Inhaltsverzeichnis

Vorwort zum Nachdruck als eBook

Nachdruck der Erstauflage von 1992

Frontseite mit Titelbild

Einführung

Teil 1 Die Dritte und die Erste Welt

1 Einwanderungsland Europa - ein aktuelles Thema

2 Agrarüberschüsse aus Nord und West gegen Arbeitskräfte aus Süd und Ost    

3 Die lokalen Eliten

4 Der Einfluß des Westens

4.1 Die westlichen Exportinteressen

4.2 Die Hilfsorganisationen

5 Entwicklungshilfe und öffentliche Meinung

5.1 Im Zeichen der Entkolonialisierung

5.2 Verteilungsgerechtigkeit und Grundbedürfnisbefriedigung

5.3 Der „Tag von Afrika“ und die Dritte-Welt-Gruppen

5.4 Das Mißbehagen am Überfluß und die Bewahrung der Umwelt

5.5 Stiefkind Marktwirtschaft - Die Strukturanpassungsprogramme

6 Wieviel Geld kosten wirtschaftliche und soziale Entwicklung?

 Teil 2: Die Zweite und die Erste Welt

1 Die deutsche Wiedervereinigung und ihre entwicklungspolitische Bewältigung

2 Entwicklungsland Sowjetunion

 Teil 3: Was sollte geschehen?

1 Grenzen des Wachstums

2 Aktionsbereiche und Maßnahmen

2.1 Politischer Föderalismus

2.2 Kein Dumping, keine Warenhilfe

2.3 Stabile Währungen und Kampf gegen die Kapitalflucht

2.4 Maßnahmen zur Reduzierug des Bevölkerungswachstums

2.5 Vermeidung entwicklungsschädlicher Wanderungen

2.6 Aktive Friedenssicherung

2.7 Privates Eigentum an den Produktionsmitteln

3 Auf dem Weg zu einerTechnischen Hilfe

4 Sonderfall: Die neuen Bundesländer

Schlußbetrachtung

Anlagen

Rückseite

Impressum


Vorwort zum Nachdruck als eBook

Was soll der Nachdruck eines Buches zur Entwicklungspolitik, das in unserer davon galoppierenden Zeit als längst überholt gelten muss? Ich hatte immer gehofft, dass sich meine kritischen und sorgenvollen Analysen über unser Verhältnis zur ,Dritten Welt' bis zum Erreichen meines 80. Lebensjahres durch die tatsächliche Entwicklung als unnötige und überholte Befürchtungen erweisen würden.

Aber diese meine Hoffnung wurde bis heute nicht erfüllt, denn die Fehlentwicklungen der Jahre 1968 bis 1992, also der Zeit, während der ich in der ,Dritten Welt' arbeitete, haben sich unvermindert fortgesetzt, und seit 2015 dramatisch zugespitzt. Alle Probleme waren seit langem bekannt, kein grundlegendes Problem kam seitdem hinzu, nur unser Unvermögen, mit ihnen umzugehen und sie zu beseitigen, wuchs ständig.

Dazu fällt mir ein Satz von Mark Twain ein:

”Nachdem wir den rechten Weg aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.”

Meiner im Juni 1992 veröffentlichten Arbeit stellte ich folgenden Satz voran: Wer vorgibt, anderen helfen zu wollen, dabei aber nur an den eigenen Nutzen denkt, der trägt am Ende den ganzen Schaden.

Freilich, ich möchte nicht allzu kritisch sein. Denn wir alle denken in erster Linie an den eigenen Nutzen. In gewissem Umfang ist dies durchaus legitim. Wir müssen aber stets bei unserem Tun darauf achten, das rechte Maß zu wahren.

Bei allem, was ich in dieser Arbeit kritisch hervorhob, war das rechte Maß deutlich überschritten worden.

Nun ist es an einer neuen Generation, einen neuen Geist zu entwickeln.

Sie sollte an Stelle von ideologischer Besserwisserei und unbegrenztem Machtstreben in Politik, Wirtschaft und den Kirchen nunmehr Tugenden entwickeln, die sie aufgrund praktischer Erfahrung befähigen, bei ihrem Handeln das rechte Maß zu finden. Diese Tugenden werden auf allen Ebenen gebraucht, vom einfachsten familiären Bereich bis hinauf zu den obersten Verantwortungsebenen unserer Gesellschaft.

Zu solch einer Umkehr ist es nie zu spät. Der Satz Michail Gorbatschows „wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte" ist sicher richtig, aber er bedarf der Interpretation: Je später der Wandel vollzogen wird, desto größer ist die Strafe, die bei dieser Umkehr zu tragen ist.


Paul Alexander
im November 2019

Nachdruck der Erstauflage von 1992


Frontseite mit Titelbild


Einführung

Ob die Leute auf dem Titelbild wohl lieber in der BRD leben würden? Sicher nicht. Jeder Mensch liebt seine Heimat, denn sie ist ein Stück seiner selbst. Bei aller Abenteuerlust und Neugierde für das Fremde wünscht sich jeder Mensch eine Umgebung, mit der er sich identifizieren kann, in der seine Freunde und Verwandten leben, in der er Rechte erworben und Pflichten erfüllt hat und in der er die Spuren seines Lebens, insbesondere seiner Leistungen wiederfindet. Heimat ist nicht immer der Ort oder das Land der Geburt, aber Heimat ist stets etwas, das Zeit zum Wachsen benötigt und daher auf Dauer angelegt ist.

Da dies schon immer so war und auch in Zukunft so bleiben wird, müssen wir eine Entwicklung mit besonderer Sorge beobachten, die seit etwa 30 Jahren für viele Millionen Menschen zu einem Abbau von Heimat geführt hat und in zunehmendem Maße weiter führt.

An diesem Abbau von Heimat waren nicht in erster Linie Kriege und Bür­gerkriege schuld, die schon immer mit Zerstörung oder Verlust von Heimat verbunden waren, sondern ein scheinbar ganz friedlicher Vorgang, nämlich die unterschiedliche wirtschaftliche Dynamik zwischen den Ländern des industriellen Westens und den übrigen Staaten.

