Für Cassie, Barney, Hobbs, Jubilee, Bonkers,
Sebastian, Hermes und Patches:
Sie haben mir den Weg gezeigt.
Und vielen Dank an alle, die mit mir die vielen Trailkilometer zurückgelegt haben: an David Nakashima, Jeff Harber, Richard Schwarz, Karen Cruz, Kathleen Bortolussi, Robert Josephs und vor allem an meinen großartigen Freund Rob Mann.
Allgemeiner Hinweis:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform zu nutzen, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.
Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.
Originaltitel
The Tao of Running
© 2016 by Meyer & Meyer Sport (UK) Ltd.
Übersetzung: Kristina Mundt, www.kristinamundt.de
Das Tao des Laufens
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
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© 2017 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen
Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien
Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)
eISBN 978-3-8403-3664-5
E-Mail: verlag@m-m-sports.com
www.dersportverlag.de
Prolog
Absprung
Kapitel 1
Was ist so besonders am Laufen?
Kapitel 2
Stolpern
Kapitel 3
Die Dekonstruktion von Rocky Balboa
Kapitel 4
Die Jagd nach Leadville
Kapitel 5
Denken Sie positiv
Kapitel 6
Laufen und Achtsamkeit
Kapitel 7
Der große (Rück-)Schlag
Kapitel 8
Das innere Trailmonster rauslassen
Kapitel 9
Die Weisheit der Entspannung
Kapitel 10
Wieder Leadville
Kapitel 11
Laufen als existenzielle Erfahrung
Kapitel 12
Zur Musik werden
Kapitel 13
Lauffreundschaften
Kapitel 14
Nicht das Nicht-Selbst finden
Kapitel 15
Jung- und Gesundbrunnen
Kapitel 16
Einhundert Meilen
Kapitel 17
Aufgeben
Epilog
Landung
Bildnachweis
„Ein guter Reisender hat keine festen Pläne und ist nicht darauf erpicht, anzukommen.“
Laotse, Tao Te King
Stellen Sie sich einmal vor, Sie nehmen einen Stuhl vom Esstisch und stellen ihn mitten ins Wohnzimmer. Ziehen Sie nun die Schuhe aus und stellen Sie sich auf den Stuhl. Halten Sie das Gleichgewicht. Springen Sie jetzt vom Stuhl auf den Teppich. Falls Sie auf einem Holzboden landen, beugen Sie die Knie ein bisschen stärker, um den Stoß abzufangen.
Das war nicht so schwer, oder? Sie mussten nicht großartig darüber nachdenken. Sie waren nicht emotional involviert. Der Sprung hat keine Hingabe erfordert. Sie mussten nicht viel Leidenschaft aufbringen. Sicherlich hat er nicht Ihr Leben verändert, aber falls jemand Sie dabei beobachtet hat, hat er Sie vielleicht etwas verwundert angesehen.
Stellen Sie sich jetzt einen zweiten Sprung vor, aber diesmal von einer Plattform auf einer Brücke, die eine tiefe Schlucht überspannt, durch die ein Fluss fließt. Sie werden Bungee-Jumping machen. Sie stehen dort und warten gebannt. Sie spüren den Wind im Gesicht. Sie spüren den Herzschlag in Ihrer Brust. Die grelle Sonne scheint auf Sie herab. Die Schlucht unter Ihnen ist gigantisch. All Ihre Sinne sind geschärft. Sie können Streifen weißen Wassers auf der Oberfläche des blauen Flusses ausmachen, der weit unten dahinbraust. Es ist, als würden Sie ihn durch ein Teleskop betrachten. Die Autos, die hinter Ihnen über die Brücke donnern, klingen wie rasende Lokomotiven. Sie riechen ihre Abgase.
Jetzt spüren Sie, wie das Gurtzeug festgezogen wird und die Karabiner eingehakt werden. Nun zählt nur noch eins: Ihre intensive und absolute Hingabe zum Sprung. Es ist, als wäre in Ihrem Leben vorher noch nie etwas passiert und als würde auch in Zukunft nichts mehr geschehen. Jetzt ist alles gut. Sie beschwören Ihre ganze Leidenschaft herauf, hören den Countdown, spüren, wie die Emotionen Sie überkommen, lassen sich dann von der Plattform fallen und sind ganz in dem Moment. Sie lassen das Leben, das Sie vor dem Bungee-Sprung hatten, hinter sich und beginnen ein neues Leben, das Leben nach dem Bungee-Sprung.
Genau das ist der Punkt: Die Lauferfahrungen, die Sie derzeit haben, sind wie der Sprung vom Stuhl im Wohnzimmer. Die Lauferfahrungen, die Sie haben werden, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, werden wie der Bungee-Sprung sein. Sie werden lernen, wie Sie über Laufen denken sollten, und Sie werden lernen, all die reichen Möglichkeiten zu schätzen, die Ihnen das Laufen eröffnet.
Es spielt gar keine Rolle, was für ein Läufer Sie sind – ob ein Gelegenheitsjogger, ein guter 10-km-Wettkampfläufer, ein Trailläufer, ein Schlammläufer, ein mehrfacher Marathonfinisher, ein Hindernisläufer oder ein Ultraläufer –, jedermanns Lauferfahrung wird sich verändern und verbessern. Sie werden lernen, Leidenschaft, Emotionen und vollkommene Hingabe in das Laufen zu stecken. Sie werden lernen, ganz im Moment zu sein, im Hier und Jetzt zu leben, mit dem Tao zu laufen.
Laufen ist mehr als die Summe seiner Bestandteile. Die physische Seite ist ziemlich eindeutig, aber die psychologische, emotionale und philosophische Dimension ist weniger offensichtlich. Dieses Buch wird Ihr Verständnis dieser Aspekte des Laufens vertiefen, Ihnen zeigen, inwiefern Laufen mit Ihren allgemeineren Leidenschaften und Zielen verbunden ist und wie Laufen Ihnen dabei helfen kann, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Sie werden motiviert sein, zu laufen, Sie werden versessen darauf sein, zu laufen, und bereit, das Laufen zu nutzen, um Ihr Leben zu verändern.
