Venetianischer Roman
Der Schnellzug Rom-Wien donnerte, von Mestre kommend, über die Eisenbahnbrücke, die das Festland mit Venedig verbindet, um von dort, nach kurzer Rast, denselben Weg bis Mestre zurückzunehmen und dann die Reise über Pontebba-Villach fortzusetzen.
Am Fenster eines Abteils erster Klasse des direkten Wagens Rom-Wien stand ein noch junger Mann und sah nicht ohne eine gewisse Sehnsucht im Blick auf die Silhouette der »Meereskönigin«, die über die Lagunen hinweg sich fast schwarz gegen das Marineblau des Nachthimmels abzeichnete, auf dem eine phantastisch große, goldige Mondsichel stand und auf das leichtbewegte Wasser glitzernde Goldflitter streute. Zuerst waren es die Türme von Murano, die aus dem Wasser auftauchten, dann, als der Zug der Station näher kam, die Mündung des Canareggio, aus der eben ein beleuchteter kleiner Dampfer nach San Giuliano zueilte, dann der Glockenturm von San Giobbe, und schließlich war der häßliche, nüchterne Bahnhof mit seinem Hasten, Treiben, Rennen und Schreien erreicht.
Mit einem kleinen Seufzer trat der einsame Reisende in dem Abteil erster Klasse von dem Fenster zurück, zog den Vorhang zu, als wünsche er, nicht gesehen zu werden, und hielt zum Überfluß noch eine Zeitung vor, so daß er von außen sicher nicht zu erkennen gewesen wäre, trotzdem die elektrische Lampe in dem Abteil hell genug brannte.
»Noch sechzehn Stunden Fahrt – reichlich!« murrte er mit einem zweiten Seufzer. »Wenn die Nonna Nonna Großmutterwüßte, daß ich ihr so nahe bin – und, hol's der Geier, ich stiege mit Wonne hinaus aus dieser Schüttelmaschine, um sie zu umarmen, die liebe Alte! Sie hat ja nur noch mich und ich sie in dieser weiten Welt! Und sie darf's nicht einmal wissen, wie nahe ich ihr bin, sie kann nicht gerade jetzt denken: Nun ist er angekommen! – und mir einen stummen Gruß zusenden.«
Er lehnte sich tiefer zurück in die Ecke, denn eben war draußen auf dem Bahnsteig die Mütze des Stationsvorstehers, den der Reisende persönlich kannte, vorbeigeeilt. Wie es ihm scheinen wollte, hatte sich dabei der Kopf des Inhabers bewußter Mütze nach dem Fenster emporgereckt, als ob er jemand suche.
»Das fehlte noch«, dachte er, »daß der Brave mich hier so laut begrüßt, daß man es bis nach San Marco hören kann – mit allen Titeln und Würden, damit es morgen in den Zeitungen steht, der Marchese von Terraferma dalla Luna sei – « In diesem Augenblick wurde die Tür des Abteils vom Gange aus aufgemacht, und der Gefürchtete trat herein, schloß sie sorgfältig hinter sich und zog die Vorhänge wieder über die Scheiben. Dann grüßte er feierlich und zog aus der Brusttasche ein geöffnetes Telegramm.
»Herr Marchese, ich habe den Auftrag, Ihnen diese Depesche zu überreichen«, sagte er nicht ohne ein gewisses Zögern. »Sie ist, wie Sie sehen, an mich, den Bahnhofsvorstand in Venedig, gerichtet, und wenn trotz der Unterschrift die Sache keine Mystifikation, kein schlechter Scherz ist – «
Achselzuckend hielt er inne, denn der junge Mann hatte ihm das Telegramm schon aus der Hand genommen und den mit dem Morseapparat gedruckten Inhalt schnell überflogen, der, den bekannten »Depeschenstil« verschmähend, den Wortlaut hatte: »Der Marchese von Terraferma dalla Luna wird mit dem Schnellzuge abends nach neun Uhr im direkten Wagen Rom-Wien eintreffen. Sie sollen ihn, ohne Aufsehen zu erregen, aufsuchen und ihm dieses Telegramm übergeben. Es wird erwartet, daß Sie über diese Angelegenheit absolutes Stillschweigen bewahren. Der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten.« Dann folgte noch eine Reihe unverständlicher Worte.
Der Beamte, ein intelligent aussehender Mann, sah gespannt zu, wie der Marchese die Depesche zweimal las, dann einen Bleistift aus der Westentasche zog und damit die unverständlichen Worte, sie sorgfällig abzählend, nochmals niederschrieb und dadurch einen anderen Inhalt zusammenstellte als den augenscheinlichen. Er fand dabei offenbar seine Vermutung bestätigt, daß diese sonderbare Botschaft nur eine Chiffre war, die jenem sagte, was ihm ein Rätsel bleiben sollte.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Marchese, indem er das Telegramm in seine Brusttasche schob und seine umfangreiche Reisetasche aus dem Netze hob. »Würden Sie die Güte haben, mir einen Facchino Facchino Gepäckträgerzu schicken? Ich bleibe hier.«
»Sofort!« erwiderte der Stationsvorsteher und verschwand ohne weiteres.
Der Marchese setzte den Hut auf, holte den Schirm aus dem Netz herab, steckte ein Buch und die Journale, die auf den Sitzen lagen, in die Taschen seines leichten Sommerüberziehers und übergab dem herbeigeeilten Gepäckträger sein Reisegepäck.
»Gondola!« befahl er kurz und folgte dem Mann den langen Bahnsteig hinab zum Ausgang, durch den sich die angelangte Fremdenflut schon in der Hauptsache hinausgedrängt hatte. Trotz des starken Verkehrs fand er ohne Aufenthalt alsbald eine Gondel.
»Palazzo Terraferma dalla Luna – kürzester Weg!« sagte er dem Gondelier, und dieser legte sich mit respektvollem Gruß alsbald fest ins Zeug. Sich wie ein Aal durch das Gewimmel der vor dem Bahnhof liegenden und abfahrenden Gondeln windend, glitt das lange, schlanke Fahrzeug an der im Mondlicht phantastisch aussehenden Fassade der Kirche der Scalzi vorüber und rechts in den engen, dunklen Rio Marina, dem kolossalen Palazzo Crotta gegenüber, also den enormen Bogen des Canale Grande abschneidend, mitten ins Herz von Venedig hinein.
»So«, dachte der Marchese, sich aufatmend zurücklehnend, »mein sentimentaler Wunsch, die liebe alte Nonna wiederzusehen, wäre ja mit zauberhafter Geschwindigkeit in Erfüllung gegangen. Anders zwar, wie ich mir's geträumt habe, aber – ich habe zu gehorchen. Falls ich mich bei dem Lesen der Depesche nicht getäuscht habe, so – «
Hastig holte er das Telegramm hervor, zog eine elektrische Taschenlaterne aus der Tasche und las bei ihrem genügend hellen Schein den Text noch einmal durch.
