit hatte ihn gezwungen, bis neun Uhr abends im Büro zu bleiben.

Er nahm den Hörer. „Ja, Sheriff Walton. … Wo? … Meine Jungs sollen nicht gerade erbaut sein. … Ja, sicher wieder so ein Immigrant. Kommt alle nach Amerika! Lass sie alle kommen, dann sollen sie hier bleiben und wir wechseln in denen ihre Länder und haben den Rest der Welt für uns! … Ja, sicher – wo, sagen sie? … Verdammt das ist im Wasser!

… Sarah, ruf die Jungs an, sie sollen herkommen, ich erwarte jeden in einer halben Stunde, jeden!“

Er wählte eine andere Nummer am Telefon.

„Ja, ich bin’s, Zack. Ich habe eine Absturzmeldung. Kannst du uns mit einem Boot unterstützen? … Ja, ich werde mit meinen Jungs so in einer Dreiviertelstunde bei euch sein“, sagte er auf die Uhr schauend und legte auf.

„Verdammt, ich hasse das. – Sarah, ruf’ bitte auch das Krankenhaus an, die sollen einen Helikopter schicken.“

„Okay – Zack, Jeffs Mutter fragt, ob er nicht bei seiner Tochter bleiben kann, sie ist im Krankenhaus.“

„Ja, sicher lass ihn bei seiner Kleinen und richte gute Besserung aus von mir.“

Die Männer kamen ins Büro, hörten Zacks Bericht zu und fuhren zur Küste, wo die Wasserpolizei wartete.

„Hallo, wir haben schon zwei Boote suchend.“

„Danke. Verdammt, wo bleibt nur … – da kommt ja endlich der Helikopter.“

„Tom, sie haben das Flugzeug gefunden, die Taucher sind schon unten!“, rief der Bootskapitän.

„Gut, dann kann ich wenigstens meine Jungs nach Hause schicken. Gehen wir schauen?“, fragte Zack.

„Ja, lass uns gehen.“

„Patty, lass die Jungs nach Hause gehen, sie haben es gefunden. Danke.“

Sie gingen auf das Schnellboot und fuhren ab. Am Suchboot angekommen fragte Zack: „Und, einige Überlebende?“

„Ein Mädchen, aber sie müssen sie herausschneiden. Da sind noch eine Frau und ein Mann im Flugzeug, aber die sind tot.“

„Scheiße, warum können die nicht zu Hause bleiben“, sagte Zack. Er hielt absolut nichts von Immigranten. Zwei Taucher kamen mit einem Mädchen nach oben. Sie war voll mit Plastiktütenresten. Sie war blond, mit tiefschwarzen Augen, und ihre Haut war sehr sonnengebräunt.

„Was haben wir da, ein Plastiktütenpaket?“, fragte Zack, überzeugt, dass die Eltern das Mädchen in einem Plastiksack einschmuggeln wollten.

„Nein, sie war nicht dumm, sie hat sich einen Plastiksack über den Kopf gehalten, so hat sie noch länger Luft bekommen.“

Sie nahmen das Mädchen und halfen den beiden Tauchern ins Boot.

„Sag denen im Hubschrauber, sie sollen ein Bett herunterlassen, wir haben ein Mädchen für sie!“, rief Tom dem Funker zu. Der Hubschrauber nahm das Mädchen auf und flog direkt zum Krankenhaus.

Es wartete schon ein Arzt und brachte sie dann sofort in die Radiologie.

„Gebt ihr Sauerstoff“, sagte der Doktor zum Assistenten und legte das Mädchen zum Scannen auf den Tisch. Der Assistent kam auch sofort mit einer Sauerstofflasche und weiteren Utensilien und legte die Maske an. Die Schwester begann, an dem Scannring zu arbeiten.

„Die Beine sind okay, lass uns mal nach ihrem Becken schauen“, sagte der Doktor auf den Computer schauend zur Schwester. Sie ließ daraufhin den Scannring zum Becken des Mädchens fahren.

„Ich bekomme eine Steigung von Atmung und Pulsschlag!“,

rief der Assistent.

„Marie, halte ihre Hand, und sprich beruhigend zu ihr. Aber ich brauche den Scanner jetzt über ihrer Brust.“ Der Scanner fuhr langsam über ihre Brust.

„Halt die linke Hand, ihr Herz ist nach rechts abgehend.

Atem und Puls?“

„Sind in Ordnung, aber ich habe achtunddreißig Grad Körpertemperatur.“

„… Was ist das, da ist eine Wunde einfach verschwunden“, gab Marie schockiert an.

„Ich habe es gesehen ...“

Das Mädchen öffnete plötzlich die Augen und bekam ein Hustenanfall. Marie nahm die Sauerstoffmaske ab.

„Tagie jaga da kael de i, jerams taba ...“

„Was?“, fragte der Doktor und sie schauten sich untereinander an.

Das Mädchen hörte auf zu sprechen und versuchte sich aus der Halterung am Tisch zu befreien. Der Doktor deckte sie mit einer Decke zu und löste die Bänder von den Beinen, drückte sanft mit einer Hand auf ihre Brust und löste die Bandagen an den Handgelenken.

„Du musst noch liegen bleiben.“

„Bitte, ich will zu meiner Mami, biitttee.“ Sie begann zu weinen.

„Wie heißt du?“, fragte der Doktor. Sie antwortete nicht.

„Schau, wir müssen doch erst sehen, dass alles mit dir in Ordnung ist. Ich denke, du weißt, ich bin ein Doktor.“

„Kari deveja kasteweka ta ...“

„Stopp, stopp, das verstehen wir nicht.“

Doch sie antwortete nicht und der Doktor begann zu schwitzen.

„Nun, ich heiße Marie ...“

„Hi, ich heiße Tatjana – sind mein Papa und Mami t…“ Sie brach weinend ab.

„Tatjana, ähm ich – ich weiß nicht, wie soll ich es sagen …– es war zu spät.“

„Wie alt bist du?“, wollte der Doktor wissen.

„Ocho.“

„Spanisch?“

„Entschuldigung“, sagte sie traurig. „Huit.“

„Gut, das war Französisch, also acht“, übersetzte Marie.

„Wie viele Sprachen kannst du denn?“, fragte der Doktor.

„Fünf“, sagte sie leise.

„Hey, das ist phantastisch. – Gut, sollen wir es so sagen, ich muss noch ein kleinen Scann tun, und wenn das okay ist, kannst du, wenn du möchtest, was essen. Ja?“

„Nein, Bitte nicht noch einmal, bitte!“

„Doktor, sie bekommt wieder einen hohen Puls“, sagte der Assistent.

„Tatjana, …“ Der Doktor drückte das Mädchen wieder sanft auf den Tisch zurück. „Tatjana, wir müssen nur noch ein paar Fotos vom Kopf machen. Bitte, sei ein liebes Mädchen, sonst muss ich dich wieder festbinden. Es hat doch nicht wehgetan.“

„Ich halte deine Hand, ja?“, fragte Marie und nahm ihre Hand. Ihr Widerstand brach ab, aber sie weinte immer noch und als der Ring sich wieder zu drehen begann, zuckte sie zusammen.

„Nicht zu glauben.“ Der Doktor starrte total verwundert auf dem Computer.