Auf diesen Seiten werden Sie die Verbindungen zwischen Laufen und Achtsamkeit, einer positiven Einstellung, Entspannung, der Philosophie des Existenzialismus, dem Konzept des Tao, den naturalistischen Elementen des Buddhismus und anderen Bereichen des Lebens, wie Freundschaften, erkunden. Jede neue Perspektive wird Ihnen die Augen öffnen für die reichen Möglichkeiten der Selbstentwicklung und des Bewusstseins Ihrer selbst, die Laufen bietet. Sie werden neue Arten kennenlernen, über Ziele nachzudenken und darüber, was beim Prozess der Zielsetzung und Zielerreichung wirklich wichtig ist. Sie werden lernen, mit den besonderen Anforderungen eines Wettkampfs umzugehen. Sie werden sehen, inwiefern die Freundschaften, die Sie beim Laufen schließen, einzigartig sind. Sie werden die besonderen Vorteile von Trailrunning entdecken und lernen, ein „Trailmonster“ zu werden. Sie werden sehen, dass Laufen für viele ein wahrer Gesund- und Jungbrunnen ist.
Wenn Laufen Sie mittlerweile langweilt oder sich wie zusätzliche Arbeit anfühlt, wird Ihnen dieses Buch helfen, einen Schritt zurückzugehen und Laufen aus einem ganz neuen Blickwinkel zu betrachten. Wenn Sie jemals während eines Workouts plötzlich nachgelassen haben, den Willen verloren haben, bei einem Marathon eingebrochen oder sogar aus einem Rennen ausgestiegen sind, wird Ihnen dieses Buch so viele Möglichkeiten aufzeigen, wie Sie Ihr Programm durchziehen können, wenn es einmal hart wird, dass es von Ihrem Problem abhängt, welche Sie nutzen.
Vergessen Sie den Esstischstuhl. Gehen Sie raus aus dem Wohnzimmer und vor die Tür. Gehen Sie in die Sonne, spüren Sie den Wind im Gesicht, beschwören Sie Ihre Leidenschaft herauf. Lassen Sie sich dann nicht einfach nur von der Plattform fallen, sondern springen Sie in die klare Luft.
Ein traditionelles Thema chinesischer Gemälde sind die drei Essigkoster. Eine Interpretation dieses Themas besteht darin, dass die drei Koster die drei großen chinesischen Religionen repräsentieren: Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus. Der konfuzianistische Koster reagiert mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck auf den Essig, was darauf hindeuten kann, dass seine Philosophie das Leben als sauer empfindet, weil die Gegenwart nicht im Einklang mit der Vergangenheit ist. Der Buddhist reagiert mit einem bitteren Gesichtsausdruck, denn das Leben ist laut seiner Philosophie voller Schmerz und Leid und damit bitter. Aber der Taoist kostet den Essig und macht eine süßliche Miene. Süßlich?
Für den Taoisten spielt der Geschmack des Essigs keine Rolle. Der Taoist erkennt, dass der Essig einfach Essig ist; er bleibt seinem Wesen in der natürlichen Ordnung der Dinge treu, was für den Taoisten gut ist. Dadurch, dass der Taoist den Essig so wahrnimmt, wie er ist, und ihn nicht bewertet, erkennt er selbst das fließende und harmonische Universum an, von dem der Taoismus ausgeht, und nimmt daran teil.
Eines der wichtigsten Ziele des Taoisten ist es, mit seiner Herangehensweise an alle Dinge und mit seinem Handeln in diesen harmonischen Fluss hineinzupassen. Der Taoist schätzt auf besondere Weise alles, was im Leben passiert, lernt daraus und arbeitet damit. Jede Situation, mit der man konfrontiert wird, wie Essigkosten, kann unangenehm sein oder einen Konflikt oder eine beunruhigende Veränderung beinhalten, aber der Taoist begegnet dem Leben mit Akzeptanz und erkennt, gleichgültig, in welcher Situation er sich befindet: Das ist das Leben, wie es nun einmal spielt, und Dinge verändern und entwickeln sich.
Lassen Sie uns nun anstatt der Essigkoster an zwei Läufer denken. Sie laufen denselben Weg durch einen Park und legen dieselbe Strecke zurück, aber wie sie den Lauf erleben, wie sie ihn wahrnehmen und wie sie zu ihm eingestellt sind, kann sich sehr stark unterscheiden. Wie der konfuzianistische oder buddhistische Koster empfindet ein Läufer den Lauf vielleicht als stressig oder unangenehm – das heißt sauer oder bitter – und beendet ihn, ohne ihn wertzuschätzen. Der andere Läufer geht vielleicht taoistisch an den Lauf heran, akzeptiert ihn so, wie er ist, sieht ihn ganz klar, lernt daraus, entdeckt vielleicht eine neue Seite daran, die er zuvor nicht kannte oder nicht zu schätzen wusste, und ist versunken in das Lauferlebnis. In diesem Buch werden wir den taoistischen Ansatz verfolgen. Wir werden Methoden beleuchten, wie man Laufen klar sehen, die Essenz des Laufens entdecken und sich dem Lauferlebnis hingeben kann. Wir werden uns auf die Suche nach dem Tao des Laufens begeben.
Was ist überhaupt so besonders am Laufen? Wir gehen ein bisschen joggen, bewegen uns ein bisschen, und es wird langsam zur Gewohnheit. Jeden Tag laufen wir ein Stückchen weiter. Unsere Ziele verändern sich. Ein Kilometer kommt uns plötzlich lächerlich vor, und wir gehen an unsere Leistungsgrenze. Schon bald trainieren wir bewusst und bereiten uns auf ein Rennen vor. Das Training wird zielgerichteter. Die Zeit, die wir pro Kilometer brauchen, wird immer kürzer, weil wir schneller und kräftiger werden. Laufen ist jetzt eine feste Gewohnheit. Wir ziehen auf der Bahn unsere Kreise, machen uns auf die Jagd nach Sekunden, halten Zwischenzeiten ganz genau ein.
Wir laufen immer mehr Intervalle und absolvieren immer mehr Trainingseinheiten, haben beim 5- oder 10-km-Rennen jedoch plötzlich Probleme, das Tempo zu halten. Die mittleren Kilometer stellen unseren Charakter auf die Probe, der letzte unsere Willenskraft, unseren Biss und unseren Mut. Wieder verändern sich unsere Ziele, und wir machen uns an die längeren Strecken. Jede Woche sammeln wir Kilometer, jedes Wochenende dehnen wir die langen Läufe aus. Schließlich stellen wir uns in den großen Städten mit tausenden anderen an die Startlinie, und das Ziel ist weit entfernt – 42 km weit. Der Startschuss ertönt, und wir beginnen mit einem Übergangsritus, einer Sache, die auf der Liste der Dinge steht, die wir vor unserem Tod gemacht haben wollen, einer Reise, die uns weit über die Straßen und tief in unser Inneres führen wird.