»Nein, es ist richtig«, murmelte er nachdenklich, den Blick auf das Blatt heftend, dessen an sich unverständlicher Inhalt in richtiger Lesung den Wortlaut hatte: »Heute nacht Attentat auf Dokument geplant. Bleiben Sie in Venedig und reisen Sie morgen mit Frühdampfer über Triest nach Wien.«
»Also haben die Wände doch wieder einmal Ohren gehabt! Ich möchte nur wissen – Gott verzeih mir's, wenn ich ihr unrecht tue, aber ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß meine reizende Schwägerin – «
Mit einem heftigen Ruck stellte er die Taschenlampe wieder ab, steckte sie ein und faltete das Telegramm zusammen.
»Hätte ich dem Verdachte Worte geben sollen? Hätte ich's müssen?« überlegte er. »Ein Verdacht ist ein Nichts ohne den Schatten eines Beweises – und sie ist meines leiblichen Bruders Witwe, er hat sie geliebt und sterbend meiner Fürsorge empfohlen. Das hält sie natürlich nicht ab, gegen mich zu intrigieren. – Nun, wenn sie wirklich dahintersteckte, dann war ihre Fürsorge ja, wie es scheint, ein Schlag ins Wasser, unser Geheimdienst einmal ihrem überlegen.«
Der Marchese Terraferma bekleidete den Posten eines Sekretärs beim Minister der Auswärtigen Angelegenheiten in Rom und befand sich auf der Fahrt, um ein Dokument von höchster politischer Wichtigkeit an das Kabinett in Wien zu überbringen. Es war kurz vor Beginn des italienisch-türkischen Krieges und die Geheimhaltung des Dokuments, an dessen Inhalt die Türkei das höchste Interesse hatte, folglich von der größten Wichtigkeit, weil eine nur annähernde Kenntnis zu den schwerwiegendsten Konsequenzen führen konnte. Der junge Diplomat war sich sehr wohl der Verantwortlichkeit bewußt, die der ehrenvolle Auftrag, das Dokument an seinen Bestimmungsort zu bringen, ihm auferlegte, und er wußte genau, daß diese unerwartete Reise keine gefahrlose war; er wußte aber auch, daß er sich auf sich selbst verlassen konnte, daß er wachsam war und sich keiner Nachlässigkeit schuldig machen würde. Denn abgesehen davon, daß er den Dienst im Interesse seines Vaterlandes als die höchste Pflicht auffaßte und verstand, war es für ihn eine Ehrensache, in der diplomatischen Laufbahn vorwärts zu kommen, und dieser Auftrag, mit dem er sich unterwegs befand, war sicherlich eine Sprosse auf der Leiter, die er erklimmen wollte und mußte. Vor knapp einem Jahre erst war er in den Besitz seines Titels durch den Tod seines älteren Bruders gelangt und damit der Chef seines Hauses, eines der ältesten Patriziergeschlechter Venedigs, geworden.
Die Terraferma, ursprünglich Arrigo genannt, waren unter den ersten, die vom Festlande, der Terra ferma kommend, sich in dem erstehenden Venedig ansiedelten, und erhielten daher ihren Namen, der ihnen verblieb. Die Familie blühte auf, erlangte große Reichtümer und teilte sich im Laufe der Zeit in mehrere Linien, die sich durch Zutaten in dem Wappen unterschieden und nach diesen benannt wurden, wie es in Venedig der Gebrauch ist. Da später das Stammhaus der Terraferma zur bleibenden Erinnerung an eine erfolgreiche Seeschlacht gegen die Türken, die einer seiner großen Männer befehligt hatte, zur Auszeichnung einen Halbmond in den mit einem silbernen Bande belegten purpurnen Schild erhielt, so gab der Volksmund ihm den Beinamen »dalla Luna«, den es schließlich offiziell annahm und fortführte.
Im Laufe der Zeiten erloschen die Seitenlinien des Hauses wieder, ihre Paläste kamen in fremde Hände, nur die Terraferma dalla Luna überlebten das Absterben der so zahlreich gesproßten Äste, und wenn auch der einstige Reichtum des Geschlechtes längst legendär geworden war, so hatte es sich doch sozusagen über Wasser gehalten. Es war noch reich zu nennen gewesen, als der letzte Marchese das Erbe seines Vaters antrat. Eine junge, schöne, mittellose Russin aus großem Hause aber hatte es verstanden, als die von ihm erwählte Gemahlin die Finanzen stark ins Wanken zu bringen, und als er sie, jung noch, nach kurzer, heftiger Krankheit als kinderlose Witwe zurückließ, hatte der Erbe, sein jüngerer Bruder Giovanni oder Gian, wie der Name im Venezianischen abgekürzt wird, alles zu tun, um wenigstens die schon gemachten Schulden zu begleichen und wieder Ordnung in die Finanzen zu bringen. Gian dachte auch nicht daran, die eingeschlagene diplomatische Laufbahn zu verlassen, denn er war nicht nur im guten Sinne ehrgeizig, sondern auch arbeitslustig und hätte ein zweck- und zielloses Dasein, wie es sein Bruder geführt, gar nicht ausgehalten. Das lag auch eigentlich nicht in der Tradition seines Hauses, das im Laufe der Jahrhunderte eine wahrhaft glänzende Reihe von Staatsmännern, Feldherren zu Land und zur See, ja im vierzehnten Jahrhundert sogar einen Dogen hervorgebracht, der das alte Stammhaus am Rio Terraferma zu dem Prachtpalaste umbaute, den der Durchschnittsreisende zwar nicht zu Gesicht zu bekommen pflegt, der aber das Entzücken und die Begeisterung des Kenners venezianischer Gotik erregt.
Der Palast liegt tief im Herzen Venedigs, dem Fremden schwer auffindbar, mit seiner grandiosen, dreistöckigen Fassade südlich gegen den schmalen Kanal, den jetzt eine häßliche eiserne Brücke überspannt; sie dient zugleich als Ausgang für das wundervolle, kleinere, arabisierende Portal in der Westecke. Im Osten streckt der Bau sich die ganze Länge eines Sackkanals entlang, im Westen liegt er an einer engen Gasse oder Calle, die nach dem Palast ihren Namen führt, und im Norden wird er abermals durch eine schmale Gasse begrenzt, die dort, ein scharfes Knie bildend, in einen der größten Plätze der Stadt mündet, palastumsäumt, von einer sehr alten Kirche mit schlankem Kampanile begrenzt. Die Fassade mit ihren schönen Verhältnissen, ihren interessanten Kapitälen, ihren eleganten Fenstern und Loggien war früher mit Fresken von Salviati bedeckt, von denen keine Spur mehr geblieben ist, aber wie sie heute noch steht, ist sie ganz wunderbar schön in malerischer Pracht und Färbung. Am Nordende enthält der Palast einen Lichthof, von säulengetragenen Loggien umgeben, die sich bis ins dritte Stockwerk übereinander aufbauen und im Erdgeschoß düstere Hallen bilden. Hier öffnet sich im Osten ein Portal nach dem Sackkanal, im Westen ein solches nach der Calle, nach der noch eine zweite Tür unter einer loggienartigen byzantinischen Fensterreihe, die von einem wunderbar gearbeiteten Eisengitter bedeckt ist, führt.