Während die wirtschaftliche Entwicklung in den Staaten des kommunistischen Ostblocks bis 1989 weitgehend isoliert verlief, standen die weniger industrialisierten Staaten Südeuropas und die Länder der sog. Dritten Welt in inten­sivem Austausch mit den industrialisierten Staaten des Westens. Deren ungleich höhere wirtschaftliche Dynamik und der damit verbundene erheblich höhere Lebensstandard hat auf die Bevölkerungen in Südeuropa und der Drit­ten Welt eine außerordentliche Anziehungskraft ausgeübt und dazu geführt, daß Millionen Menschen ihre Heimat verließen, um in den reichen Ländern eine Beschäftigung zu suchen. Während der sechziger und siebziger Jahre war den westlichen Industrieländern diese Entwicklung durchaus willkommen, denn der Zustrom an Arbeitskräften bot die Möglichkeit zu weiterer Expansion der Produktion und damit verbunden weiterer Wohlstandssteigerung.

Eine ähnliche wirtschaftliche Sogwirkung übten die reichen Ölländer seit dem Ölpreisboom auf die Bevölkerung der ärmeren Länder aus. 

Daß die Tätigkeit von Gastarbeitern auch für ihre Heimatländer Vorteile mit sich bringen würde, nahm man in den Industrieländern stets stillschweigend an. Erhielten die ausländischen Arbeitskräfte doch den gleichen Lohn wie die Einheimischen, und dieser lag regelmäßig um ein Mehrfaches über dem Lohn­niveau in ihren Heimatländern.

Zu den Gastarbeiterüberweisungen in die ärmeren Länder traten die Trans­fers der Entwicklungshilfe hinzu, welche die westlichen Industrieländer ebenfalls seit den sechziger Jahren und die OPEC-Länder seit Mitte der siebziger Jahre an die armen Länder leisteten.

Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre wurde aber folgende Situation im­mer deutlicher:

(* In der BRD lebten lt. Statistischem Bundesamt per 30.09.1990 5 241 801 Ausländer in den alten und 166 495 in den neuen Bundesländern. Lt. OECD-Statistik betrug der Ausländeranteil Ende 1991 8,3%, also etwa 6,4 Millionen Menschen (vgl. auch Anlage 1))

Durch den Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und den Wegfall des ”Eisernen Vorhangs” ist die bisherige Dreiteilung unserer Staatenwelt in eine Erste (westlich-industrialisierte), eine Zweite (dem Ostblock zugehörige) und eine sogenannte Dritte Welt binnen kürzester Zeit durch eine neue Eintei­lung der Welt ersetzt worden, diesmal in nur zwei Gruppen: die wenigen rei­chen und die vielen armen Länder.

Damit wird die wirtschaftliche Sogwirkung der reichen Länder gerade zu einem Zeitpunkt auf die Bevölkerung des ehemaligen Ostblocks ausgedehnt, in welchem das Verhältnis der reichen Länder zur Dritten Welt in eine deutli­che und bislang unbewältigte Krise geraten ist. Das Risiko, daß die Krise nicht mehr beherrscht werden kann, ist damit erheblich gewachsen. Entsprechend groß sind die Sorgen, die sich die Bürger in den westlichen Ländern machen.

Die Sorgen der Bürger richten sich auf einen möglicherweise unkontrollier­baren Zustrom von Ausländern, aber fast noch mehr auf die Unentschlossenheit, mit der unsere Politiker dem Problem gegenüberstehen. Deren Unentschlossenheit erklärt sich aber einfach dadurch, daß sie eine Politik, die dem Westen lange Zeit überwiegend Vorteile zu verschaffen schien, nämlich die Po­litik der großzügigen Aufnahme von Ausländern, insbesondere in Ländern mit rückläufiger einheimischer Bevölkerung wie der BRD, nicht so leicht von heute auf morgen als gefährlich oder schädlich betrachten können.

Ihre Unentschlossenheit liegt auch darin begründet, daß sie als Politiker dazu neigen, ausschließlich kurzfristige Erfolge anzustreben. Kurzfristiges Erfolgsstreben verführt dazu, die Interessenlage des Partners zu ignorieren, insbesondere langfristig negative Auswirkungen der eigenen Politik auf den Partner zu mißachten.

Es verwundert daher nicht, wenn unsere Politiker versuchen, dem Problem eines unkontrollierten Ausländerzustroms gleichfalls mit kurzfristigen und nur die eigene Interessenlage beachtenden Maßnahmen zu begegnen: Sie operie­ren mit dem Asylrecht.

Seine Einschränkung wie auch seine grundsätzliche Beibehaltung erscheint ihnen ausreichend, um sowohl die eigene Bevölkerung zu beruhigen als auch Solidarität mit den Menschen aus den armen Ländern zu bekunden.

Der anhaltende Parteienstreit um die Modalitäten eines künftigen Asyl­rechts hat das Seine dazu beigetragen, daß unsere Ausländerfreundlichkeit in der öffentlichen Meinungsbildung nur noch mit der Elle des Asylrechts gemessen wird und am Schutz unserer Asylanten vor kriminellen rechtsextremisti­schen Übergriffen.

So wichtig es ist, solchen Übergriffen entschlossen entgegenzutreten: Der Pulverdampf, in den uns die Politiker in ihrem Streit um Asylrecht und Ein­wanderungsquoten gehüllt haben, läßt uns ganz übersehen, daß wir auf diesem Gefechtsfeld für die Menschen aus den armen Ländern kaum eine Lanze bre­chen können.

Was diese Menschen wollen, ist nicht Asyl, sondern Heimat. Versetzen wir uns nur einen Augenblick in ihre Lage, wird uns dieser Wunsch und seine Priorität sofort plausibel. Was muß Heimat bieten, damit ilrre traditionelle Anzie­hungskraft gegenüber der Sogwirkung der reichen Industrieländer nicht verlo­rengeht? Neben vielem anderen sind persönliche Sicherheit, das Fehlen von Not sowie aufwärtsgerichtete wirtschaftliche Perspektiven für alle, die sich an­ strengen wollen, eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß Menschen ihre Umwelt als Heimat empfinden.

Ist dies nicht alles auch das Ziel unserer Entwicklungshilfe, unserer “Hilfe zur Selbsthilfe”, die der reiche Westen seit gut 30 Jahren leistet? Stellt Entwick­lungshilfe nicht den Bereich unserer Außenbeziehungen dar, bei welchem kurzfristige Eigeninteressen ganz hinter den Interessen unserer armen Partner­ länder zurückstehen? Und fordern die besonneneren unter unseren Politikern daher nicht zu Recht eine kräftige Aufstockung dieser Hilfe, um dem Problem einer übermäßigen Zuwanderung von Ausländern Herr zu werden?