Der Schmerz gegen Ende des Marathons gleicht einem Feuer: Er brennt heftig, hat aber eine reinigende Wirkung. In letzter Sekunde entkommen wir den Flammen, überqueren die Ziellinie und werden nach der Rückkehr von einer Reise in unser tiefstes Inneres wiedergeboren in unser Leben. Aber nach der Rückkehr sind wir nicht mehr dieselben.
Wir wollten doch einfach nur ein bisschen joggen gehen, aber eins führte zum anderen, ein Lauf führte zum nächsten, und jetzt hat das Laufen sich in unser Wesen eingeschlichen, und wir sind Läufer: Wenn wir darüber nachdenken, sind wir wohl auch dazu bestimmt.
In den Vereinigten Staaten wurde Laufen in den frühen 1970er-Jahren ein Massenphänomen, inspiriert von dem Amerikaner Frank Shorter, der 1972 bei den Olympischen Spielen in München den Marathon gewann. Was für bemerkenswerte Olympische Spiele das waren! Damals war Deutschland zum ersten Mal seit den berüchtigten Spielen von 1936 in Berlin wieder Gastgeber der Sommerspiele. Die TV-Berichterstattung hatte sich bis 1972 verbessert und mehr Menschen hatten Zugang dazu, sodass sie ihrer Leidenschaft für die Spiele frönen konnten. Die Menschen in den Vereinigten Staaten hatten die olympischen Ideale schon immer geliebt: den friedlichen Wettbewerb, das Streben nach Spitzenleistungen und den Sieg eines einzelnen Sportlers über Gegner aus der ganzen Welt. Und die Spiele kamen nun direkt in unsere Wohnzimmer.
In der zweiten Woche der Spiele stellten palästinensische Terroristen jedoch alles auf den Kopf, als sie die riesige olympische Bühne nutzten, um ihre Klagen vorzubringen und israelische Sportler zu töten. Ein Foto eines der maskierten Terroristen auf dem Balkon im olympischen Dorf wird allen mit Schrecken für immer im Gedächtnis bleiben. Dann trafen das Olympische Komitee, die deutschen Beamten, die israelische Regierung und die Sportler die mutige Entscheidung, die Wettbewerbe fortzusetzen, und so wurde der Weg für den Marathonlauf freigemacht.
Die Amerikaner verfolgten per Live-Satellitenübertragung aus München, wie die Läufer eine Runde im Stadion absolvierten, was zunächst wie ein unspektakulärer Leichtathletikwettbewerb aussah. Aber plötzlich folgten die Läufer den Absperrungen in einen großen Tunnel, der sie aus dem Stadion heraus auf Münchens Straßen führte. Wir waren es gewohnt, dass olympische Wettbewerbe in Stadien, Arenen, riesigen Schwimm- oder Turnhallen ausgetragen wurden. Es war erstaunlich, die Marathonläufer auf den Straßen und Bürgersteigen zu sehen. Menschen gingen vorbei, Autos fuhren vorbei und das Leben ging weiter, als fände nicht direkt vor ihrer Nase ein wichtiger olympischer Wettbewerb statt.
Shorter lag zu Beginn des Rennens hinter den Führenden etwa auf Platz 10. An diesem Tag erwartete niemand etwas Besonderes von ihm, aber bei km 15 zeigte er Mut, stürmte ganz nach vorn und riss eine große Lücke. Als niemand ihm folgte, sagte er sich: „Die anderen machen gerade einen großen Fehler.“
Shorter wurde nicht langsamer. In einem weißen Renntrikot, blauen Shorts und mit der Startnummer 1014 direkt unter dem Schriftzug „USA“ auf seinem Trikot lief der schnauzbärtige Shorter den Rest der Strecke allein vorneweg. Die Läufer hinter ihm verkrampften, beugten sich zur Seite, um die furchtbaren Krämpfe loszuwerden, oder brachen zusammen, doch Shorter lief unbeeindruckt weiter. Sein Schritt war stark, er lief aufrecht und sah beinahe entspannt aus. Seine Miene war ausdruckslos.
Zu Hause konnten die Amerikaner kaum glauben, was sie da sahen. Das war ein Marathon, das Fachgebiet wahrer Fanatiker und olympischer Götter, eine Distanz, die sich die meisten Zuschauer kaum vorstellen konnten, die fünf Meilen schon für einen extrem langen Lauf gehalten hätten. Aber hier war ein Amerikaner auf dem Weg zum Sieg, wirkte dabei entspannt und machte Hackfleisch aus seinen Gegnern. Wie unvergleichlich, unsagbar cool war das denn?
Am Ende des Rennens schmuggelte sich ein Witzbold im Laufoutfit durch die Absperrungen und lief im Stadion auf der Bahn, als Shorter dort ankam. Die Zuschauer buhten, weil sie gemerkt hatten, dass es sich um einen Streich handelte, und Shorter fragte sich, was da los war. Jim McKay und der andere amerikanische Kommentator waren außer sich. McKay behauptete, Shorter sei verwirrt. „Er weiß nicht, was er tun soll“, sagte er. Der andere Kommentator, Erich Segal, sprach, als könnte Shorter ihn hören: „Frank, du hast gewonnen … das ist nur ein Hochstapler, Frank.“ Aber Shorter sagte später, er habe den anderen Läufer nicht einmal wahrgenommen. Er hatte sich nicht gefragt, ob er gewonnen hatte, sondern warum die Zuschauer buhten und nicht jubelten.
Zu Hause in den Vereinigten Staaten hatte Shorter Begeisterung entfacht. Die Samen des Laufbooms waren überall im Land verstreut worden. Laufen war plötzlich ganz „in“ – zu einer Zeit, als „In-Sein“ ganz „in“ war.
Die Menschen strömten in Scharen auf die Straßen. Man brauchte keinen Leichtathletikverein. Man brauchte kein stinkendes Liniment (Einreibemittel). Man musste keine Runden auf dem Sportplatz drehen. Man konnte einfach nach draußen gehen und auf der Straße laufen. Die verstaubten Laufverbände und regionalen Komitees, die Laufwettbewerbe veranstalteten und sich hauptsächlich auf die sehr leistungsorientierten Läufer konzentrierten, machten Platz für Organisationen, die jedem offenstanden. Laufvereine wurden gegründet. Überall wurden Rennen veranstaltet. Frauen durften am Boston-Marathon teilnehmen. Schuh- und Bekleidungshersteller sprangen auf den Zug auf. Frank Shorter wurde einer von vielen Helden, darunter Bill Rodgers, Alberto Salazar, Steve Prefontaine, Jim Ryun, Mary Decker und Grete Waitz. 1984 tat Joan Benoit es Shorter in Los Angeles gleich, als sie mit einem Start-Ziel-Sieg den ersten olympischen Marathon der Frauen gewann.