Der ganze große Palast wurde für gewöhnlich nur von einer einzigen Person bewohnt, von der Großmutter des jetzigen Besitzers. Sie hatte die mutterlosen Kinder ihres Sohnes, der seiner jungen Gattin schnell in die Ewigkeit nachgefolgt war, erzogen und ihnen die fehlenden Eltern nach besten Kräften ersetzt. Sie war selbst eine Venezianerin, die einst durch ihre Schönheit berühmte Tochter eines der ältesten Geschlechter, das den ersten Dogen von Venedig gewählt, eines der berühmten Zwölf, daher die Apostolischen genannt, das der Republik selbst nicht weniger als acht Dogen gegeben hatte. Obgleich Gegnerin der internationalen Ehen, hatte sie doch gute Miene zum bösen Spiel gemacht, als ihr ältester Enkelsohn die Tochter des durch Spiel ruinierten russischen Fürsten heimgeführt, und der Prinzessin In Italien behält die Frau Ihren Titel, wenn er ein höherer ist als der ihres Gattenals etwas Selbstverständliches den Vortritt gelassen.
Das war aber nur bei den seltenen Gelegenheiten nötig, wenn die junge Frau Venedig einen kurzen Besuch abstattete, denn sie fühlte sich dort nicht wohl: sie fürchtete sich in dem riesigen Haus mit seinen endlosen, düsteren Räumen, die sie gleichwohl oder vielleicht eben deshalb gründlich durchstöberte; sie haßte das einförmige, stille Leben in dem alten Patrizierhause und zog Rom mit seiner lebhaften, niemals zur Ruhe kommenden Geselligkeit vor. Dort war sie auch nach dem Tode ihres Gatten Don Pietro geblieben, und weil auch Don Gian, ihren Schwager, sein Beruf in der Metropole Italiens festhielt, so wurde es immer stiller im Palazzo dalla Luna, trotzdem seit Jahr und Tag die junge Schwester Don Gians, die aus ihrer Klosterschule gekommen war, bei der Großmutter weilte. Aber die junge Dame verlangte es nicht nach lärmenden Lustbarkeiten; sie war eine ernste, sinnige Natur, die glücklich war, ihrer geliebten Nonna bei den Werken christlicher Nächstenliebe und den Bestrebungen zur Hebung der Frauenarbeit helfen und zur Seite stehen zu können.
Also waren es, streng genommen, zwei Personen, denen der Palast zur Heimat diente, wenn schon eigentlich nur die alte Marchese genannt wurde, falls jemand fragte, wer dort drinnen wohnte; denn der Venezianer ist konservativ, und Donna Loredana war ja noch so jung und noch zu kurz im Haus, als daß man sich gewöhnt hätte, sie mitzuzählen.
Diesem seinem Palaste also fuhr Don Gian Arrigo, Marchese von Terraferma dalla Luna, an jenem mondhellen Abend entgegen, da das chiffrierte Telegramm so jäh und unerwartet seine Reise unterbrochen hatte. Er ließ die Gondel vor dem Hauptportal inmitten der Fassade anlegen und mußte öfters den schweren bronzenen Klopfer herabfallen lassen, ehe der alte, im Dienst des Hauses ergraute Portier öffnete und fast auf den Rücken fiel, als er seinen jungen Herrn vor sich erblickte.
»Ein Nachtquartier will ich, alter Brummbär!« rief Don Gian lachend und ihm seine Reisetasche übergebend. »Was macht die Marchesa? Ist sie schon zur Ruhe gegangen?«
»Was denken Sie? Es ist ja noch nicht zehn Uhr, und Ihre Exzellenz ist doch kein Kind mehr!« verwahrte sich der Alte gegen diese Zumutung mit der Vertraulichkeit eines Dieners, der seinen Herren auf den Armen getragen und aufwachsen gesehen hat. »Ich werde gleich dem Sebastiano klingeln und dem – «
»Wie vielen denn noch!« wehrte der Marchese ab, der inzwischen den Gondoliere bezahlt und entlassen hatte. »Laß den Majordomo und den Burschen, wo sie sind – ich will die Nonna überraschen. Klingle lieber der Nina, damit sie mein Zimmer richtet! – Meine Schwester ist doch zu Haus?« »Wo sollte sie wohl sein?« war die mürrische Antwort, denn der alte Agostino liebte Überraschungen nicht, die ihn aus seiner Ruhe brachten. »Sie sind im Salon der Frau Marchesa, soviel ich weiß – Eccellenza, Donna Loredana und die – «
Aber der Marchese hörte die Aufzählung der Liste nicht mit an, denn er eilte schon durch die mächtige Eintrittshalle die breite Treppe hinauf. Es fiel ihm nur beiläufig auf, daß der Vorsaal im ersten Stock, dem Piano nobile, erleuchtet war, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte, wenn die Marchesa allein war, denn sie bewohnte nach venezianischer Sitte das zweite, das sonnigere und luftigere Geschoß, während das erste für gewöhnlich nur dem Empfange und der Repräsentation dient. Es war schon lange die Rede gewesen, für die alte Dame einen Aufzug bauen zu lassen, aber sie hatte der Ausgabe wegen nichts davon wissen wollen, rüstig wie sie ja noch war und an die endlosen Treppenfluchten der venezianischen Paläste gewöhnt.
Don Gian freilich war jung und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf zum zweiten Stock, wo er leise die Tür zum Salon seiner Großmutter öffnete und lachend in der Vorfreude der Überraschung seines unerwarteten Erscheinens durch den Spalt hineinsah. Aber der Salon, behaglich mit schönen, alten Möbeln eingerichtet und mit grünverschleierten elektrischen Lampen beleuchtet, war leer. Nur das noch nicht völlig abgetragene Teegeschirr verriet, daß er eben noch benützt worden war.
