© Copyright 2020 Sookie Hell
Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Ich blieb mit meiner riesigen, vollgestopften Sporttasche in der Zugtür hängen und riss fluchend daran. Das verdammte Ding nervte mich jetzt schon seit Stunden! Ich hatte einfach viel zu viel eingepackt! Andererseits wusste ich auch nicht, was mich in diesem Urlaub erwarten würde, aber vielleicht waren fünf Jeans auch einfach zu viel gewesen. Bestimmt gab es in Ostfriesland auch Waschmaschinen!
Aber ich wollte eben immer auf Nummer sicher gehen. Wenigstens war ich clever genug gewesen, keine Bücher einzupacken, sondern meinen eReader. An mir vorbei strömten Familien mit bunten Rollkoffern und Rentner mit Fahrrädern, die angezogen waren wie für die Tour de France. Und dann kam endlich eine ganz normale ältere Frau, die mit einem hilfsbereiten Lächeln meine Tasche befreite. Ich lächelte dankbar und stolperte mit einem Ruck rückwärts auf den Bahnsteig.
Für einen Moment taumelte ich, dann atmete ich tief durch. Seeluft! Nach einem Tag in Bussen und Zügen voll mit verschwitzten Leuten endlich frische Seeluft! Ich schnupperte hingerissen und ahnte einen ganz leichten Hauch von Salz. Vielleicht bildete ich mir das auch ein, der Strand war noch ein paar Kilometer weit weg.
Aber in diesem Moment war ich sicher, dass ich das Meer riechen konnte. Ich sah mich um. Der »Bahnhof« von Esens war eigentlich gar kein Bahnhof, er bestand nur aus einem Bahnsteig mit einem Klo-Häuschen und ein paar Wetterhäuschen, in denen man vor Wind und Regen Schutz suchen konnte. Jetzt war das aber gar nicht nötig, denn es war der erste Juli. Die Sonne brannte vom Himmel, die Luft streichelte warm meine Arme und das laue Lüftchen spielte mit meinen frisch geschnittenen blonden Haaren.
Nach einer Trennung musste eine Frau als Erstes zum Friseur, um sich neu zu definieren, das hatten meine Freundinnen mir eingeredet. Ich hasste Friseure und glaubte auch nicht daran, dass ich durch einen Haarschnitt mein Leben in den Griff kriegen würde. Trotzdem musste ich zugeben, dass mir die schulterlangen Locken besser gefielen als der ewige alte Zopf.
Und jetzt war ich hier und hatte keine Ahnung, worauf ich mich eingelassen hatte. Vier Wochen Urlaub in einer Künstler-WG an der Küste – das klang zu gut, um wahr zu sein. Und das mitten in der Hochsaison. Nur musste ich dafür keinen Cent bezahlen. Stattdessen würde ich vier Stunden am Tag bei der Renovierung eines alten Bauernhauses helfen. Wie man renoviert, wusste ich zwar nur von Youtube, aber Steffi, die Frau, mit der ich geschrieben hatte, hatte mir versichert, dass sie mir alles zeigen würden.
Ich holte noch einmal tief Luft, während ich beobachtete, wie der Bahnsteig sich leerte. Die Leute verteilten sich so schnell und zielstrebig auf Busse, Autos und Fahrräder, als hätten sie dieses Ballett lange geprobt. Nach einer Minute schien nur noch ich übrig zu sein. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich hin musste. Ich wusste nur, dass ein gewisser John mich abholen würde, aber ich wusste gar nicht, wie der Typ aussah! Ich hätte Steffi fragen sollen!
Unschlüssig zog ich mein Handy aus der Tasche, dann sah ich am anderen Ende des Bahnsteigs einen Mann auftauchen. Ich streifte ihn mit einem Blick und wurde rot, ohne zu wissen, warum. Der Mann war mittelgroß, schlank, dunkelhaarig und eigentlich nichts Besonderes. Wenn da nur nicht diese Wolke aus heißem Charisma gewesen wäre, die er versprühte, ohne sich dafür das geringste Bisschen anzustrengen. Er blieb abwartend stehen, bohrte die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Cargohose und neigte fragend den Kopf.