Das unglaubliche Interesse am Laufen und der Wissendurst wurde 1977 offensichtlich, als Jim Fixx Das komplette Buch vom Laufen veröffentlichte. Damals war es der führende Bestseller unter den Hardcover-Sachbüchern auf dem Markt. Auf dem knallroten Buchcover sah man eine Nahaufnahme von Fixx’ Beinen. Jeder Muskel, jede Sehne und jedes Band waren klar definiert. Die Beine sprossen aus einer roten Laufhose, und das Bild wurde durch klassische, rot-weiß gestreifte Onitsuka-Tiger-Laufschuhe abgerundet.
Schon auf Seite 1 stürzte Fixx sich ins Thema. Er hatte nicht vor, seinen Lesern zu helfen, ein paar Pfunde loszuwerden oder ihnen eine tolle Fitnesstechnik vorzustellen. Nein – Jim Fixx wollte ihr Leben verändern, dramatisch sogar, sollten sie regelmäßig laufen. Fixx bekehrte die Menschen zum Laufen. Er hielt Laufen für ein magisches Elixier, einen Jungbrunnen, den Schlüssel zu physischer und mentaler Gesundheit. 1977 war diese Botschaft für Menschen neu. Natürlich hatte man Laufen immer als gutes Training angesehen. Angeblich liefen US-Marines täglich fünf Meilen. Aber man hatte nicht angenommen, dass Laufen das Leben verändern würde. Was genau hatte Fixx wohl genommen?
Aus heutiger Sicht, über 40 Jahre, nachdem Laufen ein Massensport wurde, können wir sehen, dass Fixx gar nichts genommen hatte. Ganz im Gegenteil, er hatte recht. Laufen hat sich durchgesetzt. Der Laufboom ist ein Dauerbrenner!
Laufen und Joggen wurden die Standardsportarten von Millionen von Menschen, und die steigende Anzahl von Laufwettbewerben spiegelte die steigende Nachfrage wider. Nicht nur Rennen über kürzere Distanzen nahmen stark zu, sondern es gibt mittlerweile auch zahlreiche Marathons, die meisten von ihnen Großveranstaltungen in Städten, die zehntausende Teilnehmer anziehen und für viele eine Lifestyle-Subkultur bedeuten. Vereine werden gegründet, um eine Mitgliedschaft zu erleichtern, und Mitglieder nehmen an Spitzenmarathon-wettbewerben auf der ganzen Welt teil. Abgesehen von den sehr populären Marathons bewegen sich Millionen von Menschen auch abseits der Straßen und betreiben Trailrunning, weshalb auch Trailläufe heutzutage gang und gäbe sind, und es mangelt auch nicht an Läufern, die sich an die extremeren Distanzen von Ultraläufen wagen. Sogar für 100-Meilen-Rennen melden sich so viele Menschen an, dass das Starterfeld ausgelost wird. Kurz gesagt, der Laufboom hat sich nicht nur im Laufe der Zeit nicht verflüchtigt, sondern er ist noch stärker geworden und hat neue Formate hervorgebracht, um die große Nachfrage nach dem Sport zu befriedigen.
Im Allgemeinen können andere Sportarten nicht von sich behaupten, ähnlich dauerhaft populär zu sein. Bei denselben Sommerspielen 1972, bei denen Shorter den Marathon gewann, dominierte der amerikanische Schwimmer Mark Spitz im Becken und gewann sieben Goldmedaillen in beeindruckend unterschiedlichen Disziplinen. Aber wo war der anhaltende, weitverbreitete Schwimmboom? Greg LeMond gewann dreimal die Tour de France, eine für einen Amerikaner einmalige Leistung, aber auch wenn das Interesse an Straßenrennen stieg, gab es keinen dauerhaften Rennradboom. Nadia Comăneci und ihre Höchstnote 10,0 bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal lösten ein enormes Interesse am Turnen aus und inspirierten viele, mit dem Turnen anzufangen, aber die Bewegung war nicht von langer Dauer. In Amerika gilt dasselbe für Fußball, Mountainbiken, Skifahren, Wandern, Golf und Surfen. Das Interesse an diesen Aktivitäten steigt und sinkt. Viele Menschen betreiben diese Sportarten gerne, und die Sportarten geben ihnen viel, aber im Vergleich zur Entwicklung des Laufens verblassen sie.
Aber was ist so besonders am Laufen? Warum reizt es so viele Menschen? Warum entfacht es so viel Leidenschaft und Hingabe? Warum haben sich so viele beispielsweise das Ziel gesetzt, zumindest einmal im Leben einen Marathon zu laufen?
Auf die Evolution bezogen, verdeutlicht Laufen in vielerlei Hinsicht, wer wir sind. Unsere Körper verfügen über viele Anpassungen, die es uns nicht nur ermöglichen, aufrecht auf zwei Beinen zu gehen, sondern auch speziell lange Strecken zu laufen. Wir haben Sehnen, Bänder und Muskeln, die sich wie elastische Federn verhalten, kurz Energie speichern, sie wieder freisetzen und uns effizient nach vorn katapultieren, wenn wir laufen. Unsere Muskeln stecken voller ermüdungsbeständiger, langsam zuckender Muskelfasern. Große Gelenkflächen verteilen die Stöße und die Kraft, die auf die Gelenke wirkt, wenn wir auf den Boden treten. Die Fußgewölbe und die markanten Achillessehnen sind spezialisierte Merkmale, die unsere Lauffähigkeit verbessern. Unser großer M. glutaeus maximus sorgt für Stabilität. All diese Anpassungen wären nicht erforderlich, um einfach nur aufrecht gehen zu können. Zusammen mit einigen anderen Anpassungen machen sie uns zu Langstreckenlaufchampions im Tierreich.