„Okay, wir sind fertig, ich glaube, es ist alles in Ordnung – ich glaube. Du kannst aufstehen, Tatjana.“

„Ich muss mal – wo sind meine Sachen?“, fragte sie verstört. Marie gab ihr ihre Kleidung. „Aber sie sind noch nass.“ Sie war aber vom Anziehen nicht abzubringen.

„Dein Unterhemd mussten wir durchschneiden, tut mir leid“, warf der Doktor ein. „Hey, du hast eine hübsche Tätowierung auf deinem linken Oberarm“, bemerkte Marie.

„Meine Mutter sagt, die Götter haben sie mir gegeben.“

„Was, die Götter?“, lächelte der Doktor.

„Bitte, ich muss ...“, sagte Tatjana, die schwarze Jeans angezogen und nervös versuchend, die Knöpfe ihrer weißen Bluse zu schließen, während sie barfuß zur Tür ging.

„Du kannst hier nicht barfuß herumlaufen.“

„Ich, ich kann ...“

Marie nahm sie auf den Arm. „Ich sehe“, sagte sie und ging zu den Toiletten.

„Was hast du gesehen – bei den Fotos von ihrem Kopf?“,

fragte der Assistent.

„Hä, ich kann noch nicht alles sagen, es ist noch vieles auszuwerten, aber wer da die Gene bearbeitet hat. Totaler Wahnsinn! Die Iris, welche du siehst, das tief Schwarze, scheint allein nur für den Tag zu sein. Auch die Biegungsmöglichkeit, nach dem Computer müsste sie sehen können wie ein Adler. Die andere Iris – warte ... müsste sehen können wie eine Katze in der Nacht.“

„Vielleicht ist sie eine Außerirdische.“

„Ja, sicher, dann lass sie mal nicht telefonieren, das kann teuer werden.“

„Okay, aber was denkst du, sollten wir es melden?“

„Dann kann ich sie auch gleich aufschneiden. Nein, lass uns erstmal abwarten.“

„Neiiin, ich bekomme meine Hose nicht auf.“

„Warte ich helfe dir, das ist, weil sie noch nass ist.“

Marie öffnete die Hose und zog sie herunter, aber es war schon zu spät, es lief schon durch ihren Slip. Schockiert und mit weit offenen Augen stand Tatjana bewegungslos da.

Dann begann sie zu weinen und vor Angst zu zittern.

„Ich, ich, es tut mir leid, ich wollte es nicht, ich, ich ...“

Marie versuchte sie zu beruhigen. „Das kann schon mal passieren.“

„Aber ich, ich …“ Sie musste tief Luft holen, um trotz des Weinens weiter sprechen zu können. „Ich bin beinahe neun ...“

„Aber du hattest vorher auch Angst, da kann es selbst Erwachsenen passieren.“

Da sie noch zitterte, zog Marie ihr die Jeans und den Slip aus und wusch sie sanft. Danach zog sie ihren Kittel aus und wickelt ihn um Tatjana. Marie nahm die noch immer zitternde Tatjana auf den Arm und ging zurück.

„Aber, wenn sie doch eine Außerirdische ist und gefährlich ...“

„Ich bin keine Außerirdische und auch nicht gefährlich, ich, ich mache auch die Toilette wieder sauber.“ Sie brach ab und begann wieder stärker zu zittern.

„Okay, okay“, versuchte der Doktor sie wieder zu beruhigen. „Was meint sie eigentlich damit – die Toilette wieder sauber machen?“

„Na, ich war zu langsam, sie hat es nicht mehr halten können“, antwortete Marie.

„Ah“, er winkte ab und grinste. „Da musst du keine Angst haben, ich werde der Putzfrau Bescheid sagen.“

„Nein, ich ...“ Sie versuchte sich ängstlich von Maries Armen zu befreien. Marie konnte sie nicht mehr halten und sie fiel hart auf dem Boden.

„Aau!“ Tatjana biss ihre Zähne zusammen und holte tief Luft.

Der Doktor hielt sie vor der Tür auf, hockte sich vor ihr und sagte mit ruhigem Ton: „Ich werde ihr nicht sagen, wem es passiert ist und du willst doch auch nicht ohne Hose gehen.“

Schnell nahm sie den herunter gefallenen Kittel wieder auf und wickelte ihn sich wieder um. Der Doktor nahm eine Decke aus dem Schrank und gab sie an Tatjana, mit den Worten: „Tut mir leid, den Kittel braucht Marie wieder.“

Sie gab den Kittel wieder an Marie, nahm die Decke und beruhigte sich.

„Gut, ich werde nach eine Hose für dich schauen“, meinte Marie und wollte gehen.

Tatjana stöhnte auf und versuchte sich an Marie festzuhalten. Sie blieb stehen. „Aber ich muss doch eine ...“

„Nein, ist schon in Ordnung, nimm sie ruhig mit“, unterbrach sie der Doktor, fürs Erste habe ich genug an den Fotos im Computer.“

Marie nahm Tatjana an sich. „Na dann – wir müssen auch nach Schuhen für dich schauen, komm.“

Sie nahm sie wieder auf den Arm und ging zu dem Kleiderhilfezimmer vom Krankenhaus. Dort stellte sie Tatjana auf einen Stuhl neben dem Kleiderschrank, öffnete die Türen und begann zu suchen. „Na, da wollen wir doch mal sehen.“

Plötzlich knallte es und die Schranktür zwischen ihr und Tatjana schlug ihr in die Seite. Das Mädchen war vor Müdigkeit gegen die Tür gefallen und begann sofort vor Schreck und Schmerzen zu weinen.

„Oh nein, es tut mir leid, ich hätte früher daran denken müssen, du gehörst eigentlich eher ins Bett. Es ist schon spät und du bist natürlich müde. Ich werde dich ins Bett bringen und dir morgen die Sachen geben.“

Marie legte sie in ein Zimmer mit noch einem Mädchen, wickelte sie aus der Decke und deckte sie zu. Sie war schon in Maries Arm eingeschlafen und drehte sich jetzt nur auf die Seite und zog die Beine an.

„Ich werde den Bericht später schreiben, soll Kurt morgen weiter sehen“, meinte der Doktor.

Eine Stunde später leuchtete das Notlicht des Mädchens, mit dem Tatjana im Zimmer war. Marie und der Assistent eilten zu dem Zimmer. Als sie die Tür öffneten, kam ihnen eine starke Hitzewelle entgegen. Das Mädchen saß auf ihrem Bett mit dem Klingelknopf in der Hand.

Tatjana war noch schlafend, aber aufgedeckt, Laken und Bluse waren nass, durchgeschwitzt, und ihr Haar und Gesicht tropften vor Wasser. Arme und Beine hatte sie ausgestreckt … „Jesus, God!“, rief der Assistent und schaltete das Licht an.

„Aah!“ Tatjana schrie auf. „Meine Augen!“ Sie drückte das Kissen gegen ihr Gesicht.

Die drei schraken zusammen. „Sie ist aber seltsam“, sagte das andere Mädchen.

Er versuchte das Kissen hoch zu heben um zu schauen, aber sie entwickelte eine unerwartet starke Kraft und hielt das Kissen fest. Dann schaute er auf das Thermometer und schluckte. „Fünfunddreißig Grad, jieses, draußen sind es ja nur achtundzwanzig in der Sonne.“

„Okay, Tatjana, ich werde das Licht ausschalten und das kleine über dem Spiegel an. Dann können wir sehen ob deine Augen in Ordnung sind, ja?“ sagte Marie. Sie wechselte das Licht und nahm ihr langsam und behutsam das Kissen ab. Im Kissen und an den Augenschlitzen waren Blut und die Augen voll mit Tränen.