Ich grinste verschämt, dann hob ich meine Tasche auf und schwankte dem Mann entgegen. »Hallo, entschuldigen Sie! Sind Sie John?«
Der Mann blinzelte träge gegen die Sonne, dann grinste er. »Das kommt darauf an, wer du bist!«
Ich ließ schnaufend meine Tasche fallen und blieb vor ihm stehen. »Ich bin Lilly! Also, eigentlich Elisabeth, aber ich hasse den Namen! Das klingt, als wäre ich die hölzerne Heldin in einem kitschigen Adelsroman! Ich bin 24, habe drei Ausbildungen abgebrochen und bin für nichts zu gebrauchen! Und letzte Woche habe ich mich von meinem Freund getrennt und muss dringend aus der gemeinsamen Wohnung raus, weil wir uns sonst an die Kehle gehen! Und jetzt mache ich Urlaub gegen Hilfe bei Künstlern und hab keine Ahnung, wie das abläuft! Mein Ex sagt, Leute, die sich Künstler nennen und in Kommunen leben, sind Sozialschmarotzer, die nur eine Ausrede suchen, um mit jedem ins Bett zu gehen. Außerdem sagt meine Schwester, dass ich nicht immer jeden mit meiner ganzen Lebensgeschichte tot labern soll, deswegen versuche ich jetzt, die Klappe zu halten!«
Ich hielt die Luft an und bekam siedend heiße Wangen. Das ging den Mann doch alles gar nichts an!
Er nickte nachdenklich und musterte mich mit einem Blick, den ich für schüchtern gehalten hätte. Wenn ich mir hätte vorstellen können, dass so ein Prachtexemplar von Mann überhaupt wusste, was Schüchternheit ist.
Er legte den Kopf in den Nacken und sah den Wolken nach. Ich beobachtete verstohlen, wie der Wind in seinen dichten, wuscheligen Haaren spielte, dann blickte er mich an. »Ich bin John, was besser klingt als Kevin, ich bin 34 und lebe als Maler in einer verruchten Kommune, in der wir alle den ganzen Tag nackt rumrennen und notgeil grunzen. Meine Exfrau sagt, dass ich die Klappe halten soll, wenn sie redet. Meine Hobbys sind Gummibärchen nach Farben zu sortieren und Topflappen zu falten. In meiner Freizeit hänge ich hier am Bahnhof rum und sammle alle Leute ein, die keiner abgeholt hat, damit sie in meinem Haus kostenlos die alten Tapeten abreißen.«
Ich sah John verschreckt an, dann schlug ich die Hände vors Gesicht. »Verdammt! Ich wollte mich nicht zum Affen machen! Ich fange gerade ein neues Leben an und will mich jetzt endlich mal erwachsen benehmen und dann lege ich so einen dämlichen Auftritt hin! Ich rede immer viel zu viel!«
John sah mich ernst an. Er legte die Hand ans Herz und beugte sich ein winziges Stück zu mir. »Tut mir leid, mein Fehler! Ich wollte mich nicht lustig machen, ich bin nur total unbegabt in Smalltalk und wollte was erwidern, um nicht unhöflich zu sein. Aber wenn du dich neu erfinden willst, bist du im Kluntjehaus genau richtig.«
Er hob meine Tasche auf und lief einfach los. Ich stolperte hinterher. »Im Kluntjehaus? Was meinst du mit Kluntjehaus?«
John lief auf das letzte Auto zu, das jetzt noch am Bahnhof stand. »Das Kluntjehaus ist das Hauptquartier unseres Rudels. Kluntje sind die dicken Kandisbrocken, die wir uns hier in Ostfriesland in den Tee werfen. Trinkst du Tee? Falls nicht, solltest du bei Steffi schnell einen Crash-Kurs über die ostfriesische Tee-Etikette belegen.«
Ich ging jammernd in die Knie. Ich trank zwar gerne Tee, hatte aber keine Ahnung, was diese Tee-Etikette sein könnte! John grinste mich an und öffnete den Kofferraum. »Keine Sorge. Solange du nur zu Besuch bist, genießt du im Kluntjehaus Welpenschutz. Alle werden ausgesprochen lieb zu dir sein.«
»Alle? Wie viele seid ihr denn?«
John verstaute meine Tasche im Kofferraum und brummte nachdenklich, dann richtete er sich wieder auf. »Die Stammbesetzung? Die festen Mitbewohner? Oder alle, die zur Familie gehören und regelmäßig vorbeikommen? Oder auch die, die gern dazugehören würden?«