Unseren Australopithecus-Vorfahren fehlten die meisten dieser speziellen Merkmale. Auf dem Weg zum Homo erectus wurde Laufen offenbar ein wichtiger Überlebensfaktor, und, laut der Ausdauerlaufhypothese, entwickelte sich der menschliche Körper sehr schnell, um seine Fähigkeit, länger als andere Tiere laufen zu können, zu maximieren. Wichtige Teile dieser Entwicklung waren die verbesserte Fähigkeit, Wärme abzugeben sowie Energie zu speichern und zu nutzen. Bei Hitze kühlt uns das Schwitzen über lange Zeiträume hinweg. Die Tiere, die wir jagen, können hingegen nur kurzfristig kühl bleiben, indem sie hecheln, und überhitzen sich schließlich. Ein zweiter Vorteil liegt darin, wie wir unsere Energiespeicher nutzen und unsere Ernährung anpassen können, um lang anhaltendem Energiebedarf gerecht zu werden. Die Theorie besagt, dass wir – alle Vorteile zusammengenommen – speziell darauf ausgerichtet sind, unsere Beute auszulaugen, vor allem in einer heißen Umgebung.
Kein Wunder also, dass wir beim Laufen eine tiefe Verbindung zu unserem physischen Selbst spüren. Vielleicht nehmen wir anfangs wahr, dass die Gelenke knacken, die Muskeln sich verhärten und wehtun, wir außer Atem sind und unser Kühlungssystem seine Arbeit nicht mehr schafft, aber wenn wir fitter werden und sich all diese Komponenten anpassen und verbessern, fühlen wir uns wie das laufende Tier, das wir nach einer langwierigen natürlichen Selektion wurden. Wir laufen und nutzen unsere Körper damit für die Tätigkeit, auf die sie ausgelegt sind. Die Laufbewegung ist im Einklang mit dem Körper, den wir bewegen, und der Körper, der bewegt wird, sind Sie. Und während der Körper beansprucht wird, wird auch der Geist beansprucht. Der Geist existiert nur in Verbindung mit dem Körper, mit dem Physischen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Geist auf diese natürliche Bewegung reagiert, auf dieses bedeutsame Zusammentreffen von Ihnen und der grundlegendsten Essenz Ihres Körpers.
Für die meisten von uns bildet Laufen einen starken Kontrast zu dem, was wir den restlichen Tag tun. Bei der Arbeit sind wir an den Schreibtisch gefesselt, sitzen, werden mit E-Mails, Anrufen, anspruchsvollen Chefs und Stress konfrontiert. Oder wir erledigen eine monotone, nervige Aufgabe in einer Werkstatt oder entlocken einem Kunden Informationen und suchen nach einer Möglichkeit, einen Verkauf zu tätigen. Zu Hause sind wir überlastet durch Hausarbeit, Familienprobleme, Geldsorgen und den ständigen Reiz von größtenteils abgedroschener Unterhaltung. Die Chance, unseren Sorgen und Nöten – wenn auch nur kurz – zu entfliehen, sie hinter uns zu lassen und laufen zu gehen, ist eine einmalige Gelegenheit, wieder zu uns zu finden und die Probleme des Alltags vorübergehend zu vergessen.
Wir gehen in die Umkleide oder ins Schlafzimmer oder dahin, wo auch immer der befreiende Kleidungswechsel stattfindet. Hemd und Krawatte oder Seidenbluse werden ausgezogen und ein enges, atmungsaktives Funktionsshirt wird übergestreift. Faltenrock oder Hose mit ordentlicher Bügelfalte werden durch eine leichte, weite Laufhose ersetzt. Die Beine sind nun wunderbar frei – frei, sich zu dehnen, frei, sich zu bewegen. An den Füßen tauschen wir Lederschuhe gegen magische, moderne, schützende Hightechlaufschuhe oder Barfußschuhe, wenn wir auf der Minimalistenschiene unterwegs sind. Wir reiben uns mit Sonnencreme ein, setzen eine Kappe auf und sind schon vor der Tür.
Die ersten Schritte auf dem Asphalt oder Feldweg fühlen sich an wie die Befreiung von Fesseln, wie ein Raketenstart. Beim Übergang von der sitzenden, eingeschränkten, physischen Inaktivität zur natürlichen Laufbewegung stockt uns beinahe der Atem. Der Geist hellt sich auf, die Laune hebt sich. Die Bewegung allein ist schon befreiend und bewirkt eine Veränderung.
Wer kann es uns verübeln, dass wir uns bei diesen ersten Schritten draußen fühlen, als flögen wir?
Sobald wir laufen, passieren viele Dinge. Was das Fitnesstraining betrifft, vor allem der kardiorespiratorischen und der kardiovaskulären Fitness, ist Laufen genial. Laufen führt zu niedrigerem Blutdruck, niedrigeren Cholesterinwerten, einer größeren Knochenmasse sowie einer stärkeren Muskulatur und kurbelt den Stoffwechsel an. Als Kalorienverbrenner kann man Laufen mit einem Hochofen vergleichen. Es schlägt die meisten anderen Sportarten, und das Verbrennen geht auch noch weiter, wenn Sie schon aufgehört haben. Regelmäßiger Sport trägt zur sogenannten excess post-exercise oxygen consumption (zu Deutsch: Sauerstoffmehraufnahme nach Arbeitsende) bei. Das bedeutet, während Sie nach dem Sport vor dem Fernseher sitzen, verbrennt Ihr Körper immer noch in erhöhtem Maße Kalorien.
Laufen bekämpft auch altersbedingten Knochenabbau. Das alte Vorurteil, Laufen sei schlecht für die Knie, wird durch Studien nicht belegt. Stattdessen haben Studien gezeigt, dass Läufer nicht schneller an Arthrose erkranken als Menschen, die nicht laufen. Läufer haben sogar häufig gesündere Knie. Die vielen gesundheitlichen Vorteile, die das Laufen mit sich bringt, tragen – was nicht verwunderlich ist – zu einer höheren Lebenserwartung bei. Und während Sie länger leben, bleibt auch Ihr Verstand schärfer, denn die regelmäßige sportliche Betätigung durch das Laufen wirkt altersbedingtem geistigem Verfall entgegen. Regelmäßiger Sport soll darüber hinaus das Risiko, an Krebs zu erkranken, senken. Was sollte man am Laufen also nicht mögen? Sie werden schlanker, leben länger, sind gesünder und können immer noch die schwierigen Kreuzworträtsel in der Sonntagszeitung lösen. Außerdem stärkt Laufen das Selbstbewusstsein.
Allein wegen der physischen Vorteile, die Laufen bietet, lohnt es sich schon, aber sie sind lange nicht alles. Wir laufen, und der Geist wird freigelassen, oder, um genauer zu sein, der Geist beginnt, zu arbeiten, während der Körper sein genetisch bedingtes Potenzial physisch voll ausschöpft. Der Rhythmus der Schritte, das Metronom der schwingenden Arme, die Anstrengung, die Beanspruchung all der wichtigen Laufmuskeln und vor allem die konzentrierte, regelmäßige, tiefe Atmung bilden einen Rahmen, der dem einer Meditation ähnelt. Der Geist setzt sich nicht mehr mit den banalen Alltagsproblemen auseinander und kann sich mit kreativeren oder tiefgründigeren Gedanken beschäftigen.