„Sind die Schmerzen am Nachlassen?“, fragte sie.

„Kasa jegakla sterchmai...“

„Äh, tut mir leid, bitte?“, fragte Marie.

„Ja.“

„Okay, ich werde den Ventilator höher schalten und das Licht aus, schlaft dann mal weiter!“

Es war fünf Uhr morgens und die Sonne sandte schon ihre ersten Strahlen in das Zimmer der beiden Mädchen. Von ihren Betten aus waren einzelne Regenbogenstreifen, auf dem Spiegel, über dem Waschbecken zu sehen. Die Hitze im Zimmer und die durchs Fenster gekommene Morgenfrische hatten auf dem nicht ganz ebenen Spiegel einen dünnen Tauwasserfilm gezaubert.

Tatjana sah sich im Zimmer um. Es war simpel ausgestattet.

Die Betten waren an jeweils einer Wandseite aufgestellt, etwa einen Meter voneinander entfernt, konnten aber zusammengerollt werden. An der Innenseite der beiden Betten war jeweils ein kleiner Nachtschrank mit zwei offenen Fächern, an der Wandseite und Kopfleiste waren sehr viele Anschlussmöglichkeiten mit jeweils einem Bildschirm. Der Bildschirm über ihr war eingeschaltet. Sie las, was der Schirm anzeigte. „Body 98 F - Room 90 F - Puls 110 wechselnd auf 109 oder 111“ - und ein kleiner Punkt zeichnete eine lustige, aber doch monotone Linie.

Sie sah zu Melanie, die noch schlief. Es war ein Mädchen mit langen, glänzenden, weißen Haaren. Ihr Gesicht ließ aber entfernte afrikanische Abstammung vermuten und ihre Haut war leicht braun. Tatjana schätzte sie auf etwa zwölf Jahre.

Gegenüber war ein Tisch auf dem eine Glasvase mit verschiedenen Blumen stand. Sie taten ihr leid, denn das Wasser sah schon leicht grünbraun aus. Sie machte das Kabel von ihrem linken Unterarm ab, was sofort den Effekt eines leisen Pieptons am Bildschirm ergab. Die Zahlen und die Linie waren verschwunden. Sie ging zum Tisch und zog ihren Slip an, der frisch gewaschen über dem Stuhl am Tisch hing, und nahm die Vase. Sie leerte das Wasser ins Waschbecken, als plötzlich die Tür aufging und sie sehr erschrak.

„Guten Morgen, junge Lady, so früh schon auf Wanderschaft.“

„Leka nejah – sorry, die Blumen haben mir leid getan, sie brauchen frisches Wasser, sonst müssen sie ...“ Sie fing an zu weinen und schnell zu atmen.

„Du brauchst nicht zu weinen, es ist schon in Ordnung.“

Aber Tatjana dachte an ihre Eltern und weinte deshalb.

„Wenn du ihnen Wasser gegeben hast, kannst du ja noch einmal probieren – weiter zu schlafen.“

„Aber es ist doch schon Tag, die Sonne scheint doch schon.“

„Oh Mädchen, hier kannst du so lange schlafen wie du möchtest, Frühstück kommt erst um neun Uhr.“

Es war eine andere – dicke, aber nette – Schwester. Sie ahnte nicht, welche Auswirkung, das gerade Gesagte haben könnte. Tatjana hatte doch nun länger nichts mehr gegessen und das Wort „Frühstück“ gab ein einschlagendes Signal an ihren Magen.

„Aber wenn ich so lange schlafen kann, wie ich will, muss ich doch auch nicht mehr schlafen, wenn ich nicht will. Bis neun Uhr ist es noch so lang. Ich habe gestern nichts mehr gegessen und mein Bauch tut schon weh.“

Jetzt wachte auch das andere Mädchen von der Unterhaltung auf. „Gibt es schon Frühstück? Ich habe das Gefühl, als wäre es noch mitten in der Nacht.“

„Nein Melanie, deine neue Zimmergefährtin ist nur schon wach und ich sagte ihr, dass ihr noch schlafen könnt.“

„Oh nein, bitte.“ Melanie drehte sich wieder um und überdeckte ihre Ohren mit dem Kissen.

„Na gut, dann bringe ich dich zur Gaststätte, dann kannst du eine Kleinigkeit essen, aber denke daran, es gibt noch Frühstück.“

Tatjana zog sich ihre Jeanshose an und wollte dann losgehen.

„Vergiss nicht deine Schuhe.“

„Das sind nicht meine, aber die sind wahrscheinlich noch nass.“

„Ich denke, Marie hat dir diese hingestellt, bis deine wieder trocken sind.“

„Aber die sind ganz weiß, wenn die schmutzig werden, aus Versehen, dann bekomme ich die nie wieder richtig sauber.“

Die Schwester holte erstaunt Luft. Diese Antwort hatte sie von einem kleinen Mädchen nicht erwartet.

„Schau – wie heißt du eigentlich?“ Die Schwester schaute auf den Monitor. „Tatjana, die sind wahrscheinlich von einer Schenkung für Kinder wie dich und du wirst sie vielleicht auch behalten können.“

Das beruhigte sie erst einmal und sie zog die Freizeitschuhe an. Auf dem Weg zur Gaststätte fragte sie dann aber doch;

„Wer hat denn die Schuhe geschenkt?“

„Oh Tatjana“, sagte die Schwester lächelnd, „das weiß ich nicht, irgendein Spender.“

„Dann kann ich nicht einmal danke sagen zu ihm?“, fragte sie traurig.

„Nein“, antwortete die Schwester und legte ihren Arm auf Tatjanas Schulter. Sie hatte ihr Herz gewonnen, die Einstellung, nicht einfach die Sachen zu nehmen und – was allzu selten geworden war – dafür danken zu wollen, gefiel ihr.

Als die beiden in die Gaststätte eintraten, schreckte Tatjana zusammen und wollte hinausrennen. Die Schwester hielt sie fest, hockte sich vor ihr und fragte: „Hey, Tatjana, was ist.“

Aber sie jammerte nur und sprach aufgeregt schnell ihre Muttersprache, die die Schwester nicht verstand.

„Sie müssen sagen, dass sie sie beschützen, sonst wird sie vor Angst sterben, wenn sie Sie weiter hier festhalten“, meinte ein alter Indianer, der an einem Tisch alleine saß und seinen Kaffee trank.

„Verstehen Sie sie?“

„Nicht gut, sie spricht sehr schnell, ein paar Worte ähneln einem alten Dialekt von meinen Leuten. Aber ich denke, sie sagt, dass sie nicht sterben will und irgendetwas sie töten will oder irgendeiner.“

„Tatjana, keiner tut dir hier etwas, es ist ein Krankenhaus.“

Der Indianer trank seinen Kaffee aus und ging auf das Mädchen zu, welches sich keinen Deut beruhigte. „Tatjana, hier ist kein böser Geist – gut, und ich bleibe solange hier, um dich zu beschützen.“

Wie von einem unsichtbaren Schild gedeckt, wurde sie ganz still und schaute ihn verwundert – mit großen Augen – an.