Ich kratzte mich verwirrt am Kopf. »Äh …«
John grinste mich an, dann wurde seine Stimme ganz sanft. »Mach dir keine Sorgen, kleine Lilly. Du wirst eine fantastische Zeit haben.«
Seine Stimme streichelte so sanft mein Ohr, dass ich ganz kribbelig wurde. Ich sah unsicher zu John auf. Plötzlich merkte ich, dass er sagenhaft grün leuchtende Augen hatte. Die heiße, goldene Abendsonne brach sich so in seinem Blick, dass ich mich fragte, ob er vielleicht einfach eine Glühbirne verschluckt hatte. Für einen winzigen Moment versank ich in seinem intensiven Blick, der mich zu verstehen schien.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass über meinem Kopf ein riesiges Schild aufblinkte. »Vorsicht! Frisch getrenntes Nervenbündel!«
Ich setzte mein schützendes Grinsen auf. »Na ja, mein Selbstvertrauen ist einfach ein bisschen ramponiert gerade. Ich hab so lange keine neuen Leute kennengelernt, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht. Aber ich krieg das schon hin.«
John nickte und öffnete mir die Beifahrertür. »Halt dich einfach an Steffi, die sorgt immer dafür, dass niemand sich verloren fühlt.«
»Und was ist mit dir?« Ich stolperte hinter John her und sah unsicher zu ihm auf. Er sah wieder mit diesem unfassbar intensiven Blick auf mich herab, dann lächelte er scheu. »Steffi hat mich auch gerettet, als ich mich verloren gefühlt hab. Die schafft das.«
Befangen flüsterte ich: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du dich verloren fühlst.«
John lachte nur leise, dann lief er ums Auto. Eigentlich hatte ich ihm sagen wollen, dass ich mich weniger verloren fühlen würde, wenn er sich um mich kümmert, statt dieser unbekannten Steffi. Und dann kam da einfach so ein Geständnis. Ich wusste nicht, ob ich es tröstlich finden sollte, dass er das Gefühl kannte, oder ob ich enttäuscht sein sollte, weil er mich als Beschützer eiskalt gegen die Wand rennen ließ.
Es wäre so schön gewesen, so einen attraktiven Beschützer zu haben! Aber ich war jetzt Single und musste lernen, alleine klarzukommen. Kai hatte mir gesagt, dass ich das sowieso nie hinkriegen würde, als ich Schluss gemacht hatte. Und dass ich wieder angekrochen kommen würde, hatte er auch gesagt. »Ohne mich bist du doch ein hilfloses Nichts!«, hatte er gesagt.
Ich schüttelte mich, dann stieg ich zu John in den Wagen, um es in diesem »Kluntjehaus« zu versuchen.
John hielt die große schwere Haustür auf und zwinkerte mir zu. »Trau dich, die beißen nicht!«
Mit einem verunsicherten Lächeln schob ich mich an ihm und meiner Sporttasche vorbei und betrat das kühle Haus. Aus irgendeinem Grund hatte ich wohl erwartet, dass es still sein würde, aber das Haus bebte vom Jaulen einer E-Gitarre.
Ich kniff kurz grübelnd die Augen zu, dann erkannte ich das Stück. Das war dieser Can Can, zu dem leichte Mädchen aus dem neunzehnten Jahrhundert ihre Röcke hochschleuderten und mit Freudenschreien über die Bühne hopsten. Nur hörte ich keine Freudenschreie, sondern übermütiges Lachen.
Ich spürte kurz Johns Hand an meinem Rücken, dann schob er mich in eine riesige, gemütliche Bauernküche. Ich blieb stehen und sah mich staunend um. Die Möbel waren in einem matten Weiß gestrichen, schienen aber aus Omas Zeiten zu sein. In der Mitte der Küche stand ein riesiger alter Holztisch, auf dem gerade malerisches Chaos herrschte. Zwei Frauen waren wohl eigentlich damit beschäftigt, jede Menge Gemüse zu schneiden, tanzten aber kreischend vor Lachen um einen aufgeklappten Laptop herum. Den Bildschirm konnte ich nicht sehen, aber dass aus diesem Laptop jede Menge Spaß kam, war mir klar. Ich lächelte einfach mal, als würde ich dazugehören und wüsste, worum es geht.