Laufen bedeutet auf jeden Fall eine Pause von der Arbeitswelt oder der Welt quälender Alltagssorgen. Die Zeit, die man mit Laufen verbringt, kann eine sorgenfreie Zone sein. Sobald Sie nach draußen gehen, auf die Straße oder auf den Trail, müssen Sie nicht über Probleme nachdenken. Sie beheben gerade ein Problem. Sie bewegen sich, werden gesünder und stärker, damit Sie wieder auf Ihre Sorgen zurückkommen und ihnen begegnen können. Paradoxerweise kann Laufen Sie aber in einen Geisteszustand versetzen, in dem Sie, sollten Sie sich doch auf ein Arbeits- oder Beziehungsproblem konzentrieren, häufig kreative Lösungen oder zumindest neue Ansätze entdecken, die Ihnen am Schreibtisch oder beim Wäschefalten niemals eingefallen wären. Wenn der Geist frei umherstreifen kann, erkundet er oft neue Orte.
Laufen zieht den Geist weg von den alltäglichen Sorgen und hinein in die physische Welt, sowohl, weil Sie sich gerade körperlich betätigen als auch, weil Sie von der physischen Welt umgeben sind und in sie eintauchen – Sie sehen, hören, riechen und spüren die Natur. Plötzlich ist das Leben sehr unmittelbar, sehr sinnlich und sehr wirklich. Solange wir laufen, treten wir sehr direkt in Kontakt mit der natürlichen Welt und mit uns selbst. Viele Läufer finden das sehr befriedigend und sagen, dass sie laufen, weil sie gern in den Bergen, im Wald oder in der Natur sind. Würde eine schöne Wanderung denselben Zweck erfüllen? Offensichtlich nicht. Die Magie scheint in der Verbindung von Laufen und den Bergen oder dem Wald zu liegen. Trailrunning ist derzeit ein Massenphänomen. Die Anzahl der Teilnehmer und der organisierten Veranstaltungen explodiert geradezu. Gilt dasselbe für Wandern? Wohl eher nicht.
Daher ist es wenig überraschend, dass Laufen uns in eine taoistische Stimmung versetzen kann. Wenn wir tiefer in die Natur eindringen und uns von unseren Egos und oberflächlichen Alltagsgedanken befreien, scheinen wir in Einklang mit unserer Umwelt zu kommen. Taoisten vergleichen das Einswerden mit dem Tao mit Wasser, das in Wasser fließt. Laufen kann man ähnlich betrachten. Bei der physischen Tätigkeit Laufen fließen wir in die physische Welt. Das Laufen nimmt einen Fluss an und scheint mühelos, natürlich und tief befriedigend. Wir bewegen uns unbeschwert und sind offen für die Schönheit der Dinge in unserer Umgebung.
Man kann jedoch auch anders über Laufen denken und die tieferen, inneren Pfade, die wir bei regelmäßigem leidenschaftlichem Laufen erkunden, anders interpretieren. Laufen eignet sich hervorragend, um Achtsamkeit zu üben, den überlasteten Geist zu beruhigen und sich voll und ganz auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren. Laufen kann auch eine sehr existenzielle Aktivität sein, die dazu führt, dass wir uns in dem Moment so lebendig fühlen, wie wir es selten in anderen Aspekten unseres Lebens tun. Wenn wir laufen, lassen wir gewöhnlich unsere sozialen Rollen fallen – unsere Vortäuschungen, Masken, Selbstschutzmechanismen, die sich in unser Alltagsleben hineindrängen. Draußen auf dem Trail sind diese Dinge vollkommen irrelevant. Wenn wir laufen, existieren wir schlicht sehr intensiv. Wie Existenzialisten sagen, „sind“ wir einfach „in der Welt“.
Vor welchem philosophischen Hintergrund wir Laufen auch betrachten mögen, die universelle Erfahrung scheint Transzendenz zu sein. Beim Laufen überschreiten wir die Grenzen des gewöhnlichen Selbst, des Arbeits-Ichs, werden dadurch befreit und können uns mit Dingen auseinandersetzen, die vielleicht tiefgründiger sind.
Zusätzlich zu dem tiefen Eintauchen in den Geist erweckt Laufen bei vielen eine sehr tief sitzende Leidenschaft. Denken Sie nur an den Marathonhype und daran, dass, einen Marathon zu laufen, für viele ein einmaliges, übergeordnetes Ziel geworden ist. Die größten Marathons der Welt ziehen nun abertausende Menschen an. Das Besondere ist, dass die Menschenmengen nicht zum Zuschauen und indirekten Erleben des Sports kommen, sondern um das Rennen selbst zu laufen, selbst daran teilzunehmen, selbst auf der Strecke zu sein. Und nachdem sie das Training absolviert, das Rennen durchgehalten und die große Befriedigung an der Ziellinie gespürt haben, kehren viele Läufer immer wieder zurück.
Natürlich gibt es auch die Ultraläufer, denen die Distanz von 42 km nicht reicht. Sie nehmen an Wettkämpfen über 50 km teil, dann über 50 Meilen, dann über 100 km. Als hätten sie sich gerade erst warmgelaufen, stellen sie sich schließlich der legendären Herausforderung, an einem einzigen Tag 100 Meilen zu laufen. Wenn sie den Lauf beendet haben und mit Dreck an den Beinen und trüben Augen nur noch humpeln, um die Blasen an den Füßen nicht gegen sich aufzubringen, sehen sie auf und sagen mit Verwunderung in der Stimme, dass sich der Lauf wie ein ganzes Leben angefühlt hat.
Laufen steckt voller Ziele – Ziele setzen, Ziele anstreben, sein Potenzial ausschöpfen, an seine Grenzen gehen, Wissen über sich selbst erlangen, das Ziel mit Leidenschaft verfolgen und im übertragenen Sinne auch das eigene Leben mit Leidenschaft führen. Wir können auf eine bestimmte Distanz hintrainieren. Wir können auf eine bestimmte Zeit hintrainieren. Wir können auf viele Zwischenziele hintrainieren. Es gibt Tagesziele, Wochenziele, Monatsziele und Lebensziele. Ziele beim Laufen sind wunderbar konkret. Sie wollen 10 km unter 40 Minuten laufen – entweder schaffen Sie es, oder Sie schaffen es nicht. Es gibt keinen Interpretationsspielraum. Sie möchten einen Marathon laufen – entweder überqueren Sie die Ziellinie oder nicht. Fall abgeschlossen.