Die öffentliche Entwicklungshilfe der reichen Länder liegt derzeit unter 0,5% ihres Bruttosozialprodukts (BSP).*

*(Laut Entwicklungsbericht der Weltbank betrugen die öffentlichen Nettoabflüsse (Bruttoabflüsse minus Tilgungen) bei den OECD-Ländern 1989 0,33%, bei den OPEC-Ländern 1988 0,45% des BSP)

In den Empfängerländern stellen diese Zahlungen durchschnittlich etwa 4 bis 6 % des BSP* in der Gruppe der 40 ärmsten Länder (ohne China und Indien) und 1 bis 2 % in der Gruppe der 40 zweitärmsten Länder dar. Aus dieser Größenordnung unserer Entwick­lungshilfe werden zwei Dinge deutlich:

*(In den ärmsten schwarzafrikanischen Ländern 10-30% des BSP.)

Nachdem die letzten 30 Jahre wirtschaftlicher Entwicklung in den armen Län­dern mit wenigen Ausnahmen ein ungenügendes bis katastrophales politi­sches, wirtschaftliches und soziales Resultat lieferten, ergibt sich daraus unmit­telbar die weitere Schlußfolgerung:

Obwohl dem so ist, arbeiten die verantwortlichen Politiker weder in den armen noch in den reichen Ländern an der Beseitigung dieser Unzulänglichkeiten:

Als probaten Ausdruck dieser Haltung erlebte die Weltöffentlichkeit die Zusage der reichen Länder beim Umweltgipfel in Rio, die öffentliche Entwicklungs­ hilfe künftig etwa zu verdoppeln, d.h. auf 0,7 % des BSP der reichen Länder anzuheben. Aber die Weltöffentlichkeit blieb ohne jeden Hinweis dafür,wie ein ungenügendes bis katastrophales Ergebnis bei 0,4 % des BSP in ein zufrieden­ stellendes bis gutes Ergebnis bei 0,7 % des BSP umschlagen soll, selbst wenn man davon absieht, daß durch die künftige Hinzunahme der Länder der Zwei­ten Welt und das hohe Bevölkerungswachstum in den Ländern der Dritten Welt nicht einmal eine (quantitative) Aufstockung bisheriger Hilfe zustande kommt, wenn man die Bevölkerungszahl in den Empfängerländern zugrunde legt. 

Seit 1968 bin ich für die staatliche deutsche Entwicklungshilfe tätig, seit 1975 als freiberuflicher Berater. Meine Fachgebiete sind Volkswirtschaft und Agrarökonomie. Für mich wie für zahlreiche meiner Kollegen kann die bishe­rige Art, in welcher die aufgezeigten Probleme bewältigt werden, nur Anlaß zur Verzweiflung sein. Meine erste hieraus resultierende Reaktion war eine Buch­veröffentlichung im Herbst 1987 (Paul Alexander: Der Trost des Entwicklungshelfers, Frankfurt 1987, 3. Auflage 1992). Die vielfach positive Resonanz, die ich hier­ auf unter meinen Berufskollegen erfuhr, wie auch die bisherige entwicklungspolitische Behandlung der deutschen Wiedervereinigung gaben Anlaß zu diesem zweiten Beitrag, dessen Motiv gleichfalls große Sorge über unser Ver­hältnis zu den armen Ländern ist. 

In diesem Buch wird der Leser herzlich eingeladen, einer gründlichen und freimütigen Bewertung der Qualität unserer Beziehungen zu den armen Län­dern zu folgen, wobei die entwicklungspolitischen Grundsätze und Rahmenbedingungen zur Beseitigung der Armut und damit zur Schaffung von Heimat natürlich im Vordergrund stehen. Sie werden, meine ich, sehr bald zu dem alles beherrschenden Thema der Weltpolitik.

Für die Bundesrepublik ergibt sich aus diesem Thema eine Hausaufgabe be­sonderer Art: Wie können die Lebensverhältnisse der Menschen in den neuen Bundesländern nach der deutschen Wiedervereinigung möglichst rasch und nachhaltig an die in den alten Bundesländern angeglichen werden? Die BRD hat also das Generalthema der Entwicklungspolitik in besonderem Maße zu verinnerlichen.

Ich verwende die pauschalen Begriffe Erste, Zweite und Dritte Welt in diesem Buch bewußt, weil sie der pauschalen Außenwirtschaftspolitik entsprechen, welche die westlichen Industriestaaten, die "Erste Welt", gegenüber den Ländern der Zweiten und Dritten Welt praktizieren und weil sie ihrerseits ebenso gleichgerichtete Reaktionen dieser Länder auslösten. Es gibt bislang nur eine kleine Gruppe von Ländern, die unter dem Einfluß der Außenwirtschaftspolitik des industriellen Westens ein grundsätzlich anderes Verhalten an den Tag legten. Dies sind Japan und die vier “kleinen Tiger”, Taiwan, Südko­rea, Hongkong und Singapur. 

Zur Dritten Welt, so wie ich diesen Begriff gebrauche, gehören Länder mit sehr unterschiedlichem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung. Unter ihnen sind die ärmsten Länder wie Mosambik und Äthiopien mit 80 bis 120 $, aber auch Ölstaaten wie Venezuela und Gabun mit 2500 bis 3000 $ pro Kopf. Zur besseren Orientierung füge ich in Anlage 1a eine Übersicht der Weltbank in der Rangfolge des BSP/Kopf für das Jahr 1989 bei. *

*(Neben den auf Währungsparitäten beruhenden Übersichten zum BSP/Kopf werden von der Weltbank neuerdings auch Übersichten zum Bruttoinlandprodukt (BIP) auf der Grundlage der Kaufkraftparität veröffentlicht. Diese Zahlen, die dem "United Nations International Comparison Program" folgen, tragen noch vorläufigen Charakter und sind bislang nur für einen Teil der Länder ermittelt worden. Sie sind gleichfalls in Anlage 1a aufgeführt.)

Im übrigen versuche ich in diesem Buch mit möglichst wenig Statistik auszu­kommen. Die Wissenschaftlichkeit einer Arbeit hängt nicht vom Angebot an Zahlen und Zitaten ab, sondern vom Annäherungsgrad an die Wirklichkeit. Schließlich ist es mein Anliegen, über persönliche Erfahrungen und darauf gegründete Überzeugungen zu berichten.

Sie beginnen mit meinen Eindrücken über die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen der Gastarbeitertätigkeit in ihren Heimatländern und setzen sich fort in den wirtschaftlichen Wirkungen von Transferleistungen, die dem Konsum dienen, wie Nahrungsmittelhilfe und Kleiderspenden. Es folgt die Frage nach den Rahmenbedingungen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und der Rolle von Entwicklungsträgern, den Eliten in den armen Ländern. Im Zen­trum meines Erfahrungsberichts steht die bisherige Effizienz unserer Entwick­lungsprojekte und ein Rückblick auf die entwicklungspolitischen Prioritäten im Spiegel der öffentlichen Meinung während der letzten 30 Jahre. 