Nach ein paar Sekunden hielt sie ihre linke Hand geschlossen, mit etwas Abstand vor sich in die Mitte. Ihr Unterarm zeigte dabei waagerecht nach rechts, mit vertikal gedrehter Hand. Einige Zentimeter vor dem linken Arm strich sie mit dem rechten Arm in der gleichen Haltung sacht nach unten. Der Indianer lächelte und nickte zufrieden.

„Was ist?“, fragte die Schwester verständnislos.

„Sie hat mich als mutig bezeichnet, das bedeutet, dass sie einverstanden ist.“

Tatjana machte noch andere Zeichen, worauf sich der Indianer umsah.

„Sie hat Angst vor dem Soldaten, sie sagt, wo einer sei, seien in Kürze mehr.“

An einem Tisch saß ein Soldat dessen rechte Hand im Verband lag.

„Liebling, der tut dir nichts.“

Sie gingen zur Selbstbedienung und sie nahm sich ein Paket Sandwichs und einen Apfel.

„Möchtest du nichts trinken?“, fragte die Schwester.

„Der Doktor gestern hat mich nur zum Essen eingeladen, er hat nichts von trinken gesagt. Ich habe nichts um zu bezahlen, alles war im Luftgleiter.“

„Flugzeug, die Dinger heißen Flugzeug. Mach dir mal darüber keine Sorgen, du brauchst es nicht zu bezahlen.“

„Einfach frei???“

„Dieses Mal, ja.“

Der Pieper der Schwester meldete sich. „Oh es tut mir leid, ein Patient braucht mich. Kann ich dich eine Weile mit dem Indianer alleine lassen?“

Tatjana schaute ihn forschend an. „Und wenn er mich nicht mehr will?“

„Ich habe keinen, der auf mich wartet hier. Ich würde mich freuen, wenn du mir oder ich dir etwas Gesellschaft leisten kann.“

Sie nickte der Schwester zu und sagte dem Indianer in Zeichensprache, dass es ihr eine Ehre sei.

„Die Ehre ist meinerseits“, erwiderte der Alte.

Nach einer Weile, da Tatjana nichts mehr sagte, hob der Indianer an: „Zu meiner Zeit, als ich ungefähr so alt gewesen sein muss wie du, erzählten die Alten eine Geschichte, die sie von ihren Alten hatten.“

Tatjana, die mit dem Essen fertig war und das Glas zum Trinken am Mund ansetzte, stellte das Glas ab. Sie wurde oft auf solche Weise gelehrt oder unterhalten und wollte nichts von den Worten des alten Indianers missen.

„In der Zeit, als Jagen noch Jagen war und noch kein Weißer das Land besiedelte, kam über das Wasser ein kleines Volk. Sie waren stark und ihre Zauber waren stark.

Sie taten uns nichts. Ein paar von uns hatten sie angegriffen und als Eindringlinge behandelt. Ihre Priesterin hat nur einen Panter gerufen, der hat sie alle getötet. Der Rest aber blieb unversehrt. Der Panter war schwarz und so schnell, kein Speer, kein Pfeil konnte ihn treffen ...“

Es ging auf neun Uhr zu und der Indianer brachte sie zurück aufs Zimmer.

„Da bist du, ich dachte schon, du bist wieder raus“, begrüßte sie Melanie.

„Wo raus?“, fragte Tatjana zurück.

„Na aus dem Krankenhaus.“

„Ich bin nicht krank.“

„Ja sicher, darum bist du ja auch hier. Du kannst es ruhig sagen, ich bin hier, weil ich was Falsches getrunken habe.

War eine Limonadenflasche, war nur etwas anderes drin.“

„Hast du das nicht bemerkt?“

„Machst du Witze, dann wäre ich doch nicht hier, dann wäre ich tot. Dies ist, was der Doktor sagte.“

„Wer wollte denn, dass du stirbst?“

„Keiner, meine Mami hatte irgendein Putzmittel in der Flasche getan. Sie hatte es auf den Tisch gestellt und ich dachte, es wäre Limo.“

„Deine Mami muss mächtig schockiert gewesen sein und geweint haben.“

„Ich habe mächtig viel trinken müssen, geweint hat sie eigentlich erst, als der Rettungswagen kam.“

„Guten Morgen Ladys, Frühstück, gut geschlafen?“, fragte die Schwester, die das Frühstück auf den Tisch stellte und noch einen zweiten Stuhl zum Tisch.

„Uff, sie ist ein Hochofen, sie hat den ganzen Raum aufgeheizt.“

„Sorry.“

„Es ist doch aber gar nicht so warm“, sagte die Schwester aufs Thermometer schauend.

„Sie ist ja auch eine ganze Weile nicht im Zimmer gewesen und der Ventilator läuft sich ja schon beinahe tot.“

„Na ja, heute Nachmittag gehst du wieder nach Hause, deine Mutter kommt um 14 Uhr.“

„Jaaa, das ist super, aber dann muss ich noch die Adresse mit dir tauschen.“

„Ich habe keine Adresse mehr.“

„Das geht doch gar nicht, jedes Kind hat eine Adresse“, erwiderte Melanie.

„Nun das stimmt nicht ganz, aber Tatjana, bei dir ist auch vermerkt, wird abgeholt um 14 Uhr.“

Tatjana stoppte mit dem Essen. „Aber von wem denn?“

„Von eine Frau vom Sozialamt und einer Kinderheimerzieherin. Okay, aber jetzt muss ich weiterarbeiten. Bis nachher.“

„Es tut mir leid, das mit dem Kinderheim, aber vielleicht kannst du ja uns auch oft besuchen, es wird dir gefallen.“

Tatjana schwieg, jetzt fühlte sie sich von den Eltern verlassen. Nicht, dass sie ihnen die Schuld gab, doch begann sie jetzt den Verlust mehr zu fühlen. Tränen rannen ihre Wangen hinunter.

Denn weinte sie nicht mehr, sie hatte nur noch stille Tränen.

Ihre Eltern waren die Letzten, die sie von ihrem Volk gesehen hatte. Sie hatte Tage und Nächte geweint, jetzt schien es ihr alles so fern. Ganz plötzlich – erschöpft – fiel sie vom Stuhl. Melanie erschrak, rannte zum Bettalarmknopf und drückte ihn so hart, als müsse er auf anderen, verbundenen Seite wieder herausspringen, rannte auf den Gang und stoppte den ersten Doktor, der vorbeikam.

„Bitte, helfen sie ihr, bitte“, flehte sie ihn an, beinahe zu weinen beginnend.

Der Doktor legte Tatjana aufs Bett, fühlte ihren Puls und zog dann nur ihre Schuhe aus, sah sich das Protokoll an der Betttafel an und sagte: „Keine Angst, sie wird schon wieder, es war nur etwas viel für sie, lass sie ein wenig schlafen.“

Eine Schwester trat ein. „Sie sind schon hier – was ist passiert?“

„Ihr Körper ist etwas zu überarbeitet, es ist alles in Ordnung. Ich schreibe es schon auf.“

Der Doktor ging wieder hinaus und die Schwester zog Tatjana die Kleidung aus bis auf den Slip und deckte sie zu.

Dann nahm sie Tatjanas angebrochenes Frühstück und Melanies leere Glas und Teller und wollte das Zimmer verlassen.