Seltsamerweise geht es aber in erster Linie gar nicht darum, das Ziel zu erreichen. Vielleicht haben Sie Ihr Ziel erreicht, weil Sie die genetischen Voraussetzungen dafür mitbringen, einen Marathon in drei Stunden zu laufen, sehr hart trainiert haben und sich die mentale Einstellung erarbeitet haben, die es Ihnen erlaubte, ein solch hartes, schnelles Tempo durchzuhalten. Aber vielleicht haben Sie es auch nicht geschafft. Vielleicht hatten Sie einfach nicht das Potenzial, so weit so schnell zu laufen, so sehr Sie sich auch bemüht haben. Vielleicht hat das Training nicht ausgereicht. Vielleicht hat Ihre Psyche nicht mehr mitgemacht, als der Mann mit dem Hammer kam. Das spielt jedoch keine Rolle. Das Wichtige ist nicht, das Ziel zu erreichen. Das Wichtige ist der Weg.
Es geht um den Weg des Laufens. Ich möchte, dass Sie den wunderbaren, leidenschaftlichen, mysteriösen Weg des Laufens und wie Laufen zu dem Bewusstsein Ihrer selbst und persönlicher Weiterentwicklung führen kann, besser verstehen. Auf den folgenden Seiten werden Sie viele Möglichkeiten finden, wie Sie Laufen betrachten können, viele Perspektiven, aus denen Sie Ihre Lauferfahrungen analysieren können, viele Rahmen, die Sie nutzen können, um besser zu verstehen und wertzuschätzen, was beim Laufen mit Ihnen passiert. Wenn Ihnen die Verbindungen zwischen Laufen und Achtsamkeit, Laufen und Taoismus sowie Laufen und Zielverfolgung bewusst sind, werden Sie mehr vom Laufen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch mehr von Ihrem Leben haben.
Es war mitten in der Nacht. Zwei Uhr, um genau zu sein, an einem Sonntag Anfang März. Im kalten, prasselnden Regen lief ich auf einem schmalen, steinigen Trail, der hoch am Hang der Nordhoff Ridge über Ojai, Kalifornien, verlief. Durch meine beschlagene Brille konnte ich kaum etwas sehen. Lichtflecken, die meine Stirnlampe und meine Taschenlampe erzeugten, tanzten über den Weg. Dann stürzte ich – ohne jede Vorwarnung.
Ich war mit dem Zeh an einem Stein hängen geblieben und plötzlich unkontrolliert durch die Luft geflogen. Mit meinem gerade erst zusammengeflickten linken Schlüsselbein voraus segelte ich Richtung Boden. Ich stellte mir den Aufprall vor, bei dem der Titanstift, der die beiden Knochenenden zusammenhielt, zu einer Heftklammer gebogen und die sechs Schrauben aus den Knochen gerissen und sich durch mein Fleisch bohren würden.
Ein paar Monate zuvor hatte ich mir das Schlüsselbein beim Mountainbiken gebrochen. Ich fuhr Mountainbike, statt zu laufen, weil ich mich gerade von einer Fuß-OP erholte. Mist, ich hatte nur ein bisschen falsch getimt, wann ich das Vorderrad über den Randstein heben musste, der die Straße vom Trail trennte. Eine Sekunde später saß ich im Staub und dachte, wie ironisch es war, dass ich mir gerade das linke Schlüsselbein so nah an der Stelle auf demselben Trail gebrochen hatte, wo ich mir ein Jahr zuvor bei einem anderen Mountainbikemissgeschick das rechte Schlüsselbein gebrochen hatte. Damals trug ich ein cooles Bikershirt, auf dem ein Skelett abgebildet war, dessen rechtes Schlüsselbein in zwei Teile gebrochen war. Das brachte die Krankenhausmitarbeiter in der Notaufnahme zum Lachen.
Mein Arzt riet mir, den Bruch einfach auf natürliche Weise heilen zu lassen, die mittlerweile übliche Behandlungsmethode. Nachdem ich den Knochen genug Zeit gelassen hatte, wieder zusammenzuwachsen, folgte wochenlange Physiotherapie. Die Therapeutin drückte mit ihrem gesamten Gewicht auf meinen Arm und sagte: „Mensch, Sie sind aber schwach.“ Es stellte sich heraus, dass die Knochenenden nicht zusammengewachsen waren und ich versucht hatte, mit einem in zwei Teile gebrochenen Knochen gegenzuhalten. Der nächste Arzt, bei dem ich war, empfahl eine OP. „Sollen wir den Knochen diesmal wirklich in Ordnung bringen?“, fragte er. Jetzt hatte ich die OP hinter mir, und mit ein bisschen Erholungszeit und einem Stück Titan direkt unter der Haut war ich wieder zurück auf der Laufstrecke und bereit, den Coyote Two Moon 100 Mile Trail Run in Angriff zu nehmen, einen 100 Meilen langen Monster-Ultralauf, der unaufhörlich einen 1.500 m hohen Bergkamm über dem südkalifornischen Ojai Valley und Rose Valley hinauf- und hinunterführt.
Das Rennen begann Freitagabend um neun Uhr. Bei leichtem Regen, der bald stark wurde, quälten wir uns einen steilen, steinigen Trail hinauf. Dann kam der Nebel, so dicht, dass ich meine Stirnlampe ausziehen und sie auf Kniehöhe halten musste, damit das Licht nicht reflektierte und mich blendete. Im Laufe der Nacht erreichten wir die Spitze der Topa Ridge, wo sich der Regen in einen heftigen Schneesturm verwandelt hatte. So ging es immer weiter. Wir liefen aus dem Schnee den Bergkamm hinunter in eisigen Regen und dann wieder hinauf in den Schnee und wiederholten das Ganze am Samstagmorgen und -nachmittag und bis in die zweite Nacht hinein immer wieder.