Selbstverständlich fiel ihm auch hier nur beiläufig auf, daß drei leere Tassen auf dem runden Tisch standen statt zwei. Ohne dem weiter Beachtung zu schenken, durchschritt er den großen, eleganten Raum und schlug den schweren, purpurnen Samtvorhang der rechten Tür auseinander. Hier, in ihrem Boudoir mit den zierlichen, mit gelber Seide bezogenen Empiremöbeln saß die Marchesa an dem Schreibtisch – allein, aber eine Figur, die so in ihre Umgebung paßte, daß diese in der Tat ein Ausdruck ihrer Individualität schien: groß und schlank und aufrecht sich tragend wie eine Königin, mit einem blassen, runengezeichneten, edelgeschnittenen Gesicht wie altgewordenes Elfenbein, mit gütigen, dunklen Augen und schweren, schwarzen Brauen, zu denen das schneeweiße, wellige und modern frisierte Haar wie gesponnenes Silber kontrastierte – so saß sie, schwarzgekleidet, vor dem aufgeklappten Schreibsekretär, in der weißen, von alten, kostbaren Brillantringen blitzenden Hand die Feder im goldenen Halter – ein Genrebild, für das die heutige Kunst keine Augen mehr hat.
»Nonna!« rief Don Gian halblaut.
»Da! Nun habe ich einen Klecks gemacht! Nein – die Leute so zu überfallen und zu erschrecken – ist das eine Manier?« war die mit strahlenden Augen gegebene Antwort, und im nächsten Augenblick hielten Großmutter und Enkel sich umschlungen zu einer Umarmung, die wahrscheinlich den Spott der modernen Jugend herausgefordert hätte, welche die Zuneigung, Liebe und Zusammengehörigkeit des Blutes und den Zement der Dankbarkeit verneinen und aus der Welt schaffen möchte. »Wo kommst du her, Gian? Ist etwas geschehen? Doch was dich auch so unerwartet herführt: willkommen, tausendmal willkommen!«
»Nein, es ist nichts passiert, was man darunter versteht«, versicherte Don Gian, noch einen Kuß auf die schöne, edle Stirn der alten Dame drückend. »Ich bin – was du aber für dich behalten mußt – in einer diplomatischen Mission auf dem Wege nach Wien und erhielt, in Venedig angelangt, telegraphischen Befehl, hier zu übernachten und morgen früh mit dem Schiff weiterzufahren. Das ist des Rätsels Lösung – falls man es so nennen darf, denn ich weiß selbst nichts Genaueres. Also bitte ich um ein Nachtquartier und freue mich nur, daß du dich nicht schon ganz zurückgezogen hast.«
»Ich hatte einen Brief zu schreiben – wir waren eben noch zusammen im Salon, ich, Loredana und – und Xenia«, erwiderte die Marchesa etwas zögernd und mit einem scharfen Blick auf ihren Enkel.
»Xenia? Xenia ist hier?« fragte Don Gian zurückfahrend und mit plötzlich sehr ernstem Gesicht. »Meine Schwägerin?« wiederholte er. »Aber ich bin ihr ja gestern erst noch auf dem Pincio begegnet, und sie hat kein Wort davon gesagt, daß sie nach Venedig reisen wollte.«
»Sie kam heute nachmittag ganz unangemeldet, ohne Angabe des Grundes ihres seltenen Besuches – lachend, launisch wie immer«, erklärte die Marchesa achselzuckend.
»Sie ist also mit dem Nachtzuge von Rom abgereist und muß es am Nachmittage, als ich sie zufällig traf, doch gewußt haben, daß sie nach Venedig wollte!« rief Don Gian, immer noch ganz erstaunt. »Ich möchte wissen – «
»Sie hat dir also nichts – «
»Nichts hat sie gesagt, was auch nur die Reise aus dem Stehgreif hätte ahnen lassen. Sie war wie immer, lachend und spottend. Unser früherer Neckfuß ist längst zum Duell mit mehr oder weniger gedeckter Spitze geworden, und ich bekenne offen, es ist keine Liebe zwischen uns beiden verschwendet. Aber sie muß doch einen Zweck gehabt haben – ihn haben, Nonna! Hat sie – um's knapp zu fassen: braucht sie Geld?«
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Sie hat's wenigstens bis jetzt mit keiner Silbe durchblicken lassen, daß es das ist, was sie hergeführt. Es wäre ja auch so zwecklos gewesen – «
»Ja, und ich glaube auch nicht, daß sie Geld will oder braucht«, meinte Don Gian mit der gleichen Bewegung. »Denn – ich weiß nicht, Nonna, ob du es nicht schon aus einer anderen Quelle erfahren hast: Xenia lebt seit Monaten auf dem Fuße unbeschränkter Mittel! Wie macht sie das mit ihrem Wittum? Kostbare Toiletten in Weiß und Schwarz – der Halbtrauer wegen, ein Auto allerneuesten Modells, Juwelen, die ich früher nie an ihr gesehen, eine Wohnung im Palazzo Barberini, in der sie Hunderte von Gästen empfangen kann, ohne die Zimmer zu füllen. Woher kommt das alles? Ich – ich wage es kaum, mir die Antwort zu geben.«
»Gian!« rief die alte Dame erschrocken. »Das höre ich zum ersten Male! Willst du damit sagen – «
»Nein – nein!« wehrte er ab. »Es knüpft sich kein Skandal an ihren Namen; ich habe wenigstens nie etwas gehört, was darauf schließen ließe, was freilich nichts sagen will, denn die Angehörigen sind ja immer die letzten, die so etwas erfahren. Xenia ist kokett, das wissen wir alle längst, aber sie hat sich nie kompromittiert. Dazu ist sie zu klug und zu kalt. Aber ich habe mich oft schon mit wachsendem Unbehagen gefragt, ob der Luxus, mit dem sie auftritt, nicht eine – eine Bezahlung für gewisse Dienste ist, die sie – «
Er stockte und sah die Marchesa an, die sich mit einem scharfen Atemzuge zurücklehnte.
»Gian! Du willst doch damit nicht sagen, daß deines Bruders Witwe eine – eine Spionin ist?«
»Das ist ein häßliches Wort, Nonna mia. In unserer diplomatischen Sprache nennt man solche Leute geheime politische Agenten. Ich will das nicht mit dürren Worten gesagt haben, denn ich habe nicht den Schatten eines Beweises für diesen Verdacht, für diesen Gedanken, wollen wir sagen, da es sich um meines Bruders Witwe handelt. Schon deswegen nicht, weil ich ja gar nicht zum engeren Kreise ihrer Intimen gehöre und folglich auch nicht weiß, wen sie bei sich empfängt. Das mag meine Schuld sein, denn ich habe mich absichtlich zurückgehalten, um den bösen Zungen kein Futter zu geben.«
»Sehr richtig. Xenia ist eine sehr schöne junge Frau, und wenn du auch zehnmal ihres verstorbenen Mannes Bruder bist, so könnten die bewußten bösen Zungen doch auf den Gedanken verfallen, daß seine Stelle dir begehrenswerter erscheint als die eines Schwagers«, fiel die Marchesa ein.