Eine der Frauen entdeckte uns und fuhr quietschend herum, dann bemerkte uns auch die zweite und zupfte ertappt an ihrem fröhlich geringelten Top herum. »Da seid ihr ja schon!«
Die Frau in dem Ringeltop kam um den Tisch herum, schenkte mir ein strahlendes Lächeln und schüttelte mir artig die Hand. Sie hatte wippende rote Locken und so süße Grübchen, als wäre ihr pummeliges Gesicht aus Marzipan geformt. »Ich bin die Moni!«
Die andere Frau winkte mir kurz zu, dann schrie sie in den Laptop: »Wir müssen Schluss machen, John und Lilly sind da!«
Aus dem Laptop schimpfte eine Frauenstimme: »Digger, jetzt hör auf mit dem Scheiß!«
Die Musik brach ab. Plötzlich schien es unglaublich ruhig in der Küche. Die blonde Frau am Laptop atmete auf, dann sprach sie normal. »Sag dem Rosinenbomber, dass wir noch jede Menge Marmelade gekocht haben!«
Der Laptop antwortete: »Mach ich! Und sag John, dass er heute Abend noch jede Menge frischen Tratsch aus dem Hauptquartier bekommt, Svenne hat ein Bandoneon aufgetrieben! Ach, und Ivar sagt, Kalkfarbe geht, wenn du deinen Kuhstall weißeln willst, aber in der Küche wirst du irre!«
John ließ neben mir die Sporttasche fallen und schnupperte. »Ratatouille?«
»Yes!« Die blonde Frau wuselte um den Tisch herum und gab mir strahlend die Hand. »Wie schön, dass du da bist! Ich bin Steffi! Moraloffizier und Quartiermeister im Kluntjehaus, wenn du irgendwas brauchst, komm einfach zu mir, ich wohne direkt neben dir.« Sie wandte sich an John. »Bleibst du zum Essen?«
John stibitzte ein Stück Paprika vom Tisch und schüttelte den Kopf. »Rafael wartet auf mich. Ich zeig Lilly nur kurz noch ihr Zimmer.«
Steffi nickte und grinste mich an. »Essen gibt es in einer halben Stunde! Bist du vegetarisch, vegan, gluten- oder laktosefrei?«
»Äh …«, ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich esse eigentlich alles.«
Moni kicherte. »Lilly kann gar nicht vegan sein, sie ist doch aus Fleisch!«
Ich sah sie verdutzt an, dann musste ich lachen. Steffi und Moni sahen so unglaublich nach dem Sommer aus, den ich mir erträumte. Braungebrannt, fröhlich, mit rosigen Wangen und in bunten Sommerklamotten. Ich hatte echt zu viele Jeans eingepackt.
John griff meine Tasche und segelte los. Ich warf Moni und Steffi ein entschuldigendes Lächeln zu, dann hoppelte ich hinterher. John stapfte mit großen Schritten durch den Flur, bog ab in den nächsten Flur und öffnete eine Tür, die nur wieder in den nächsten Flur führte. John nickte zufrieden und erklärte: »Das ist der Frauenknast!«
Ich kicherte. »Der was?«
John öffnete eine weitere Tür. »Hier gibt es nur Kemenaten, ihr Frauen seid unter euch. Die Männer hausen oben.«
Ich betrat neugierig den großen, hellen Raum und sah mich ehrfürchtig um. »Oh, mein Gott, ist das schön!«
An der einen Wand stand ein riesengroßes Doppelbett mit einer weißen Tagesdecke, auf dem sich bunte Kissen tummelten. Der Rest des Zimmers gehörte einer großen alten Kommode und weißen Bücherregalen, die bis oben vollgestopft waren. Nur die breite, freundliche Fensterfront war frei von Schmökern.
Vor einem der alten Sprossenfenster stand ein Schreibtisch, daneben stand eine Glastür offen, die direkt auf eine kleine Terrasse führte. Auf dem Holzboden lagen bunte kleine Teppiche und der leichte Seewind spielte mit den weißen Vorhängen. Ich schlug die Hände vors Gesicht und hauchte: »Es ist traumhaft!«