„Und wenn sie Hunger hat, nachdem sie aufwacht?“

„Dann sag mir Bescheid, wenn noch genug Zeit bis zum Mittag ist, bringe ich Frisches.“

„Ich werde dem Bergungsteam Bescheid geben, sie sollen das Flugzeug herausholen. Du kannst dann einen Bericht am Montag haben wenn es dir reicht“, meinte Tom von der Küstenwacht.

„Ja, ja kein Problem, kannst dir Zeit lassen, ich werde trotzdem morgen Nachmittag mit meinem Schwiegervater angeln gehen. Ich gebe den ganzen Scheiß noch an den Sozialdienst weiter und dann ab zur Savannah, meine Schwiegereltern haben ein Bungalow direkt am Fluss.“

„Ja, verdammt, es scheint ein gutes Wochenende zu werden und ich habe Dienst.“

„Mann, Tom, geh es cool an, schnapp dir ‘n Soda, denke dir, es ist Bier und hau dich aufs Patroullienbootdeck. Ich meine, du brauchst doch nicht fahren, lass dich fahren. – Tom, kannst du deine Männer nicht fragen, ob sie nicht irgendwas von dem Mädchen finden. So ‘n kleines Spielzeug oder so etwas, wenn sie jetzt die anderen beiden rausholen?“

Tom schaute Zack verwundert an, nach dem ganzen Geschimpfe über Ausländer, hätte er das nun nicht erwartet.

„Was? – Ich meine, sie hat ihre Eltern verloren, ich meine, vielleicht ...“

Tom ging zu den Tauchern, die gerade wieder abtauchen wollten, und sprach mit einem. Als die Taucher wieder auftauchten und die beiden toten Eltern auf das Boot bargen, gab ein Taucher Tom einen etwa. fünfzig Zentimeter großen pinkfarbenen Delfin, drehte ihn um und zeigte auf die Schwanzunterseite - „wash in lukewarm water“ „Ich denke, sie wird sich freuen, Kinder haben immer so etwas wie einen Freund in Plüschtieren“, sagte Tom dankend.

„Na Zack, wie sieht es mit dem aus?“ Tom überreichte ihm den Delfin.

„Na, das ist ein großer, mein lieber Mann, wenn der nicht hilft ...“

Sie markierten die Stelle mit einer Signalboje und setzten Zack wieder an Land ab.

„Dann bis Montag und schönes Wochenende, grüß deine Frau.“

„Danke, mach ich, soll ich dir einen mitbringen?“

„Mitbringen?“

„Fisch, Tom, einen Fisch.“

„Nah - nicht nötig, du kennst doch das Wochenende.“

„Ich habe gehört, da hat euch der Neue verklickert beim Boss, dass ihr angelt.“

„Der hat Urlaub, jetzt hat der Boss was für Sonntag bestellt, natürlich wissen wir davon nichts.“

„Natürlich.“ Zack winkte grinsend ab, stieg ins Auto und fuhr wieder zum Büro.

„Verdammt – Betty hast du meine Frau angerufen und ihr Bescheid gesagt?“

„Ja, habe ich, rief die Sekretärin aus dem Nebenzimmer.“

Er kramte auf den Schreibtisch.

„Verdammt, wenn man mal was braucht! – Betty, wie war die Nummer vom Sozialservice wieder?“

„800 543 3 ...“

„Warte, warte.“

„Soll ich dich hin verbinden?“

„Ja, danke – was soll ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte, du bist goldig.“

„Eine Sekretärin suchen.“

„So eine wie dich finde ich doch nie.“

„Sage das mal der Lohnbuchhaltung.“

„Habe ich, habe ich, warte nur noch auf ...“

„Dein Anruf, Zack.“

Betty war etwas erstaunt, es brauchte immer eine ganze Weile, ehe Zack über Geld mit sich reden ließ und sie wollte nur einen zwar gezielten, aber doch flapsigen Scherz machen. Jetzt hatte Zack angefragt, ohne dass sie es getan hatte.

„Ja, Sheriff Walton, ich habe hier einen Jetabsturz. Beide Eltern tot, von einem etwa sechs bis sieben Jahre alten Mädchen – ist im Krankenhaus. Vater hat um Asyl angefragt … Was? … Moment …“ Er drehte eine Art Ausweiskarte hin und her. „Verdammt, wer soll den Scheiß lesen! Irgendetwas mit Militär. Ausweis hat keine Nummer, nichts. Könnt ihr das übernehmen – dass sie zu mindestens unterkommt? … Ich weiß nicht. … Nein, sie hatte nur ein paar Kratzer und war bewusstlos. … Warte … Ja, höchstwahrscheinlich ist sie – vergiss es, es sind Hieroglyphen, kein Mensch schreibt das Zeug mehr. Dachte ich zu mindestens. Geboren, denke, dass es das heißen soll, 12. Juli 974 -3. Nehme an, dass sie eine 3. Zeitrechnung hatten oder so etwas. Fragt sich nur, wie das mit unserer übereinstimmt. Sieht auf der Rückseite aus wie eine gewöhnliche Bankkarte. Sieht aber interessant aus. Anstelle eines Fotos ist dort ein Hologramm. Die Eltern haben noch links im Hologramm das Geschlechtszeichen, bei dem Mädchen sind in dem Zeichen drei schwarze Hieroglyphen.

Auf der Rückseite ist in drei Sprachen eingraviert, und ich denke mal, dass diese Zeichen dies auch bedeuten. >>Do protect children, they are your future<< Dahinter eingraviert eine Pendelwaage, eine Seite nach unten hängend, mit einem blutendem Schwert und einem in sieben Stücke geteilten Menschen. Nehme an, das hatte der jenige zu erwarten, der dies nicht befolgte. Würde ich mir manchmal auch wünschen, wenn ich so an die misshandelte Kinder denke, besonders die Augen raus, Hände ab und Geschlechtsteile ab, wie es hier aussieht, mit einem Dreieck nach oben ausgehackt. Vor allem den Kopf zuletzt. … - Was? … Ah, tut mir leid, natürlich. Aber das ist eigentlich alles. Das Flugzeug wird morgen rausgeholt. … Wann? … Mmm, okay, aber Punkt zehn, zehn Minuten später, und ich bin weg. Es ist mein freies Wochenende und ich habe es schon lange geplant.“

Sozialbüro, Abteilung für Kinder.

„Ja, guten Abend, Frau Sennten vom Sozialbüro, Kinderabteilung. Ich habe einen Anruf bekommen, dass bei Ihnen ein Mädchen von einem Flugzeugabsturz eingeliefert worden ist. … Ich weiß es nicht, der Sheriff, der mir die Sache übergeben hat, konnte den Namen nicht herausfinden, aber sie muss zwischen sechs und sieben Jahre alt sein, sagte er. … Ja, das passt. … Wie sieht es mit ihrem Gesundheitszustand aus? … Na, das ist ja wie ein Wunder.

… Ja in Ordnung ich werde sehen, was ich machen kann.

Ich rufe sie dann zurück.“

Sie hängte auf und wählte eine neue Nummer.

„Ja guten Abend, Sennten vom Sozialbüro, Kinderabteilung.

… Danke, gut, und dir? … Du, ich bräuchte mal deine Hilfe, ich habe ein Waisenkind, cirka sechs bis sieben Jahre, ist im Krankenhaus, aber da es nicht krank ist, na ja, du weißt ja. … Ja. … Nein. … Ja, wie gewöhnlich halt in solchen Fällen. … Ja, super, wann können wir sie abholen?