»Eben darum«, bestätigte Don Gian den Einwurf. »Ich habe mich natürlich gehütet, es den Leuten zu erzählen, daß es für mich keine unsympathischere Person gibt als meine schöne Schwägerin, die ihrerseits es hoffentlich aufgegeben hat, sich mit mir zu identifizieren, nachdem sie erkannt hat, daß ich kein Roß für ihre Siegesquadriga bin und sein will. – Doch lassen wir Xenia, sag mir lieber, wie es Lore geht.«
»Gut, wie ich denke«, erwiderte die Marchesa zerstreut. »Willst du sie nicht noch sehen? Sie ist eben erst hinausgegangen. Sie hat die Zimmer über mir im dritten Stock bezogen und diese in der Hauptsache mit Büchern vollgestopft. Sie lebt von Büchern, das liebe Kind – oh, und dabei fällt mir ein: Xenia hat die sonderbare Laune gehabt, die Zimmer unten im Piano nobile, darunter das Rosazimmer, beziehen zu wollen. Wo sie doch früher immer erklärt hat, Rosa kleide ihr nicht. Es mache sie gelb wie eine reife Mispel! Aber kaum angelangt, hatte sie den Wunsch nach dem Rosazimmer. Nun, mir kann es ja recht sein, aber diese springenden Wünsche, diese Launen sind mir so verhaßt, daß ich – «
»Nun, vielleicht hat Xenia inzwischen die Entdeckung gemacht, daß Rosa ihr trotzdem steht«, meinte Don Gian trocken. »Ich würde ihrer ersten Ansicht sein, denn das klare Oliv ihres Teints ist entschieden vorteilhafter auf einem anderen Hintergrunde. Aber ich kann mich ja täuschen. – Also Lore wächst sich zum Bücherwurm aus! Du wirst wohl daran denken müssen, mein Schwesterchen etwas mehr der Welt zu zeigen.«
Die alte Dame seufzte. »Ich will nächsten Winter einen Ball geben, trotzdem Loredana davon nichts wissen will. Sie meint – Halt! Ging im Salon nicht die Tür? Vielleicht ist sie es – nein! Deine Schwester pflegt sich nicht durch ein solches Froufrou anzukündigen. Xenia kommt!«
»Ist's erlaubt?« fragte eine tiefe, melodische Stimme hinter dem Vorhang, dessen Falten eine kleine, wundervoll gemodelte, von Ringen blitzende Hand zurückschlug, und ihre Inhaberin, eine zierliche, elfenhafte Gestalt in vielleicht etwas zu eleganter Abendtoilette von schwarzem, paillettenfunkelndem Chiffon schlüpfte hindurch. Auf der tadellosen Säule ihres wirklich schwanenartigen Halses saß ein kleiner, schöngeformter Kopf mit krausen Haar von der Farbe erloschener Goldbronze; große, dunkle Augen, viel zu groß fast für das kleine, zarte Gesichtchen mit dem süßen Munde und den entzückendsten Grübchen in den zarten Wangen, sahen unter zierlich gezeichneten Brauen mit Kinderblick in die Welt, und nur das feine, gebogene Näschen hätte dem scharfen Beobachter verraten, daß in diesem holden Geschöpfe, das wie ein eben aus dem Pensionat gekommener Backfisch aussah, ein starker Wille und auch die Kraft, ihn durchzudrücken, saß.
»Großmama, ich komme noch, dich um ein Buch zu bitten, denn ich werde doch nicht schlafen können«, begann die Marchesa Xenia di Terraferma, Prinzessin Bodnikoff. Dann stieß sie einen kleinen Schrei aus, der Don Gian auf die Nerven ging, weil er ihn als unnatürlich und gemacht berührte. »Gian, du bist's!« rief sie aus, indem sie die Hände zusammenschlug. »Ja, träume ich denn? Wir sahen uns doch erst gestern, und da hast du kein Wort davon verlauten lassen, daß du nach Venedig reisen wolltest!«
»Ich kann dir diesen Vorwurf Silbe für Silbe zurückgeben, verehrte Schwägerin«, erwiderte der Marchese.
»Mir!« rief sie lachend. »Als ob du nicht wissen könntest, daß ich ein Geschöpf bin, das plötzlich eine Idee faßt, um sie in nächster Minute auszuführen. Mir fiel ein, daß ich Großmama endlich einmal wiedersehen wollte, und da – «
»Das hast du ganz vergessen, bei deiner Ankunft zu erwähnen«, fiel die Marchesa trocken ein.
»Habe ich? Aber das lag doch so auf der Hand, daß es der Erwähnung gar nicht bedurfte«, erwiderte Donna Xenia, indem sie neben die alte Dame trat und ihren reizenden Kopf an deren Wange rieb.
»Hm, du hast eigentlich von der ersten Minute an nur deiner Sehnsucht nach dem Rosazimmer Ausdruck gegeben«, meinte die Marchesa mit freundlicher Neckerei, denn sie war viel zu gütig, um ernstlich zu grollen.
»Ja, denk dir, das Rosazimmer fiel mir unterwegs ein«, plauderte Donna Xenia wie ein Kind, das etwas Wichtiges erzählt. »Da hat sich die Idee, darin zu wohnen, so fest in meine Gedanken gebohrt, daß ich gleich damit herausplatzte. Und in der Tat – das Rosa, dieses alte Rosa vergangener Zeiten steht mir bei künstlichem Lichte ausgezeichnet. Ich wollte das einmal ausprobieren, denn wenn ich erst wieder anfange, Farben zu tragen – du verstehst, Großmama, daß man daran denken muß – nicht wahr? Also – ich mußte wissen, wie Rosa mir steht, und – «
»Und da war's also das Rosazimmer, dem dein Besuch galt, nicht mir!«
»Ein ganz, ganz, ganz klein wenig«, gab Donna Xenia mit einer neuen Liebkosung wie ein ertapptes Kind zu, während Don Gian dabeistand und die Gruppe mit sonderbaren, recht unangenehmen Gefühlen betrachtete. Und dabei war's eigentlich eine ganz reizende Gruppe Aber er hatte dafür im Augenblick nicht den rechten Sinn, weil er sich den Kopf mit der Lösung eines Rätsels zerbrach.