Auf der Grundlage meiner in der Dritten Welt gewonnenen Erfahrungen folgt im zweiten Teil des Buches eine knappe entwicklungspolitische Bewer­tung der heutigen Situation in der Sowjetunion (bzw. ihren Nachfolgestaaten) und unseren neuen Bundesländern.

Im dritten Teil des Buches schließlich versuche ich, Aktionsbereiche und Maßnahmen aufzuzeigen, die allen Menschen auf dieser Erde Heimat schaf­fen könnten.

Im Juli 1992.


Teil 1: Die Dritte und die Erste Welt


1. Einwanderungsland Europa - ein aktuelles Thema

Für die BRD und andere westeuropäische Industrieländer sei die Beschäfti­gung ausländischer Arbeitskräfte und deren Integration in unsere Bevölke­rung nur von Vorteil, betonen die Vertreter der Bundesregierung und zahlrei­che Vertreter des öffentlichen Lebens angesichts der kriminellen Ausschreitungen gegen Asylanten und deren Unterkünfte.

Kein Zweifel, unsere ökonomischen Vorteile bei der Beschäftigung von Ausländern liegen auf der Hand. Ausländische Arbeitskräfte sind in wachsendem Maße an der Steigerung unseres Bruttosozialprodukts beteiligt, sie übernehmen häufig Arbeiten, die von Deutschen ungerne ausgeführt werden, sie und ihre Familien stellen darüber hinaus ein wichtiges Nachfragepoten­tial für unsere Erzeugnisse dar. Insbesondere der Markt für Gebrauchtartikel aller Art findet seine entscheidende Stütze bei unseren ausländischen Mitbür­gern. Sie sind vergleichsweise arm und haben einen hohen Nachholbedarf an Konsumgütern. Last not least tragen ausländische Arbeitskräfte angesichts einer schrumpfenden deutschen Bevölkerung dazu bei, unsere staatliche So­zialversicherung zu stützen.

Ohne Frage: Rechnen wir die wirtschaftlichen Effekte für die Bundesrepu­blik insgesamt aus, so ergeben sich beachtliche Vorteile aus der wachsenden Zuwanderung von Ausländern.

Allerdings sind diese Vorteile für einzelne Gruppen in unserem Lande sehr unterschiedlich. Den zweifellos größten Vorteil ziehen daraus die Unterneh­mer. Zumal aus dem Zuwachs an Arbeitskräften, mit deren Hilfe die Pro­duktion gesteigert werden kann, zweitens aus dem Zuwachs an Konsumen­ten zum Absatz der wachsenden Produktion und drittens übt der Zuwachs an solchen Arbeitskräften eine dämpfende Wirkung auf den Anstieg der Lohn­kosten aus.

Wie verhalten sich die Gewerkschaften?

In ihrer Ausländerfreundlichkeit hat sich während der letzten 20 Jahre ein grundlegender Wandel vollzogen. Bei den wichtigsten Gewerkschaften, wie der IG Metall und der IG Bau, nehmen die ausländischen Arbeitskräfte einen sehr starken Anteil, sowohl an den Beschäftigten der Branche als auch an den gewerkschaftlichen Organisierten ein. Seither gehören die Gewerk­schaften zu den wichtigsten Fürsprechern ausländischer Arbeitskräfte. Aus­länder, insbesondere ausländische Facharbeiter, finden heute somit eine wichtige Lobby, sowohl bei Unternehmern wie Gewerkschaften.

Für den durchschnittlichen deutschen Bürger indessen ist der Zustrom von Ausländern nicht nur mit Vorteilen verbunden, denn er steht mit ihnen in wachsender Konkurrenz bei der Nachfrage nach Wohnraum und in der Be­nutzung der vorhandenen Infrastruktur (Verkehrswege, Ausbildung, Gesund­heitsdienste etc.). 

Beides, Wohnraum und Infrastruktur sind in den letzten Jahren deutlich langsamer gewachsen, als es dem Zustrom an Ausländern entsprochen hätte, und dies hat zu Spannungen geführt.

Aber selbst dann, wenn Wohnraum und Infrastruktur rascher wachsen wür­den, müßte der Bürger über Steuern und Abgaben an seiner Finanzierung be­teiligt werden, also an etwas, was ihm gar nichts nützt, vielmehr seinen Lebens­raum (1992 lebten in den alten Bundesländern rund 253 Einwohner pro qkm) weiter einengt und seine Umwelt weiter belastet.

Ein großer Teil unserer Bevölkerung, wahrscheinlich eine qualifizierte Mehrheit, sieht dem weiteren Zustrom von Ausländern mit großer Sorge entge­gen.

Die Regierung und die im Bundestag vertretenen Parteien versuchen dieser Sorge auf zweierlei Weise Rechnung zu tragen:

Im ganzen sind Parteien wie Regierung aber weit davon entfernt, den Zustrom an Ausländern zum Stillstand bringen zu wollen. Wichtig erscheint lediglich eine Harmonisierung der Wachstumsraten.

Muß bei solch hoher Aufnahmebereitschaft für die Menschen aus den ar­men Ländern mein Herz als Entwicklungshelfer nicht höher schlagen? Die Antwort hierauf finden wir rasch, wenn wir uns der Frage zuwenden, welchen Vorteil die Heimatländer unserer ausländischen Mitbürger aus der Abwanderung von Teilen ihrer Bevölkerung ziehen. Eine Fragestellung, mit der wir endlich zum Thema der Entwicklungspolitik. vorstoßen und zugleich eine Fragestellung, die m.E. allein geeignet ist, einen Maßstab für unsere Aus­länderfreundlichkeit zu liefern. Dabei ist es entwicklungspolitisch unerheblich, ob der aus dem Ausland Zuziehende politisch Verfolgter ist oder Wirtschafts­ flüchtling, deutschstämmig oder nicht.

Als ich im Sommer 1968 mit einem Forschungsauftrag unseres Entwick­lungshilfeministeriums am Institut für ausländische Landwirtschaft der Universität Hohenheim meine Arbeit in der Entwicklungshilfe begann, galt die Türkei, unser Hauptlieferant an ausländischen Arbeitskräften, als ein Schwellenland, das nach Einschätzung von Fachleuten keiner Entwicklungshilfe mehr bedurfte, da es zu einer weiteren selbsttragenden Aufwärtsentwicklung, insbesondere seiner Industrie, künftig allein imstande sein würde.*

*(Der Nationalökonom W. W. Rostrow legte die die nach ihm benannte “Take-off-Peri­ode” für die Türkei auf die Jahre 1933-1961 fest).