Als ich in der späten Samstagnacht an der Verpflegungsstation Gridley Bottom saß und nur noch ein größerer Anstieg zwischen mir und einer wertvollen Finisher-Gürtelschnalle lag, war ich ziemlich am Ende. Der ununterbrochene, kalte Regen ließ nicht nach. Ich versuchte, das Wirrwarr aus Kleidung, Batterien, Elektrolyttabletten und Energiegels zu entwirren, das aus meiner Drop Bag quoll, die zu meinen Füßen im Schlamm lag. Der Funkamateur verkündete, der Renndirektor, der sich an einer Verpflegungsstation oben auf dem Bergkamm befand, habe angekündigt, niemand, der nicht zumindest mit einer langen Hose bekleidet sei, die ihn vor der Kälte schütze, dürfe wieder hochlaufen. Der Mann neben mir wickelte sich ein Handtuch wie einen langen Rock um die Hüfte, damit er weiterlaufen konnte. Um nicht zu erfrieren, stand ich auf, wartete kurz, bis der Schwindel verflogen war, und ackerte mich dann wieder den Trail hinauf.
Auf einer steilen, unbefestigten Straße kam ich an einem bizarren Avocadohain vorbei und gelangte dann auf einen Singletrail, der sich in einen schnell fließenden Bach verwandelt hatte. Ich lief an der Stelle vorbei, an der ich zu einem früheren Zeitpunkt beim Herunterlaufen überzeugt gewesen war, dass ich mich verlaufen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte mir mein erschöpftes Gehirn gesagt, der Trail müsse direkt nach unten zu der Verpflegungsstation führen. Daher hatte es nicht richtig ausgesehen, als er einen scharfen Knick in einen gähnenden schwarzen Canyon machte. Seit Stunden hatte ich niemanden mehr auf der Strecke gesehen. Wo waren die Leute, die wieder hochkommen sollten? Ich leuchtete in die Ferne, aber der mickrige Strahl kam nicht gegen das riesige schwarze Loch vor mir an. Ich dachte, wenn jemand irgendwo unter mir wäre, müsste ich sicherlich ein Licht sehen, das dort unten umherhüpfte. Ich blieb stehen und rief in den strömenden Regen: „Hallo! Hallo!“ Meine erbärmliche, dünne Stimme erstarb wie eine leblose Qualle.
Nun war ich mir sicher, dass ich mich verlaufen hatte, und machte mich wieder auf den Weg nach oben, um die Abzweigung zu suchen, die ich glaubte, verpasst zu haben. Ich fluchte, weil ich dadurch noch weiter laufen musste. Nach einer Ewigkeit entdeckte ich zwei Lichter, die auf mich zukamen. Zwei Läufer platschten den Weg hinunter. Wie ich waren sie beide bis auf die Haut nass. „Seid ihr sicher, dass das der richtige Weg ist?“, fragte ich.
Der erste Läufer lief an mir vorbei und sah genervt aus. „Was für einen anderen Weg gibt es denn?“, fragte er und lief weiter.
„Ich bin schon weiter runtergelaufen, und da ist niemand“, sagte ich zu ihren Rücken. Sie wurden langsamer, blieben stehen, drehten sich um und sahen mich an. Derjenige, der vorher gesprochen hatte, stemmte die Hände in die Hüften, senkte den Kopf und dachte nach.
Schließlich sagte er: „Gibt keinen anderen Weg.“ Und weg waren sie.
Ich zögerte, aber ich musste zugeben, dass sie aussahen, als wüssten sie, was sie taten. Ich war mir ziemlich sicher, dass das bei mir nicht der Fall war, also folgte ich ihnen. Der Trail schien unmöglich weit nach unten in den Canyon hineinzuführen, aber letztendlich stellte er sich als richtig heraus und wir erreichten Gridley Bottom.
Jetzt war ich wieder auf dem Weg nach oben, näherte mich der Spitze und damit der letzten Verpflegungsstation, bevor ich den Bergkamm überqueren und zur Ziellinie hinunterlaufen konnte. Aber je höher ich kam, desto stärker schien der Wind zu wehen. Ein unablässiges Heulen fegte von oben über mich hinweg. Der Regen hatte sich in peitschenden Schnee verwandelt. Ich ging davon aus, dass ich mich bald auf dem letzten Streckenabschnitt des Trails befinden musste, der zu der Verpflegungsstation auf dem Kamm führte, als ich die Lampen einer Läufergruppe sah, die sich durch den Schnee auf mich zubewegte. Drei Läufer tauchten auf, eine Frau, eingerahmt von zwei Männern.
Die Frau, deren blondes Haar unter einer schwarzen Strickmütze hervorguckte, trug eine rote Jacke und eine schwarze Tight. Sie sagte: „Das Rennen wurde abgebrochen. Alle sollen vom Kamm runter.“
„Was?“, hörte ich mich selbst rufen.
„Auf dem Kamm ist ein richtiger Blizzard. Die Leute haben nicht die passende Kleidung dafür. Der Renndirektor hat entschieden, dass es zu gefährlich ist, also schickt er alle nach unten. Es ist vorbei. Kein Rennen mehr.“
„Bist du dir da ganz sicher?“, flehte ich. Ich konnte es nicht glauben. 100-Meilen-Rennen sollten doch nicht einfach sein. Man musste doch mit Schlimmem zurechtkommen. Natürlich fror ich, aber im Zelt oben an der Verpflegungsstation lief eine Heizung. Das hatte ich gesehen. Ich hatte vor, dort eine lange Pause einzulegen. Ich würde trocknen, und dann würde mich nichts davon abhalten, die letzten sechs oder sieben Meilen auf dem Kamm und dann hinunter zur Ziellinie zu laufen, wo ich meine Gürtelschnalle bekäme.
„Wir müssen weiter“, sagte einer der Männer. „Mir ist eiskalt.“
„Es wurde abgebrochen“, sagte die Frau, drehte sich um und lief ihren Freunden hinterher.
Ich stand da. Dann lief ich ein paar Schritte nach oben. Dann blieb ich stehen. Wie weit war ich wohl von der Verpflegungsstation entfernt? Sollte ich weiterlaufen und mich selbst erkundigen? Doch mir wurde klar, selbst wenn ich dort oben ankäme, mit dem Renndirektor spräche und ihn davon überzeugte, dass ich es schaffen konnte, würde ich nicht offiziell ins Ziel einlaufen. Wenn das Rennen abgebrochen war, bekam niemand irgendwas. Ich hörte den Wind, der über den Kamm pfiff. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen. Ich hatte keine andere Wahl, als hinunterzulaufen.
Die Gruppe, die mir die schlechte Nachricht überbracht hatte, war in der Dunkelheit verschwunden. Ich beeilte mich, um sie einzuholen, platschte durch das Wasser auf dem Trail, sprang über die baseballgroßen Steine, die überall verstreut lagen, und nahm die schlammigen Kurven des Serpentinenwegs. Dann blieb ich mit dem Fuß an einem halb vergrabenen Stein hängen, der sich nicht bewegte.