… Okay, ja, das ist fein. Flugzeugabsturz heute, beide Eltern sind gestorben …“

„Guten Tag, Sheriff Walton, von dem Flugzeugabsturz, der gestern reingekommen ist“, stellte der Sheriff sich an der Anmeldung im Krankenhaus vor.

„Wie ist der Name des Patienten?“

„Tut mir leid, ich weiß es nicht. Ein Mädchen, etwa sechs bis sieben Jahre alt. Müsste hier angekommen sein, gegen 23 Uhr.“

„Einen Augenblick, ich werde nachschauen. – Ich habe hier ein Mädchen, Tatjana, Familienname unbekannt, kann das sein?“

„Ja, das müsste sie dann sein, wenn sie gestern so um diese Zeit angekommen ist.“

„Sie ist in Zimmer 203, aber ich habe hier einen Vermerk, dass sie nur Englisch spricht, wenn sie verstanden werden will und nicht zu aufgeregt ist.“

Er ging zur Tür von Zimmer 203 und klopfte. „Herein“, antwortete Melanie.

Tatjana war inzwischen wieder aufgewacht und trank gerade einen Kakao.

Der Sheriff trat ein. „Hallo, Tatjana, wie geht es dir denn heute?“

Sie antwortete nicht.

„Schau mal, wen ich dir mitgebracht habe“, sagte er, den Delfin hervorholend.

„Ajana, kaseram dierast..., sprach sie mit dem Delfin, eine Weile alles vergessend.

Er wollte gerade wieder gehen, doch dann sagte sie:

„Danke.“

„Wie heißt denn der Kleine?“, fragte Zack.

„Ajana ist eine sie“, sagte sie entrüstet, öffnete einen Klettverschluss am Bauch und holte einen Babydelfin heraus. Das Delfinbaby zeigend sagte sie:, Und das Delphy.“

„Oh, es tut mir leid“, erwiderte er ihr entsprechen kindlich.

„Wir haben das gar nicht gesehen.“

„Das macht nichts, meine Mami hat es mir gezeigt, nach sechs Wochen, damit der Zuckernuckel vom Babydelfin nicht ganz kaputt ging, bevor ich ihn esse. Jetzt haben wir getauscht, ich habe seinen aufgegessen und er hat meinen.“

„Na das sieht mir nach einem ehrlichen Tausch aus“, sagte der Sheriff und Melanie fing an zu lachen.

„Okay, ich muss jetzt wieder gehen, aber wir sehen uns vielleicht noch einmal, bis dann, okay.“

„Danke.“

Um 14 Uhr kam die Mutter von Melanie mit ihrer Freundin, sie lebten in einer Wohngemeinschaft. Melanies Mutter sah aus wie ein Sonntagskind, an dessen Geburtstag alle Farbe ausverkauft war. Sie hatte lichtweißes Haar und auch die Haut gab kaum Zeichen von jeglichen Pigmenten. Die Freundin hingegen schien eine waschechte Indianerin zu sein. Beide hatten sie farbenfrohe Kleider an, die nach Art alter Traditionen verziert waren, mit dem Unterschied, dass die Verzierungen der Freundin nach Siouxtradition aussah und die der Mutter auf die Blumenkinderzeit zurückzuführen schien.

Als Melanies Mutter als erste eintrat, erschrak Tatjana, da sie einen Geist vermutete. Melanie sprang ihrer Mutter gleich um den Hals und begrüßte auch die Freundin. Dann stellte sie sie Tatjana vor, die Freundin als Jenny. In Tatjana war der Schreck noch deutlich zu erkennen und sie wandte auch nur die Indianerzeichensprache an, um sie zu begrüßen. Beide schienen die Begrüßung zu kennen, da sie beide auf dieselbe Weise antworteten. Tatjana beruhigte sich mit der Vermutung, dass Melanies Mutter noch in Sorge sein müsse um Melanie und deshalb jegliche Farbe verloren habe.

„Mam Tatjana hat beide Eltern verloren und nun soll sie in ein Heim, können wir sie nicht zu uns holen? Bitte! Sie ist zwar manchmal seltsam, aber echt lieb. Maaam.“

„Warum bin ich seltsam? Ich bin doch ganz normal.“

„Na ja, du sprichst komisch, und dann kann man kein Licht einschalten abends und, und du bist ein echter Hochofen im Schlaf.“

„Ich spreche doch nicht komisch, es ist doch nur meine Muttersprache und es tut mir nur weh in den Augen, wenn es plötzlich ganz hell wird.“

„Von wo kommst du denn?“, fragte Jenny.

„Aus Tarasa, Brasilien.“

„Tú hablar española?“, fragte Melanies Mutter.

„Sí“, antwortete Tatjana, sich das Lachen verkneifend über die Aussprache der Frage.

„Wir müssen erst einmal sehen, ob sie adoptiert werden darf jetzt, aber sie kann ruhig auf Besuch kommen“, meinte die Mutter zu Melanie.

Plötzlich klopfte es und Frau Sennten trat mit einer Heimerzieherin ein.

„Guten Tag, Tatjana wir sind ...“

„Nein,“ unterbrach sie Melanie und umklammerte Tatjana hart. „Sie kommt nicht mit Ihnen ins Heim, sie hat keinem etwas getan, sie kommt mit uns.“

„Ai“, kam es nur aus Tatjana, der Melanies starke Umklammerung wehtat.

„Die vier Frauen schauten sich verwundert an.“

„So einfach geht es aber nicht“, sagte nach ein paar Sekunden die Erzieherin, die Geld für das Heim verloren gehen sah.

„Platz hätten wir genug“, bestätigte Melanies Mutter ihre Tochter.

„Das ist doch nicht alles, was ein Kind braucht“, erwiderte die Erzieherin und zählte einiges auf.

Tatjana bekam Tränen in die Augen, nicht nur weil Melanies Umklammerung kein bisschen nachließ, auch weil sie die Möglichkeit sah, ein richtiges familiäres Leben zu haben. Selbst wenn sie sie noch nicht richtig kannte.

„Machen wir es doch so, vor Montag kann doch noch nichts entschieden werden. Im Heim würde es sich bis dahin um eine Notaufnahme handeln. Sollen wir es doch so machen.

Lassen wir Tatjana entscheiden, wo sie das Wochenende verbringen möchte, und egal, wo es ist, wird es nur als ein Besuch betrachtet. Allerdings, wenn Sie sie wirklich adoptieren möchten, müssten Sie Montag gleich Ihren Antrag stellen. Ich werde dann den Richter nach einer Verlängerung des vorläufigen Aufenthaltes fragen, bis über den Antrag auf Adoption entschieden ist. Da ist aber nichts versprochen.“ Das sagte Frau Sennten, die ein Herz für Kinder hatte, aber auch die momentane schlechte finanzielle Lage der Gemeinde im Gedanken hatte, und so war solches Angebot willkommen. Dann schauten alle auf Tatjana, die die ganze Zeit mehr verängstig schwieg.