Diese Einschätzung hat sich in der Folgezeit, in der immer mehr Türken eine Beschäftigung im Ausland fanden, als Fehleinschätzung erwiesen. Die Türkei ist bis 1992 nicht über das Stadium eines Schwellenlandes hinausgewachsen. Im BSP/Kopf rangierte es in der Weltbankliste unter den Plätzen 67-70 wie schon zuvor; etwa auf der Höhe von Tunesien und Jordanien. Auch unter Berücksichtigung der Kaufkraftparität lag die Türkei l989 hinter Polen und ganz deutlich hinter Ländern wie dem damaligen Jugoslawien und Ungarn. Das größte Wachs­tum verzeichnete der Dienstleistungssektor (Tourismus und Handel). Demge­genüber blieb das Wachstum des Industriesektors, das vom Textilsektor domi­niert wird, deutlich zurück. Auslandsschulden und Inflation nahmen zu. Von l983-89 erhielt die Türkei noch immer öffentliche Entwicklungshilfe in Höhe von durchschnittlich 0,4 % ihres BSP von 1989, wenn auch weniger als der Durchschnitt der Länder ihrer Einkommensgruppe mit 1,3 % des BSP (vgl. Anl. 1b).

Was hat diese Entwicklung mit der wachsenden Beschäftigung ihrer Ar­beitskräfte im Ausland zu tun? Wären die Probleme des Landes ohne die ho­hen Devisenzuflüsse durch die Gastarbeiterüberweisungen in ihre Heimat nicht noch größer? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn wir die wirt­schaftlichen Wirkungen der Gastarbeitertätigkeit für die Türkei analysieren:

Um dies zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, welchen Einfluß oder, besser gesagt, welchen Eindruck die Überweisungen der im westlichen Ausland tätigen Arbeitskräfte auf die zu Hause gebliebenen Teile ihrer Fami­lien, ihre weiteren Verwandten und Freunde ausüben. In den genannten Ländern des Mittelmeerraumes leben etwa 30 bis 50% der Bevölkerung von einer landwirtschaftlichen Tätigkeit. Sie erwirtschaften dort ein Arbeitseinkommen von etwa 5,- bis 15,- DM pro Arbeitstag (den Arbeitstag zu 6 Stunden gerechnet), was einen Stundenlohn von DM 0,80 bis DM 2,50 ausmacht, ohne irgendwelche Zuschläge für soziale Absicherung. In dem noch schwach ausgeprägten Industriesektor liegt das Arbeitseinkom­men für Facharbeiter etwa zweimal so hoch, also zwischen DM 1,50 und DM 5,- pro Stunde. Die Lohnnebenkosten liegen bei 30 bis 60 % verglichen mit 80 % in der Bundesrepublik.

Überweist nun ein türkischer Arbeitnehmer aus der Bundesrepublik oder ein marokkanischer Arbeiter aus Frankreich, wo er vielleicht am Fließband in einer Automobilfabrik arbeitet, 1000 DM bis 1500 DM pro Monat an seine Großfamilie, so wirkt dies gleich doppelt demotivierend auf die im Be­rufsleben stehenden Familienmitglieder und Freunde: Einmal können dort von dem überwiesenen Geld 5 bis 10 Personen leben, zum anderen fühlen sich die lokalen Arbeitskräfte für ihre Arbeit maßlos unterbezahlt. Dies gilt in besonderem Maße für den landwirtschaftlichen Sektor mit seiner vergleichs­weise niedrigen Arbeitsproduktivität. Da dieser Sektor aber in den genannten Ländern nach wie vor dominiert, kann man sich leicht vorstellen, welche Wirkung die Gastarbeiterüberweisungen haben. Anstatt die Gelder produktiv anzulegen, werden sie von den Familienangehörigen für den Kauf von zu­nehmend importierten Basisnahrungsmitteln und sonstigen, meist westlichen Konsumgütern ausgegeben, während die Eigenerzeugung reduziert bis eingestellt wird.

Während der letzten 30 Jahre hat die Bevölkerung in den armen Ländern der Dritten Welt eine unerwartet hohe Präferenz für moderne westliche Kon­sumgüter entwickelt, von der Taschenlampe über den Transistorradio und den Kühlschrank bis zum PKW, aber in keinem dieser Länder wurde diese Präferenz so ausgeprägt wie in jenen, die Teile ihrer Bevölkerung in eben jenen westlichen Ländern in Beschäftigung bringen konnten und die dadurch zugleich die Möglichkeit erhielten, ihre Nachfrage nach westlichen Konsum­gütern zu befriedigen. Wir alle kennen jene ”Gastarbeiterüberweisungen”, die nicht in bar in die Heimat fließen (und daher auch nicht den Devisen­vorrat ihrer Nationalbanken erhöhen), sondern von vornherein in Gestalt westlicher Konsumgüter die PKW unserer ausländischen Mitbürger randvoll füllen, wenn diese auf Heimaturlaub fahren und mit dem Flugzeug zurück­kommen, weil auch der PKW vor Ort günstig verkauft werden konnte.

Die Präferenz für Produkte aus den USA, Westeuropa und Japan ist in allen Ländern der Dritten Welt ungebrochen und stellt seit 30 Jahren ein gewaltiges Hindernis für jeden Unternehmer dar, der, gleichgültig ob als westlicher Ausländer oder als Einheimischer, die gleichen Konsumgüter im Entwicklungsland herstellen und verkaufen möchte. Nur bei einfachen Textilien wendet sich das Blatt inzwischen.

1980 bereiste ich im Auftrag einer Entwicklungshilfeorganisation Malawi, um zusammen mit zwei Experten der deutschen Tabakindustrie die Möglich­keiten für den Anbau von Orienttabak zu erkunden. Wie mir diese Experten versicherten, gab man dem sehr arbeitsintensiven Orienttabakanbau in seinen klassischen Produktionsländern Griechenland und Türkei kaum noch Chan­cen, weil die Bauern nicht mehr bereit waren, Kulturen mit derart niedriger Arbeitsproduktivität anzubauen.