»Hm – ja, und dieses Rosa, diese spezielle Nuance ist eigentlich ganz entzückend, besonders bei elektrischem Licht«, fuhr Donna Xenia zu plaudern fort. »Wo wird man sie aber herbekommen, wenn man sie über kurz oder lang einmal braucht? – Weißt du was, Großmama, dann läßt du die Vorhänge des Betthimmels abnehmen und schenkst sie mir zu einem Kleide – nicht wahr? O bitte, bitte!«
»Welche Idee!« sagte die Marchesa sichtlich erheitert. »Ein Kleid aus einem Bettvorhang, der hundertfünfzig Jahre alt ist, ja noch älter sogar! Für ein Maskenkostüm – das ließe sich hören! Aber ich habe hier nichts zu verschenken, denn dies Haus gehört nicht mir, sondern Gian.«
»Richtig, dies Haus gehört Gian!« rief Donna Xenia mit einem Gesicht, als hätte sie etwas ganz Neues erfahren. »Wer weiß, ob er wirklich so galant sein würde, für mich das Rosazimmer zu plündern – übrigens bin ich gar nicht mehr so sicher, daß es mich glücklich macht, es zu bewohnen. Bei Tage ging's noch an, aber als ich vorhin hinabkam, müde, wie ich war, verging mir plötzlich der Schlaf, und es fing mich an dermaßen zu frieren, daß mir's die Zähne zusammenschlug. Und dabei ist es doch so warm draußen – «
»Unbewohnte Zimmer haben das an sich. Ich sagte dir gleich, daß ein solcher Staatsraum kein gemütlicher Platz zum Bewohnen ist«, erwiderte die Marchesa. »Er wird ja regelmäßig gelüftet wie alle Zimmer drunten, aber wer hat je darin gewohnt? Wünschest du nun doch zu wechseln?«
»Nein – nein! Auf keinen Fall würde ich mich so blamieren wollen!« wehrte Donna Xenia lachend ab. »Wer sich die Suppe einbrockt, soll sie auch ausessen!«
»Seit wann hast du diese Weisheit gelernt?« erkundigte sich Don Gian grimmig.
»Hm – die Weisheit kommt mit dem Alter«, erwiderte sie kokett.
»Gott sei Dank!« murmelte er ziemlich deutlich.
Donna Xenia schnitt ihm eine Grimasse. »Woher kommt es nur, daß Verwandte immer so unangenehm sind?« fragte sie naiv.
»Kinder, vertragt euch!« ermahnte die Marchesa etwas nervös. »Liebe Xenia, ich vergaß vorhin zu sagen beziehungsweise dir anzubieten, daß Lucia natürlich in deinem Ankleidezimmer schlafen soll, weil du ja deine Kammerjungfer nicht mitgebracht hast.«
»Was? Du bist allein gekommen? Ohne deine Kammerjungfer?« fiel Don Gian ein. »Ja, um alles in der Welt, wie kommt denn das?«
»Reinweg vergessen!« sagte Donna Xenia lachend. »Mein Entschluß zu dieser Reise war ein so plötzlicher, daß ich ganz vergaß, Cesarina mitzunehmen. Und die dumme Gans hat mich nicht daran erinnert – das ist das Tollste! Sie fängt an, vergeßlich zu werden, diese Cesarina, und war wahrscheinlich heilfroh, Ferien zu haben. Aber ich werde sie dafür zausen, darauf könnt ihr Gift nehmen! – Lucia? Nein, danke, Großmama! Fremde Personen in meiner Nähe machen mich nervös – ich würde keinen Augenblick schlafen können, wenn sie nebenan wäre. Ich fürchte mich gar nicht, absolut nicht! Und dann – Gians Schlafzimmer ist ja über dem meinen. Sollte ich etwas Verdächtiges hören oder merken, dann werfe ich einfach meinen Stiefel an die Decke – «
»Worüber die Fresken von Tiepolo natürlich begeistert sein würden«, fiel Don Gian ein. »Herr des Himmels, jetzt hat dieser Mensch Angst für seine Fresken – nicht etwa für mich, die ich nur im äußersten Notfalle von diesem Mittel, Hilfe zu heischen, Gebrauch machen würde!« rief Donna Xenia hellauf lachend, aber es klang gereizt, besonders als sie hinzufügte: »Schlaf ruhig, bester Schwager! Als ich selbst vor einem Jahre noch Herrin dieses Hauses war, hätte ich Gelegenheit genug gehabt, deinem Tiepolo alle meine Stiefel an den Kopf zu werfen. Er ist, soviel ich weiß, unter meiner Herrschaft ganz unversehrt geblieben.«
»Gute Nacht, Nonna«, sagte Don Gian trocken. »Ich gehe noch zu Loredana und dann ins Bett – Auf Wiedersehen!« setzte er mit Betonung hinzu.
»Ja, willst du denn nicht noch etwas zu dir nehmen?« fragte die alte Dame mit einem antwortenden Blick, der ihm sagte, sie habe verstanden, daß seine Abreise am nächsten Morgen nicht erwähnt werden solle.
Er lehnte dankend ab, denn er habe im Speisewagen soupiert und wolle sich nur noch eine Limonade bringen lassen.
»Bist du zu deinen vielen Tugenden auch noch zum Blauen Kreuz übergegangen?« rief Donna Xenia.
»Übergegangen nicht unbedingt. Aber ich halte dafür, daß die Abstinenz der Wachsamkeit förderlich ist, und Wachsamkeit, verehrte Schwägerin, ist eine der Kardinaltugenden des Diplomaten«, entgegnete Don Gian.
Damit küßte er seiner Großmutter die Hand, machte seiner Schwägerin eine Verbeugung und verließ das Zimmer, um sich geradewegs nach dem dritten Stockwerk hinaufzubegeben, in dem seine Schwester mit dem größten Teil der Dienstboten wohnte. Nur Agostino, der Portier, hatte seine Wohnung im Erdgeschoß neben der Wasserpforte des Kanals.
Diesmal stieg Don Gian die Treppe sehr langsam hinauf und stand sogar öfter still; aber nicht, weil sie ihn ermüdete, sondern weil seine Gedanken ihn zurück hielten. »Erstens: warum ist sie nach Venedig gekommen? Zweitens: warum ist sie plötzlich auf das Rosazimmer so versessen? Drittens: warum hat sie ihre Kammerjungfer nicht mitgebracht, sie, die nicht imstande ist, sich ein Schuhband selbst zu knüpfen?« fragte er sich zum zehnten Male. »Ich glaube kein Wort von ihren Erklärungen. Nicht ein Sterbenswort. Gilt alles das mir oder vielmehr dem Dokument, das ich bei mir trage? Ist das Geheimnis dieses Vertrages durchgesickert, der Zweck meiner Reise, von der ich gestern, als ich Xenia begegnete, selbst noch keine Ahnung hatte, da ich meinen Auftrag erst gestern nacht erhielt? Das gliche ja aufs Haar der Hexerei! Das also kann ihr Zweck nicht gewesen sein, und doch, und doch – ich kann den Verdacht nicht loswerden, daß diese Reise nach Venedig, ganz allein, ohne Bedienung, einen Hintergrund hat, eine Absicht verfolgt, ein Ziel hat. Ihre sogenannten Launen haben alle ein Ziel!«
Jede Treppe nimmt einmal ein Ende, auch die, die in ein anderes Stockwerk in einem italienischen Palast führt, und Don Gian befand sich oben, ehe er auch nur eine annähernd befriedigende Antwort auf seine Fragen gefunden hatte. Er klopfte an die Tür des Salons seiner Schwester und fand sie lesend unter der Lampe eines mit Büchern bedeckten Tisches sitzend – eine noch überschlanke, feingemodelte Figur mit einem rassigen Kopfe, großen, verträumten, dunkelblauen Augen und einer Fülle rotblonden Haares, in dessen hochaufgebauschter Frisur sie beide Hände im Eifer der Lektüre vergraben hatte.