Ein Doktor der eingetreten war, schien die ganze Angelegenheit zu verändern. „Wir haben ein leichtes Problem festgestellt bei Tatjanas Haut, welches es notwendig macht, dass sie Wasser hat und schwimmen kann. So habe ich gerade die Bestätigung bekommen, sie nur dort wohnen zu lassen, wo ein Swimmingpool ist oder ähnliches.“

„Oh nein, wir sind noch am Bauen“, erwiderte Melanie enttäuscht.

„Das Heim hat auch keinen Swimmingpool. Wie lange werden sie denn mit dem Bau noch brauchen?“, fragte Frau Sennten.

„Laut Anleitung müssen wir noch eine Woche warten, bis wir Wasser hineinlassen können“, erwiderte Jenny.

„Haben sie eine Badewanne?“, fragte der Doktor.

„Ja, eine supergroße“, antwortete Melanie voll Freude.

„Gut, wir hätten in der Zwischenzeit auch nichts anderes.

Aber stellen sie den Swimmingpool auch fertig.“

„Eigentlich bringen mein und ihr Mann gerade die letzte Farbschicht an“, antwortete Melanies Mutter.

„Nun dann, Tatjana, möchtest du es bei Melanie versuchen?“, fragte Frau Sennten.

Tatjana brauchte ein wenig Zeit, es ging alles sehr schnell, wie ein Kreuzfeuer von verschiedenen Leuten, die sie alle gar nicht kannte, aber alle Tatjana haben wollten. Dann kam ein verängstigt zögerndes, leises „Ja“.

Melanie tanzte vor Freude und begann dann, wie ein Wasserfall zu erzählen, wie es ihr gefallen wird.

„Melanie“, stoppte ihre Mutter sie nach einer Weile, „hol doch mal Luft.“

Sie schaute ihre Mutter bestürzt an, verstand aber doch, was sie meinte, und reagierte wie ein abgeschaltetes Tonband, das plötzlich ganz still war. Frau Sennten tauschte noch die Adresse mit Melanies Mutter aus und der Arzt bat, sie noch einen Augenblick alleine sprechen zu können. Es blieb nur noch Jenny im Krankenzimmer bei den beiden Mädchen und packte Melanies Sachen in eine Tragetasche. Als sie auch den Delfin einpacken wollte, riss Tatjana diesen schnell an sich und umklammerte ihn.

„Schau mal, wir fahren eine ganze Weile, so brauchst du ihn nicht die ganze Weile festzuhalten und ich lasse ihn auch herausschauen.“

„Es ist eine sie“, antwortete sie aufklärend und holte demonstrativ das Baby aus dem Bauch, gab aber beide nicht frei zum Einpacken.

„Na, das ist ja süß“, bemerkte Jenny und ließ vom Einpacken ab.

Dann kam Melanies Mutter und sie gingen zur Anmeldung um auszuchecken.

Plötzlich stoppte Tatjana. „Ich habe noch etwas vergessen“, sagte sie und rannte los.

„Warte ich komme mit“, rief Melanie, aber sie konnte nicht einmal um ein Haar Tatjanas Tempo halten. Sie blieb außer Atem verwundert am Gangende stehen. Melanie war die Beste im Athletikschulklub beim Spurten.

Wieder an der Anmeldung zurück sagte sie: „Mam, hast du das gesehen, die läuft ja wie ein Blitz.“

„Ja, wenn sie in den Schulklub kommt, bist du nicht mehr die Beste“, erwiderte ihre Mutter.

„Dann ist sie meine Schwester.“

Es machte ihr nichts aus, wenn Freunde oder ihr Bruder in etwas besser waren als sie, auch wenn sie diesen Platz abgeben musste, sie hatte einen Sportsgeist und war nicht fanatisch. So hatte sie nicht einmal daran gedacht, dass Tatjana jünger war und nie gegen sie antreten würde.

Tatjana stoppte vor einem Zimmer und klopfte. Es antwortete keiner und sie klopfte etwas stärker.

„Wen suchst du denn; Kleine“, fragte eine Schwester.

„Einen alten Indianer, er hat gesagt, dass dies sein Zimmer ist.“

Die Schwester kam auf Tatjana zu und hockte sich ganz ruhig vor ihr hin. „So, dann bist du das nette Mädchen, welches er heute früh in der Gaststätte getroffen hat.“

„Hmm“, antwortet sie ängstlich kopfnickend.

„Er ist eingeschlafen, als er so glücklich von dir geredet hat.

Er lässt mich das hier dir geben.“

Sie holte ein Amulett aus der Tasche und hängte es ihr um, es war ein Bär mit einer echten eingearbeiteten Kralle.

„Und ich weiß nicht, was es heißt, aber ich soll dir das ausrichten ...“ Sie wiederholte etwas in Apachensprache.

Weinend sagte Tatjana: „Soll es dir dieselbe Kraft geben wie mir.“

„Na, dann wirst du wohl wirklich Kraft bekommen, er war einhundertneun Jahre alt. – Und er sagte Tochter.“

„Nun ja, seine Familie kam nicht mehr. – Kann ich dich irgendwo hinbringen?“

„Ich weiß nicht mehr, wo der Ausgang ist“, sagte sie immer noch leise weinend. Die Schwester nahm vorsichtig ihre rechte Hand und ging mit ihr ruhig zur Anmeldung.

Sie schon von Weitem sehend sagte Melanie: „Mam, sie weint ja.“

„Oh nein, sie wird es nicht gefunden haben“, erwiderte ihre Mutter.

Als sie bei der Anmeldung ankamen, sagte die Schwester:

„Es tut mir leid, ihr Freund von heute Morgen ist gestorben.“

Melanie nahm sie in den Arm, sagte aber nichts, hielt sie nur fest, so leicht und sanft sie nur konnte, wie Tau, der sie zauberhaft bedecken sollte. Nach einer Weile, ihren Arm um die Schultern der Mädchen legend, schob ihre Mutter beide behutsam zum Ausgang. Melanie öffnete die Umarmung auf der linken Seite um besser laufen zu können, ihrer Mutter die linke Seite freigebend.

Sie gingen auf einen Mercedesbus zu, aus den 70ger Jahren.

Seine hellblaue Farbe und die gelben, weißen und pinkfarbenen Blumen schienen das Blumenkinder-Image zu vervollständigen. Nur die getönten Seitenfenster und die Tatsache, dass der Bus keine einzige Beule oder Schramme aufwies und total sauber war, zeugten vom 21. Jahrhundert.

An der linken, rechten und hinteren Tür stand „Blumenkinder - sagen sie es mit Blumen 800-32 ...“

Als Jenny den Bus öffnete, machte Tatjana doch große Augen. Der Bus war mit feinem weißem Fell ausgepolstert.

Hinten waren zwei sich gegenüberstehende schwarze, ledersofaartige Bänke, bei denen nur die Gurte an ein Auto erinnerten. In der Mitte war ein Tisch, der in der Höhe teleskopartig verstellbar war, von den beiden aber nur bei langsamem gleichmäßigem Zug an den Gurten erreichbar war und bei einem frontalen oder von hinten kommenden Aufprall in den Teleskopbeinen absackte. Auf dem Tisch waren zwei Becherhalter magnetisch aufgelegt.

Melanie öffnete einen Seitenhängeschrank und holte einen Gameboy heraus. „Möchtest du auch einen“, fragte sie und hielt ihr zehn zur Auswahl hin.

„Was ist das?“

„Wie, hast du noch keinen Gameboy gesehen.“

„Nein.“

„Das glaube ich dir nicht, die kennt doch jeder.“

„Ich lüge nicht“, antwortete sie beinahe weinend.