Zur großen Enttäuschung der Tabakexperten mußten wir auch in Malawi feststellen, daß die Bauern wenig Neigung zeigten, sich mit dem vergleichsweise niedrigen Arbeitseinkommen pro Manntag zufriedenzugeben, das der Orienttabakanbau bot, denn ein großer Teil von ihnen konnte sein Geld wesentlich günstiger in den Goldminen Südafrikas verdienen. Erst als Südafrika seine malawischen Gastarbeiter wegen der rückläufigen Goldpreise in ihre Heimat zurückschickte, hatte der Orienttabakanbau in Malawi wieder etwas mehr Chancen.

1975 führte mich meine Arbeit in den Nordjemen. In keinem Land hatte ich zuvor eine so hoch entwickelte traditionelle Landwirtschaft vorgefunden, mit der sich seine Bevölkerung auch unter schwierigsten Umweltbedingungen ihre Lebensgrundlage gesichert hatte. Eine weiträumige Gebirgslandschaft im semiariden Klima war durch mühevolle Anlage unzähliger Terrassen und Bewässerungsgräben für eine saisonale Zusatzbewässerung in eine intensive Nut­zung gebracht worden. Aber wie wurden diese Anlagen, in Jahrhunderten mühevoller Arbeit geschaffen, im Jahre 1975 genutzt?

Der Ölboom hatte ihre armen nomadisierenden Nachbarn, die Saudis, über Nacht zu Millionären gemacht, die es sich fortan leisten konnten, jeden Hand­griff von bezahlten Dienstboten ausführen zu lassen, und bei guter Bezahlung fanden sich solche dienstbaren Geister. Es kamen Palästinenser und sogar Philippinos und es kamen auch die Bauern aus dem jemenitischen Hochland. Bis 1975 arbeitete schon etwa die Hälfte ihrer männlichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in Saudi-Arabien. Die Veränderung ihrer wirtschaftlichen Situation konnte mit der jener Türken verglichen werden, denen es gelungen war, in der BRD Arbeit zu finden. Mit dem, was die jemenitischen Gastarbeiter zu Hause ablieferten, konnten ihre Großfamilien leben. Die mühsame Terrassen­landwirtschaft verkam mehr und mehr. Der landwirtschaftliche Anbau wurde auf die günstigen Tallagen beschränkt und die Bewässerungslandwirtschaft mit Hilfe moderner Tiefbohrgeräte unter Raubbau am Grundwasserspiegel be­trieben. Zur Rentabilisierung der Investitionen wurde vorzugsweise das Rauschmittel Qat angbaut, nicht nur bei der heimischen Bevölkerung begehrt, sondern auch in den Nachbarländern. Der wachsende Bedarf an Grundnahrungsmitteln wurde indessen durch Importe gedeckt. Auch hier führte also die gut bezahlte Tätigkeit von Arbeitskräften im Ausland nicht zur Stimulanz lokaler Produktion, sondern ganz eindeutig zu deren Abbau. Man verließ sich mehr und mehr auf das westliche Ausland und geriet in immer größere Abhängigkeit von dessen Konjunktur, hier: der Nachfrage nach Erdöl.

Ein weiteres Beispiel solcher Wirkungen erlebte ich noch im gleichen Jahr 1975 im Gebiet des östlichen Rifs in Marokko, einer vom Klima besonders benachteiligten Region: marginale Böden, unzureichende Niederschläge, schlechte Verkehrsanbindung. Hier wollte die marokkanische Regierung durch ein von der BRD unterstütztes staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm der verbreiteten Arbeitslosigkeit entgegenwirken und zugleich die Produktionskapazität der Region durch Investitionen in den Ressourcenschutz und die Infrastruktur stärken, also durch Aufforstung, Anlage von Trinkwas­ser- und Bewässerungsbrunnen, durch Feldwegebau etc. Mit anderen Worten: Mit westlicher Hilfe sollten eben jene Maßnahmen neu durchgeführt werden, die aufgrund westlichen Einflußes (Ölboom) im Jemen dem Verfall anheimge­geben waren.

Bei der Prüfung dieses Projekts fiel mir sogleich auf, daß sich trotz hoher Arbeitslosigkeit kaum Arbeitskräfte fanden, um sich am Programm zu beteili­gten. Es waren vorwiegend alte Leute und Jugendliche unter 14 Jahren, die man jedoch kaum zum Wegebau in diesem felsigen Gelände einsetzen konnte. Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter aber hatte weit bessere Verdienstmöglich­keiten als jene Grundnahrungsmittelrationen, die das staatliche food for work­ Programm für harte körperliche Arbeit anbot.

Bereits wesentlich günstiger war es, zeitweilig als Erntearbeiter in anderen Teilen Marokkos zu arbeiten, noch besser natürlich als Saisonarbeiter oder gar permanent Beschäftigter in Frankreich. Den Gipfel an bequemer Verdienst­möglichkeit aber bot die Beschäftigung in der nahegelegenen spanischen Ex­klave auf marokkanischem Boden, dem Freihandelshafen Melilla. Hier ver­diente man als Hilfsarbeiter nicht nur eine harte Währung, man konnte seinen Verdienst darüber hinaus durch den Schmuggel mit zollfreiem Alkohol aus dem Freihafen verdoppeln. Durch die Nähe Spaniens verwandelte sich unser Hilfsprojekt im östlichen Rif in eine tragikomische Farce.

Was unternahm die Bevölkerung mit dem Geld, das sie in Frankreich oder im spanischen Melilla so günstig verdiente? Hier, wie schon in unseren Beispielen aus der Türkei, aus Malawi und dem Jemen, wurde nicht in die lokale landwirtschaftliche Produktion investiert. Die mit deutscher Hilfe verbesserte ländliche Infrastruktur blieb ungenutzt. Vielmehr ließ auch hier die lokale Ei­generzeugung nach und der Konsum von importierten Basisnahrungsmitteln und sonstigen importierten Konsumgütern nahm entsprechend zu. Wer es ge­wohnt war, sein Geld mit einer Produktivität von DM 3000 pro Monat zu ver­dienen, war nicht mehr zu bewegen, sich bei noch größerer Anstrengung nur mit DM 300 pro Monat zufriedenzugeben. Und wer nicht das Glück hatte, DM 3000 zu verdienen, während sein Bruder oder sein Vetter dieses Glück hatte, war entmutigt und versuchte, am Reichtum des Verwandten zu partizi­pieren.

So schädlich dieses Verhalten für ihre Heimatländer und deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist (u.a. hat es auch zu einer beschleunigten In­flation beigetragen), verurteilen können wir dieses Verhalten nicht, ohne uns zuvor die Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen, unter denen diese Men­schen leben.