Gian! Giannino!« rief sie bei seinem Anblick wie ungläubig und flog ihm stürmisch um den Hals. »Nein, diese Freude! Wo kommst du denn her?«
»Von Rom natürlich, Kleine! – Nein, frag mich nichts – ich darf dir nicht mehr sagen!«
»Du bist ja der reine Lohengrin. Gut, ich frage nichts mehr. Hast du Großmama schon gesehen?«
»Nennst du das nichts fragen?« neckte er. »Natürlich war ich zuerst bei ihr und habe sogar Xenia auch schon gesehen und gesprochen.« »Xenia kam gerade so überraschend an wie du. War das Verabredung?«
»O nein – ich wenigstens bin beinahe auf den Rücken gefallen, daß ich sie hier traf, nachdem ich sie gestern noch in Rom gesehen, ohne daß sie von ihrer Reise hierher auch nur einen Ton gesagt hat. Hat sie erwartet, mich hier zu finden?«
Donna Loredana schüttelte den Kopf. »Gesagt hat sie nichts davon. Nicht einmal, daß sie dich gestern gesehen hat. Wir haben sie natürlich nach dir gefragt, aber sie lachte und meinte, du schienst ganz vergessen zu haben, daß sie noch existiere. Hast du dich mit ihr gezankt, Giannino?«
»Ich werde mich in acht nehmen«, erwiderte er trocken. »Dabei zieht man doch den kürzeren. Wir plänkeln nur, wenn du weißt, was das ist. Ist sie für längere Zeit hergekommen?«
»Ich weiß es nicht. Kaum. Denn sie hat nur einen kleinen Handkoffer mitgebracht, in dem sie das Kleid hatte, das sie heute abend trug, und die notwendigste Wäsche. Ich war dabei, wie sie auspackte, aber ich wollte sie doch nicht fragen, wie lange sie bleibt, denn das wäre ja unhöflich gewesen – nicht?«
»Hm!« machte er zweifelhaft. Xenia und ein einziges Kleid im Koffer – sie, die mindestens dreimal täglich die Toilette wechselte! Sie hatte also doch einen ganz zielbewußten, voraussichtlich schnell zu erledigenden Zweck zu dieser Reise. Auch die abwesende Zofe schien Don Gian plötzlich ganz erklärlich: sie wollte sich keinen Aufpasser mitnehmen.
»Nur eines verstehe ich nicht: warum wollte sie durchaus das Rosazimmer haben?« setzte er laut seinen Gedankengang fort.
»Nun, es ist doch ein sehr schönes Zimmer, in seinem Luxus so passend zu Xenia«, meinte Donna Loredana erstaunt, daß ihr Bruder darin etwas Verwunderliches fand. »Und es ist auch bequemer, denn man braucht nicht die vielen Treppen zu steigen, über die Xenia immer geseufzt hat. Freilich ist es auch etwas einsam, so mitten in der ganzen Flucht der unbewohnten, öden Säle und Zimmer, und wer sich leicht fürchtet, der braucht das Gruseln dort nicht erst zu lernen«, setzte sie lächelnd hinzu.
»Das ist's. Weil's einsam ist! Sie wollte unbeobachtet sein und wollte darum auch nicht Lucia neben sich haben!« fuhr es ihm durch den Kopf. »Sie hat für diese Nacht etwas vor, und ich werde wachen«, gelobte er sich. »Hier oder im Zuge, das bleibt sich gleich. Mir verschlägt eine schlaflose Nacht nichts.«
»Höre, Gian – bist du deshalb zu mir gekommen, um vor dich hinzustarren und Gedankenmonologe zu halten?« fragte Donna Loredana halb lachend, halb ärgerlich. »Was beschäftigt dich nur so? Bist du – o chiannino, du bist doch nicht etwa verlobt?«
Er riß sich zusammen und lachte sogar. »Noch nicht, Lore«, versicherte er. »Ich hatte dazu noch keine Zeit. Sei nicht böse – aber mir gehen gerade andere Dinge durch den Kopf.«
»Man merkt's«, meinte sie lächelnd und setzte ernst hinzu: »Es ist doch nicht wegen – wegen Xenia? Unsere Nonna machte Andeutungen, daß sie viel Geld gebraucht hätte, und sprach davon, daß du wohl das Piano nobile vermieten würdest. Ich hoffe aber, das war nur eine Idee. Es wäre ja schrecklich, wenn Fremde hier in unserem Hause einziehen würden!«
»Nun, das wäre eine ganz nette Beihilfe«, erwiderte Don Gian achselzuckend. »Allein die Fremden, die sich in Venedig niederlassen, wollen am Canale Grande wohnen, höchstens wären es Engländer, die einen Reiz darin finden, im Herzen Venedigs einen alten Palast zu beziehen, oder ein Künstler, der Stimmung sucht. Und das müßte schon einer sein, dessen Ruhm ihm goldene Lorbeeren gebracht, denn an einem niedrigen Mietpreis ist mir nichts gelegen. Zu Industriezwecken aber gebe ich mein Haus sicher nicht her. Darüber kannst du beruhigt sein. So weit sind wir gottlob noch lange nicht. Von unseren Portalen brauchen wir unser Wappen und die Dogenkrone noch nicht entfernen zu lassen. Aber wenn wirklich ein reicher Fremder verrückt genug ist, unser Piano nobile für einen Phantasiepreis zu mieten – um so besser. Es ist nicht dringend, wäre aber angenehm.«
»Verrückt genug« rief Donna Loredana vorwurfsvoll »Wie du das nur sagen kannst Giannino! Wenn wir auch keine berühmte Gemäldegalerie haben, wie die Giovanelli – nun, so ist doch sicher unser Piano nobile eines der schönsten in Venedig.«
»Ganz sicher ist es das«, gab Don Gian ohne weiteres zu. »Unsere Gemälde bilden keine Galerie, dafür aber sind sie von hohem Wert und unbestritten echt, solange kein deutscher Kunsthistoriker, der ein neues Werk schreiben will, dahergezogen kommt und klüger sein will als die Überlieferung. Unsere Wandteppiche dürfen sich getrost neben den besten sehen lassen; unsere Spiegel und Glaslüster sind vielleicht die schönsten in Venedig. Aber unser Haus hat – nicht für uns, die wir daran gewöhnt sind – den Fehler, verborgen an einem schmalen Kanal zu liegen, und die Fremden wollen Licht und Luft für ihre Wohnungen, sie drängen nach der Riva, dem Canale Grande – in der Mehrzahl wenigstens. – Doch lassen wir das jetzt, Schwesterchen. Erzähle mir lieber, wie es dir geht, wie dir das stille Leben hier nach dem fröhlichen Beisammensein mit deinen Klosterschülerinnen behagt.«