„Melanie“, kam es von der Mutter, „was ist dabei so schlimm, zeige es ihr doch einfach. – Tatjana, wenn du noch ein Kissen möchtest, es sind welche in der Bank. Lass dir einfach von Melanie zeigen, wie sie aufgehen. Aber nur die bunten Kissen, nicht die vom Bett, ja, Melanie.“

„Ja, Mam, ich weiß. – Möchtest du noch ein Kissen?“

„Nein. Danke, ist schon gut so.“

Jenny kontrollierte den Gurt bei Tatjana und stieg vorne als Beifahrerin ein.

Sie fuhren los, im Radio ertönte eine Kassette mit Bruce Springsteen.

Nach einer Weile nahmen die beiden ein gleiches Rennautospiel und veranstalteten ein Rennen, welches beide beinahe abwechselnd gewannen oder verloren.

„Das ist wie im Computer, nur etwas zu klein, um richtig zu reagieren“, sagte nach einer Weile Tatjana.

„Na, das sage mal Mike, meinen Bruder, der heiratet später einen Computer.“

„Wieso heiraten, die leben doch gar nicht.“

„Das sagt man so. Er ist – wenn er nicht in der Schule ist, isst, schläft oder andere unausweichliche Dinge tut – vor seinem Computer.“

„Na ja, heute streicht Mike mit deinem Vater den Swimmingpool“, warf ihre Mutter ein.

„Na sage ich doch, Mam‚ unausweichliche Dinge tut’.“

Die drei lachten, wussten sie doch, wie Recht sie eigentlich hatte. Nach einer Weile Fahrt auf der Autobahn begannen die Mädchen zu schlafen und Jenny drehte die Musik leiser.

„Sie scheint recht aufgeweckt zu sein“, meinte Jenny.

„Wer, Melanie war doch nie richtig still.“

„Nein, ja. Nein, ich meine Tatjana.“

„Ja, aber etwas primitiv, als wenn sie sonst wo herkommt, ich meine, selbst im Osten oder ärmsten Ländern kennen sie - zumindest die Kinder - Gameboys, selbst wenn sie nie einen eigenen haben können - und hast du ihre Augen gesehen, als sie ins Auto schaute.“

„Na ja, du kannst nicht gerade behaupten, dass wir eine originelle Innenausstattung haben.“ Die Mutter schaute Jenny an und beide grinsten.

„Nnnajjja vielleicht dies nicht aber, trotzdem tut sie etwas sehr stark weltfremd.“

Sie fuhren auf einer Landstraße. Als sie eine Stadt passierten, bogen sie in eine Waldstraße. Plötzlich bremsten sie ganz hart und ein knallendes Geräusch bestätigte das Sicherheitssystem des Tisches, dessen Beine verschwunden zu sein schienen. Tatjana weinte vor Schreck, doch die beiden Frauen schrieen auf und begannen zu zittern wie Espenlaub, welchem Melanie folgte, als sie aus dem Fenster schaute. Vor dem Auto war ein drei Meter hoher schwarzer Panterschatten, dessen Augen leuchteten wie kleine grüne Flammen und außerhalb des Autos das Einzige zu sein schien, was sich bewegte. Tatjana winkte zum Panterschatten, als würde sie ihn kennen und sich freuen, dass er dort sei. Dieser setzte sich daraufhin vor dem Auto nieder.

Sie öffnete ein Fenster, was von einem einstimmigen „No“-Schrei gefolgt wurde.

„Klaschdraja kana!“, rief sie mit dem Kopf aus dem Fenster.

Der Panter löste sich auf und nichts blieb, um auch nur den kleinsten Beweis zu geben, dass das, was sie gesehen hatten, wirklich geschehen war.

Tatjana lehnte sich über die Bank nach vorn und flüsterte:

„Danke – aber jetzt können wir weiter fahren.“

Melanies Mutter schluckte und nach ein paar Sekunden fuhr sie dann weiter. Doch sie fuhr so langsam, als müsste sie jeder Zeit wieder bremsen für ein nachfolgendes Rudel.

„Dauert es noch lange, ich habe Hunger?“, fragte Tatjana vorsichtig, entschuldigend.

Die Mutter holte tief Luft, was Tatjana ängstigte. Aber sie versuchte sich nur von dem Schreck zu erholen, um ihr eine Antwort geben zu können. Dann fragte sie nur: „Du, hast du keine Angst gehabt?“

Sie schaute Melanies Mutter mit großen Augen an. „Das war doch nur ein Baby und außerdem hatte sie doch grüne Augen.“

Die anderen drei schauten sich verwundert an, dann stoppte die Mutter plötzlich, was den Tisch beinahe wieder zusammenfahren ließ.

„Stopp, warte mal, wenn das nur ein Baby war, wo ist dann die Mutter?“, fragte sie so hastig, dass sie es wiederholen musste, damit Tatjana dem Englisch folgen konnte.

„Ich weiß nicht“, antwortet Tatjana unschuldig und mit einem Ton, als wenn sie sich entschuldigen wollte, dass sie nicht wusste, dass man eventuell auf sie hätte warten müssen, ehe man weiter fuhr.

Dann plötzlich sagte Melanie, zu Beginn lachend und am Ende weinend: „Wir erschrecken uns hier zu Tode und sie tut, als ob sie so einen jeden Tag, beim über die Strasse gehen trifft.“

Tatjana wollte sie in den Arm nehmen um sie zu trösten, stoppte aber plötzlich, als sie sah, dass Melanies Jeans vollkommen nass waren und legte ihre Arme nur um Melanies Schulter.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, flüsterte sie leise.

„Ich habe solch eine Angst gehabt, ich - ich habe mir sogar in die Hose ...“

Tatjana hielt ihr einen Finger auf den Mund, zog ihn wieder ein, gab ihn einen Kuss und legte ihn wieder auf Melanies Mund. Die Mutter drehte sich um und schaute zu Melanie, stieg dann aus und kramte in Melanies Koffer. Sie reichte ihr ihre Pyjamahose, holte aus einer Box eine Wasserflasche und aus einem anderen Fach eine Rolle Tischservietten und eine Plastiktüte heraus. Durch die Bäume des Waldes war es schon dämmrig, so dass sie im Auto Licht einschaltete, damit Melanie sehen konnte. Tatjanas Kopf war auf ihre Knie in den Armen eingegraben. Sie hockte sich draußen wartend gegen das Auto, aber weil die Tür geöffnet blieb, hörte man auch im Auto ihr leises Weinen. Jenny stieg aus und hockte sich neben Tatjana, sagte aber eine kleine Weile nichts, sondern legte nur ihren Arm um Tatjanas Schultern und zog sie sanft an sich.

Dann begann sie doch: „Es ist vorbei, und in cirka zehn bis zwanzig Minuten sind wir zu Hause.“

„Ich wollte ihr keine Angst machen, ich habe das wirklich nicht gewollt.“ Sie sprach ohne den Kopf anzuheben.

„Aber das war doch nicht deine Schuld, das war doch dieser Katzengeist oder was man auch immer dazu sagen sollte. – Der hat uns einen mächtigen Schreck eingejagt.“

„Alle haben sie Angst, aber ich kann doch nichts dafür und, und ich, ich habe doch keinem etwas getan.“