Eine entwicklungspolitisch zu fordernde produktive Verwendung von Gast­arbeiterüberweisungen setzt im Heimatland eine unternehmerische Tätigkeit voraus, ist also vorrangig eine Aufgabe der Eliten in den Heimatländern (wir bezeichnen sie in diesem Buch als die ”lokalen Eliten”). Unsere ausländischen Beschäftigten gehören in aller Regel nicht zu diesen Eliten. Sie entstammen meist dem kleinbäuerlichen Milieu.

Diese kleinbäuerliche Bevölkerung zu höherer Produktion und Produktivi­tät zu bringen, ist das Hauptziel meiner Arbeit in der Entwicldungshilfe seit 1968 gewesen. Ich glaube, in dieser Zeit eine Vorstellung von der Produktions-­ und Innovationsfreudigkeit dieses Bevölkerungsteils gewonnen zu haben. Ihre tradierte Aufgabe ist die der Subsistenzwirtschaft. 

*(Subsistenzwirtschaft besteht in der überwiegenden Produktion für den Eigenbedarf. Überschüsse werden lediglich vermarktet, um mit dem Erlös Waren des täglichen Be­darfs (Kleidung, Handwerkszeug etc.) zu kaufen.)

Es würde jeder Erfahrung widersprechen, anzunehmen, daß mehr als eine Minderheit von 10 bis 20 % dieser Kleinbauern die persönlichen Voraussetzun­gen dafür mitbringen, ihre Wirtschaft auch unter intensiver Beratung auf eine moderne marktorientierte Produktion unter Wettbewerbsbedingungen umzu­stellen. Auch bei uns war dies nicht der Fall, ganz abgesehen davon, daß ein höherer Prozentsatz als 10 bis 20 % in einer modernen Volkswirtschaft selbst bei hohem Agraranteil im Bruttoinlandsprodukt gar nicht benötigt wird. In der BRD liegt dieser Anteil heute bei 2 bis 3 % der Erwerbstätigen.

Selbst bei günstigen sonstigen Rahmenbedingungen in der landwirtschaftli­chen Produktion darf es folglich nicht verwundern, wenn nur ein kleiner Teil jener Familien, aus denen unsere ausländischen Beschäftigten überwiegend stammen, produktive Verwendungen der Mittel, die sie nach Hause überweisen, finden. Wie wir aber noch sehen werden, sind die Rahmenbedingungen in der landwirtschaftlichen Produktion keineswegs günstig.

Bei meinen zahlreichen Interviews im kleinbäuerlichen Milieu stelle ich den Familienchefs immer wieder die Frage: Was würden Sie mit einer größeren Summe Geldes tun, wenn Sie diese, beispielsweise in der Lotterie, gewinnen würden. Auf diese hypothetische Frage können mir dann auch jene Familien­chefs antworten, die keinen Sohn im westlichen Ausland in Arbeit und Lohn wissen und mit entsprechenden größeren Summen nicht rechnen können und folglich auch gar nicht ohne weiteres die Möglichkeit baben, dieses Geld für westliche Importwaren auszugeben. Jene Inhaber landwirtschaftlicher Klein­betriebe, die spontan eine größere Summe in die Ausweitung ihrer Produktion oder gar in die Verbesserung ihrer Produktivität investieren und dieser Investition Priorität vor anderen Ausgaben geben würden, liegen unter 5 %. Die vor­rangig genannten Ausgabenwünsche liegen fast immer im spekulativen Be­reich: städtischer Grundbeseitz, Viehkauf oder Steigerung des Prestiges. In den islamischen Ländern heißt dies meist Kauf einer weiteren Frau oder Reise nach Mekka.

Wie steht es mit dem Wechsel vom landwirtschaftlichen Subsistenzmilieu in das handwerklich-gewerbliche Milieu? Gemessen an der handwerklichen Aus­bildung, die unsere ausländischen Beschäftigten in der BRD erhalten, erschei­nen sie auf den ersten Blick am besten geeignet, diesen Wechsel zu unterneh­men. Meiner Erfahrung nach liegt aber auch hier die Rate jener ausländischen Beschäftigten, die später in ihrem Heimatland erfolgreich eine selbständige handwerkliche Existenz gründen, bei unter 5 %. Eine Arbeit am deutschen Fließband ist eben etwas völlig anderes, als das handwerkliche Wirtschaften auf eigenes Risiko im Heimatland. *

*(Eine positive Ausnahme ist nur in Regionen mit hohem Tourismus zu erkennen. Hier sind Betriebsgründungen im Bereich der Gastronomie häufig.)

Wie wir es also drehen und wenden, die Aufgabe der Produktion über die Subsi­stenz hinaus, erst recht die innovative Umgestaltung der Produktion, ist Sache einer schöpferischen Minderheit tradierter oder neu aufstrebender Eliten.

Ihre Aufgabe ist es, die Devisenzuflüsse durch jenen Teil der Gastarbeiter­ überweisungen, der in bar - und nicht in importierten Konsumgütern - geleistet wird und folglich der Zentralbank des Heimatlandes zur Bezahlung von importierten industriellen Ausrüstungsgütern zur Verfügung steht, zu unternehmerischen Investitionen zu nutzen. Die unternehmerischen Eliten haben also die Möglichkeit, der für ihre Heimatländer entwicklungsschädlichen Wirkung ausländischer Beschäftigung (Reduzierung des Interesses an Eigenpro­duktion, hohe Präferenz für importierte Konsumgüter) entgegenzuwirken und Devisenzuflüsse der Gastarbeiter dabei produktiv zu verwenden. Wir haben daher in einem besonderen Kapitel der Frage nachzugehen, ob sie diese Möglichkeit  auch  nutzen. Zunächst verdient jedoch einer der negativen Aspekte der ­Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in ihren Heimatländern, nämlich der Abbau landwirtschaftlicher Eigenversorgung, verbunden mit dem wach­senden Rückgriff auf importierte Grundnahrungsmittel, eine nähere Erläute­rung.

    2. Agrarüberschüsse aus Nord und West gegen Arbeitskräfte aus Süd und Ost

So einfach ist es für arme Länder nicht, harte Devisen für den Kauf von Grundnahrungsmitteln auszugeben. Und muß es trotz Gastarbeiterüberweisungen entwicklungspolitisch nicht als ein Widersinn erscheinen, wenn ausge­rechnet jene Produkte, welche die armen Länder bislang stets selbst erzeugen konnten, nämlich ihre Grundnahrungsmittel, gegen harte Devisen importiert werden, die dann für den Import moderner Technologie nicht zur Verfügung stehen?