»Oh, es behagt mir sehr, Giannino«, versicherte Loredana mit Überzeugung. »Erstens bin ich eine richtige Venezianerin, liebe unser schönes, edles, altes Haus in diesem stillen Winkel der Stadt – es ist für mich die Geschichte unserer Familie mit unserer großen Vergangenheit, und zweitens liebe ich die Einsamkeit, unser stilles Leben, das mir erlaubt, meiner Leidenschaft für die Bücher zu frönen. Sieh, ich trage wohl nicht umsonst den Namen von Großmamas großer Ahnfrau, der Dogaressa Loredana Marcello-Mocenigo, deren Steckenpferd ja auch das Studium war. Sie hat wohl bei mir Pate gestanden und mir als Gabe ihre Vorliebe für das geistige Leben in die Wiege gelegt.«
»Ah, per Bacco, die Dogaressa Loredana war aber auch einmal jung wie du und hatte dann sicher Gefallen an den Freuden der Jugend«, rief Don Gian lachend. »Die Nonna redete übrigens etwas von einem Ball. Nun, das wäre ja schon etwas, aber immerhin nur ein vereinzeltes Ausrufungszeichen in eurem Einsiedlerleben.«
»Die Nonna hat aber doch auch ihren Empfangstag, wo alle Welt kommt, Tee zu trinken und Dolci zu essen«, verteidigte sich die junge Dame lachend. »Und wir haben unsere Sitzungen zur Förderung der Frauenarbeit und der Hausindustrie, für die unsere Großmama so segensreich wirkt, wir machen Ausflüge zu Wasser und zu Land, Besuche – kurz, wir leben doch wie Menschen und nicht wie Säulenheilige! Wenn du dir das einbildest in deinem römischen Trubel, dann hast du dich gründlich geirrt.« »Va bene – die Hauptsache ist, daß du damit zufrieden bist«, meinte Don Gian lächelnd. »Lange wirds wohl sowieso nicht dauern, denn vermutlich wirst du ja nicht die Absicht haben, ledig zu bleiben.« »Oh, ich werde mich nie verheiraten – nie!« behauptete Donna Loredana im vollsten Ernst. »Ich würde es nie übers Herz bringen, die Nonna allein in diesem großen Hause zu lassen! Wir leben ja so harmonisch, so friedlich und glücklich hier miteinander! Und dann – lache nicht, Gian, aber es ist so! – dann würde ich mich nie verheiraten lassen, eine zwischen den Familien abgekartete Ehe eingehen – niemals!«
Don Gian stieß einen leisen Pfiff aus. »Also – « begann er nach einer Weile.
Aber sie unterbrach ihn fast heftig. »Nein – nicht ›also‹, womit du wohl andeuten willst, daß schon jemand da ist, den ich mir gewählt. Niemand ist da! Ecco! Aber ich finde es unwürdig, sich ohne Neigung, nur um der Tradition willen verheiraten zu lassen, nur weil's immer so war. Entweder ich habe freie Wahl oder ich bleibe ledig!«
»Hm – hast du diese modernen Ansichten im Kloster gelernt?«
»Nein, ich habe sie aus mir selbst geschöpft«, erklärte sie offen. »Ich habe gelesen, nachgedacht, erwogen – du mußt nicht lachen, Giannino! Ich bin nun einmal von dieser Art, die selbst denkt. Das bekannte venezianische Sprichwort, das unseren Frauen molti capelli e pocchi cervelli – viel Haar und wenig Gehirn spottend und vielleicht auch mit Recht zugesteht, braucht nicht auf jede Venezianerin Anwendung zu finden, selbst wenn sie, wie deine Schwester, erst achtzehn Jahre alt ist. Man muß jeden Menschen seines eigenen Glückes Schmied sein lassen, das ist meine Ansicht.«
»Sie ist die richtige, was die Männer betrifft, aber – «
»Wir Frauen haben das gleiche Recht. Ich wenigstens für mein Teil nehme es kühn in Anspruch.«
»Ich habe nicht die Absicht, es dir zu bestreiten, Und die Nonna hat trotz ihres Alters immer einen Stich ins Moderne gehabt, sie wird dich sicher nicht in eine dir unsympathische Ehe hineindrängen«, meinte Don Gian nachdenklich. »Unser Bruder Pietro freilich hat sich auch über das Herkommen hinweggesetzt und frei gewählt – wir können nicht sagen, daß es ihn glücklich gemacht hat.«
»Als ob das ein Beweis wäre! Deine Logik hinkt, Giannino«, rief Donna Loredana. »Hast du dir noch niemals einen Anzug gewählt, mit dessen Stoff du nachher nicht zufrieden warst?«
»Höre Lore, du bist ja eine ganz gefährliche Streiterin!« rief er erheitert. »Ich gebe zu, daß meine Logik lahm war, aber welche Logik bedürfte nicht einer orthopädischen Korrektur? Unter uns: ich würde es genau so machen wie Pietro, nur bilde ich mir ein, damit ein männliches Vorrecht zu besitzen, und muß nun lernen, daß meine eigene Schwester von den modernen Ideen angesteckt ist. Dein Wille geschehe, Lore, nur tu mir den Gefallen und sieh zu, daß deine Wahl nicht unbedingt ins allzu Volkstümliche fällt. Ein Kohlenträger als Schwager wäre mir entschieden genierlich.«
»Ich bin eine Terraferma und weiß, was ich meinem Namen schuldig bin«, erwiderte sie mit einer Würde, die ihren Jahren zwar fremdartig, aber doch eigentümlich gut stand. Und lachend setzte sie hinzu: »Falls ich mich in einen Facchino verlieben sollte – es braucht ja nicht gerade einer von denen zu sein, die Kohlen an der Stazione laden – , so verspreche ich dir, ihn nicht zu heiraten!«
»Nun, das ist mir eine riesige Erleichterung«, entgegnete er, auf ihren Ton eingehend. »Und nun gute Nacht Lore, und auch – auf Wiedersehen!«
»Also sehe ich dich doch morgen noch?« »Wenn du früh genug aufstehst – vielleicht. Das Wiedersehen darf ich ja auf alle Fälle wünschen.« –