Sehnsüchtig starrte Marie quer über den Schulhof zu den vier Mädchen, die den kleinen Pavillon mit dem Schachbrett mit Beschlag belegt hatten. Sie saßen jeden Tag dort, und niemand traute sich, ihnen den Platz streitig zu machen. Sabrina, die unbestrittene Anführerin des Quartetts, konnte ganz schön garstig werden, und es hieß sogar, dass sie schon mal einem älteren Jungen mit der Faust die Nase gebrochen hatte. Sie war zu Beginn des Schuljahres neu in die Klasse gekommen, und Marie hatte gehört, dass sie die Schule nicht ganz freiwillig gewechselt hatte. Ziemlich sicher war, dass Sabrina im letzten Schuljahr so oft gefehlt – geschwänzt – hatte, dass sie die Siebte jetzt wiederholen musste. Außerdem hatte es wohl Vorfälle gegeben, nach denen man ihr nahegelegt hatte, den zweiten Versuch an einer anderen Schule anzugehen.
Da Sabrina sich auch keine Mühe gab, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen, hatte Marie also genug Gründe, die neue Mitschülerin unsympathisch zu finden. Tatsächlich mochte sie Sabrina nicht, aber trotzdem hätte sie alles dafür gegeben, zu der Clique zu gehören, die sich um die Neue gebildet hatte.
Der Grund dafür hatte einen Namen: Finja. Die war seit der Grundschule Maries beste Freundin gewesen, aber seit Sabrina aufgetaucht war, war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Marie wusste auch nicht, womit Finja sich die zweifelhafte Ehre verdient hatte, dass Sabrina sich mit ihr abgab, aber eine brave Freundin wie sie hatte in diesem neuen Leben offensichtlich keinen Platz mehr.
Vervollständigt wurde die Clique von Vera und Michelle. Vera passte zu Sabrina, sie gab sich immer sehr erwachsen und suchte betont die Gesellschaft älterer Jugendlicher. Dabei war sie ihren Klassenkameraden in Wahrheit gar nicht voraus, weder war sie körperlich weiter, noch wirkte sie vernünftiger. Michelle war wahrscheinlich nur dabei, weil Vera dabei war, sie war körperlich wie geistig wenig beweglich und zufrieden, wenn ihr jemand sagte, wo’s lang ging.
Was Finja daran fand, mit einer Schulschwänzerin mit kurzer Lunte, einer totalen Trantüte und einer Dreizehnjährigen abzuhängen, die krampfhaft versuchte, wie eine Dreiundzwanzigjährige daherzukommen, war Marie schleierhaft. Vor allem war es noch gar nicht so lange her, dass Finja selbst sich mokiert hatte über Veras affiges Auftreten und Michelles Tollpatschigkeit. Doch es war, als wäre diese Zeit komplett aus Finjas Gedächtnis gelöscht worden; natürlich hatte Marie nachgefragt, aber nur ausweichende Antworten bekommen. Vielleicht wusste Finja selbst gar nicht so genau, warum sie jetzt mit Sabrina und den anderen abhing, und wahrscheinlich ging es tatsächlich nur um Sabrina, während sie Vera und Michelle bloß notgedrungen in Kauf nahm.
Am Anfang war Marie einfach nur niedergeschlagen gewesen, als sie gemerkt hatte, dass Finja mit ihr kaum noch etwas zu tun haben wollte. Es war nicht so, dass Finja komplett die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, vielleicht gab es irgendwas tief in ihrem Inneren, das sie davor noch zurückschrecken ließ, aber wenn Marie sie fragte, ob sie mal wieder was zusammen unternehmen sollten, redete sie sich immer raus. Auf die Sachen, die sie früher oft und gern zusammen gemacht hatten, hatte sie plötzlich keinen Bock mehr, sie machte aber auch keinen Vorschlag, was sie stattdessen machen könnten. Oft behauptete sie auch einfach nur, dass sie keine Zeit hätte, und es schien sie nicht ernsthaft zu interessieren, ob Marie das durchschaute.
Inzwischen war Marie entschlossen, um die Freundschaft zu kämpfen. Sie hatte auch noch andere Freundinnen, mit denen sie etwas unternehmen konnte, aber mit keiner war es so lustig wie mit Finja, und keiner konnte sie so vertrauen und alles erzählen. Vielleicht war ja noch nicht alles verloren, und vielleicht merkte Finja ja irgendwann, dass sie bei Sabrina keine echte Freundschaft finden würde. Aber damit Marie ihr das klarmachen konnte, mussten sie erst mal wieder miteinander reden und Zeit zusammen verbringen, und das ging wohl nur, wenn Marie selbst in den elitären Zirkel vorstieß.
Das war allerdings alles andere als einfach. Sabrina hatte offensichtlich kein Interesse daran, die Gruppe, mit der sie sich abgab, zu erweitern, und Marie passte auch gar nicht zu dieser Clique. Finja hatte sich ja auch radikal verändert, seit sie mit Sabrina abhing, sie gab sich cool und irgendwie desinteressiert. Auch ihr Äußeres war kaum wiederzuerkennen, Finja hatte sich die Haare anders schneiden lassen, trug andere Klamotten als früher und schminkte sich so, dass ihr Gesicht fast hart wirkte.
Marie glaubte nicht, dass sie jemals genauso werden konnte. Sie war einfach, wie sie war: freundlich, zurückhaltend, manchmal verträumt und eine gute Geschichtenerzählerin. Sie glaubte nicht, dass sie aus ihrer Haut konnte, und würde sie die Freundschaft zu Finja retten können, indem sie eine Rolle spielte? Eine Rolle, die so gar nicht zu ihr passte?
Marie hatte versucht, Finja dazu zu bringen, bei Sabrina ein gutes Wort für sie einzulegen, damit sie in die Clique aufgenommen wurde. Doch Finja wollte nicht, und auch wenn sie es nicht so sagte, war Marie sicher, sie hatte Angst, selbst abserviert zu werden, wenn sie eine „uncoole“ Mitschülerin anschleppte. Marie konnte sich gut vorstellen, dass Sabrina in der Hinsicht schnell ihre Sympathien umverteilte, und das, was wahre Freundschaft ausmachte, schien ihr völlig fremd zu sein.
Umso überraschter war Marie, als sie an einem Nachmittag Ende Oktober eine Handynachricht von Finja bekam, die nicht mehr enthielt als den Hinweis, sie sollte in ihre E-Mails schauen. Sie kam der Aufforderung sofort nach und hoffte natürlich, Finja hätte ihr eine Art Versöhnungsbrief geschrieben. Schöner hätte sie es gefunden, wenn Finja direkt zu ihr gekommen wäre und ihr gesagt hätte, dass sie wieder ihre Freundin sein wollte, aber Marie konnte auch verstehen, dass es so vielleicht leichter war, wieder Kontakt aufzunehmen.
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