Die Antwort lautet: Das durch die Gastarbeitertätigkeit - aber nicht durch diese allein - bewirkte zunehmende Ausweichen auf Nahrungsmittelimporte wäre in seinem heutigen Umfang nie möglich gewesen, der Zwang zur Eigen­versorgung wäre weitgehend erhalten geblieben, hätten hier nicht die westlichen Industrieländer kräftig nachgeholfen.

Sie erzeugen ja nicht nur Überschüsse an industriellen Gütern, sondern ha­ben aufgrund einer verfehlten Agrarpolitik schon seit 30 Jahren landwirt­schaftliche Überschüsse auf den Weltmarkt gebracht, und dies in wachsendem Umfang, die im Grunde niemand haben wollte: Zuerst den Weizen, dann den Zucker und schließlich Eiweiß, Öle und Fette. Um sie loszuwerden, mußten sie zu Dumpingpreisen angeboten werden, oder man mußte sie gänzlich verschen­ken.

Wer solche Sonderangebote auf dem Weltmarkt annahm, war den westli­chen Überschußländem gleichgültig. Es ging um eine Subventionierung der eigenen Landwirtschaft zu Lasten des Steuerzahlers, aber man war froh, wenn man dem murrenden Steuerzahler beweisen konnte, daß man damit nicht nur der eigenen Landwirtschaft unter die Arme greife, sondern auch den armen Völkern in der Dritten Welt Hilfe leiste. Mit solchen Argumenten wurde die Entwicklungshilfe vor 30 Jahren geboren.

Es ist bezeichnend, daß sich die westlichen Industriestaaten untereinander nur sehr ungerne mit landwirtschaftlichen Überschüssen beschenken lassen, sich ganz im Gegenteil solche Geschenk- und Dumpingpraktiken energisch verbitten. Die EG schützt sich gegenüber amerikanischen Dumpingpraktiken massiv, z.B. bei Weizen und Soja durch Zölle und Abgaben, denn wir Europäer wissen, daß solche Dumpinggeschenke Danaergeschenke sind. Sie legen die eigene Produktion still, sie erzeugen Arbeitslosigkeit, und ihre Annahme würde bedeuten, ein Feld im Wettbewerb kampflos zu räumen, vor der vor­ übergehenden finanziellen Überlegenheit des Gegners die Waffen zu strecken, ohne den Versuch zu wagen, einer überlegenen Auslandskonkurrenz durch neue Produkte oder Produktivitätssteigerung Paroli zu bieten.

Nein, wir verbitten uns zu Recht solche Geschenke, und obwohl wir uner­müdlich dem Rest der Welt die Wohlfahrtsvorteile ungehinderten Freihandels vorrechnen, schützen wir unsere Märkte ungeniert überall dort, wo uns die Auslandskonkurrenz gefährlich wird, nicht nur bei Weizen und pflanzlichen Ölen, sondern auch bei Textilien, Computern und Automobilen, bei welchen wir dem Fernen Osten Selbstbeschränkungsverpflichtungen abtrotzen.

Ausgerechnet aber gegenüber jenem Teil der Welt, der dringend mehr pro­duzieren muß, der Millionen neue Arbeitspläne braucht und der im Wettbe­werb noch nicht mithalten kann, weil er vor 30 Jahren erst am Anfang eines grundlegenden Innovationsprozesses stand, eben gegenüber jenen Entwick­lungsländern haben wir es mit Erfolg verstanden, unser produktionshemmendes Abladen von Überschüssen nicht nur durchzusetzen, sondern es auch noch mit dem Heiligenschein christlicher Nächstenliebe zu drapieren.

Im Verkehr zwischen Industrieländern spricht man bei solchem Vorgehen von Handelskrieg: ich erinnere an den Hähnchenkrieg, den Weinkrieg, den Sojakrieg bis hin zu der nervenzehrenden Uruguay-Runde in den GATT-Verhandlungen, verbunden mit Drohungen zwischen USA und EG. Das gleiche Vorgehen gegenüber den armen Ländern der Dritten Welt bezeichnen wir aber als Entwicklungshilfe!

In seinem hervorragenden Buch ”A Bent in the River” schreibt der Inder V. S. Naipaul über die Europäer der Kolonialzeit: ”The Europeans wanted gold and slaves, like everybody else; but at the same time they wanted statues put up to themselves as people who had done good things for the slaves. Being an intelligent and energetic people, and at the peak of their powers, they could express both sides of their civilization; and they got both the slaves and the statues.”

Nun, wir Europäer haben die Heuchelei nicht erfunden, aber wir haben darin zweifellos ein besonderes Maß an subtiler Gestaltungskraft entwickelt. Beim Unterbringen unserer Nahrungsmittelüberschüsse in den armen Län­dern haben wir vor allem zwei Passierscheine entwickelt, die der Öffentlichkeit immer wieder als moralisch einwandfrei vorgestellt werden, verbunden mit massiven Spendenaufrufen: Die Katastrophenhilfe und die Unterstützung der Armen.

Bei der Katastrophenhilfe lehrt die Erfahrung, daß häufig ein Vielfaches dessen an Nahrungsmitteln und sonstigen Hilfsgütern geliefert wird, das zur Beseitigung der akuten Lebensgefahr der Menschen erforderlich ist, und daß man regelmäßig ignoriert, welche Hilfe aus der betroffenen Region selbst mo­bilisiert werden kann. Seit wenigstens 25 Jahren werden diese Mißstände bei der Katastrophenhilfe kritisiert, ohne daß eine Besserung der Situation eingetreten wäre. Vor allem scheint niemand daran zu denken, daß die lokale Eigenvorsorge auch für den Katastrophenfall mit zu jener Selbsthilfe gehört, zu de­ren Förderung wir stets vorgeben, beitragen zu wollen. Allein die Tatsache, daß nach 30 Jahren Entwicklungshilfe eine Nahrungsmittelhilfe im Katastrophenfall in fast allen armen Ländern der Dritten Welt immer noch regelmäßig aus dem Ausland kommt, spricht ein deutliches Urteil über den wahren Charakter dieser ”Hilfe”. Seit 30 Jahren heben die Organisatoren der Katastrophenhilfe bei jeder Sendung beschwörend die Arme und beteuern, daß die Nahrungsmittelsendung natürlich nur der Abwendung einer akuten Hungersnot diene und solche Maßnahmen alsbald durch Entwicklungsprojekte zur Hebung der Ei­genversorgung abgelöst werden und sich dann künftig erübrigen würden.